Datenschutz & Sicherheit
KI-Suche für Gesichter breitet sich ungehindert aus
Im ebenso bekannten wie brutalen Kindermärchen „Rumpelstilzchen“ der Brüder Grimm muss eine Königin den Namen eines „Männleins“ mit magischen Kräften erraten. Über mehrere Tage hinweg versucht sie es mit allen Namen, die sie jemals gehört hatte, aber vergeblich.
Erst am dritten Tag berichtet ein von ihr entsandter Bote von einem Wesen, das bei seinem Tanz ums Feuer sang: „Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß“. Nur durch diese Zufallsbegegnung gelingt es der Königin, das Männlein beim Namen zu nennen und damit zu bezwingen.
Mit einer Gesichter-Suchmaschine wie PimEyes hätte die Königin nicht drei Tage gebraucht, und sie hätte auch keinen Boten entsenden müssen. Genügt hätte ihr ein Schnappschuss per Smartphone und ein wenig Glück bei der Online-Suche. Dann hätte das identifizierte Rumpelstilzchen schon nach einer simplen Suchanfrage schreien müssen: „Das hat dir der Teufel gesagt!“ und sich vor Wut entzweigerissen.
Welle der Empörung
Über die Macht von öffentlich zugänglichen Gesichter-Suchmaschinen berichteten wir erstmals im Jahr 2020 und lösten damit eine Welle der Empörung aus. Sie dienen Stalker*innen als ideales Werkzeug und gefährden die Anonymität im öffentlichen Raum. Zwei Jahre später zeigten unsere Recherchen, dass so eine Suchmaschine nicht nur für Märchen-Königinnen nützlich sein kann, sondern auch für Männer, die fremden Frauen nachstellen.
Alarmierte Reaktionen auf unsere PimEyes-Recherchen kamen aus dem Bundestag, von den Polizeigewerkschaften GdP und DPolG sowie von Europa-Abgeordneten der SPD und CDU. Fachleute stellten die Legalität solcher Gesichter-Suchmaschinen infrage, besonders mit Blick auf Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Deshalb leitete auch die Datenschutzbehörde Baden-Württemberg ein Verfahren gegen PimEyes ein.
Fünf Jahre nach unseren ersten Berichten sind die rechtlichen Hürden noch höher geworden. Die neue KI-Verordnung der EU (AI Act) enthält eine Regelung, die sich als Reaktion auf Gesichter-Suchmaschinen wie PimEyes werten lässt. Zu den „verbotenen Praktiken“ in der EU zählen demnach KI-Systeme, „die Datenbanken zur Gesichtserkennung durch das ungezielte Auslesen von Gesichtsbildern aus dem Internet oder von Überwachungsaufnahmen erstellen oder erweitern“.
Wer gegen diese Verbote aus der KI-Verordnung verstößt, muss mit Geldstrafen bis zu 35 Millionen Euro oder bis zu 7 Prozent des weltweiten Jahresumsatzes rechnen.
Branche breitet sich ungehindert aus
Zumindest auf dem Papier ist die Luft für Gesichter-Suchmaschinen also ziemlich dünn. Neue Recherchen von netzpolitik.org zeigen allerdings, wie die Branche wächst. Zu PimEyes sind mindestens drei Konkurrenten hinzugekommen: „ProFaceFinder“, „TrustPics“ und „FaceCheck.ID“.
Ihre kostenpflichtigen Dienste bieten die Unternehmen offen im Netz an. Eine abschreckende Wirkung durch EU-Gesetze lässt sich nicht erkennen. Einige Anbieter haben sogar Verbindungen zu EU-Mitgliedstaaten, wie aus unseren Recherchen hervorgeht.
AlgorithmWatch-Geschäftsführer Matthias Spielkamp spricht von einer „Katastrophe für Demokratie und Rechtsstaat“. Europa-Abgeordnete von CDU, Grünen und FDP fordern ein entschlossenes Eingreifen der Aufsichtsbehörden. Doch die treten seit Jahren auf der Stelle.
So funktioniert die Gesichtersuche
Eine typische Gesichter-Suchmaschine funktioniert grundsätzlich so: Automatisch durchforsten die Betreiber*innen das Netz nach Fotos. Sie erfassen dabei die einzigartigen Merkmale von Gesichtern, etwa die Abstände von Augen, Nase und Kinn. Das Ergebnis speichern sie in Form einer mathematischen Repräsentation, zum Beispiel als Hash oder Vektor. So entsteht eine riesige Bibliothek. Ob und wie die einzelnen Anbieter, die wir in diesem Artikel vorstellen, davon abweichen, können wir nicht beurteilen.
Laden Nutzer*innen in der Suchmaschine ein neues Foto hoch, werden dessen Merkmale erfasst und mit der Bibliothek abgeglichen. Sie erhalten daraufhin eine Liste mit identischen oder ähnlichen Gesichtern – inklusive Link zum Fundort im Netz. Die verlinkten Websites können Aufschluss darüber geben, wer die gesuchte Person ist, auch wenn die Suchmaschine nicht direkt einen Namen ausspuckt.
Ob auf einer Demo, im Wartezimmer oder im Nachtbus: Wer die Aufnahme eines Gesichts ergattert, kann die Suchmaschine damit füttern. So lassen sich anhand der Suchergebnisse oftmals Unbekannte identifizieren. Es genügt, wenn die gesuchte Person auf einem online veröffentlichten Foto mit Namensbezug auftaucht, selbst wenn es nur klein und im Hintergrund ist. Ob Jahrzehnte alte Fotos von einer Vereinsfeier oder eine von der Lokalzeitung fotografierte Kundgebung: Das und mehr können Gesichter-Suchmachinen zutage fördern.
Ins Visier geraten können alle. Besonders gefährdet sind vulnerable Gruppen wie beispielsweise Frauen, queere Menschen, Aktivist*innen und Dissident*innen.
ProFaceFinder: Server in Belgien
Der erste von insgesamt drei PimEyes-Konkurrenten, den wir hier näher beleuchten, trägt den Namen ProFaceFinder. Ein Interesse am deutschsprachigen Markt scheint das Unternehmen zu haben. Wiederholt erhielt Redaktion E-Mails einer Marketing-Person, die uns zur Berichterstattung über ProFaceFinder als PimEyes-Alternative ermuntern wollte. Dabei hob sie hervor, dass die Suchmaschine anhand von Gesichtern sogar Social-Media-Profile aufspüren könne.
Auf der englischsprachigen Startseite heißt es, das Werkzeug nutze „fortschrittliche künstliche Intelligenz, um Gesichtsmerkmale präzise zu erkennen“. Es sei „perfekt für die Suche nach Menschen auf Dating-Websites, sozialen Medien oder in Strafregistern“. Auf Englisch heißt es:
Durchsuchen Sie Milliarden von Gesichtern im Internet und finden Sie die Person, die Sie suchen, in Sekunden!
Bis vor kurzem wurde in der Datenschutz-Richtlinie noch ein Inhaber und Datenverantwortlicher benannt. Dessen Name verschwand allerdings von dieser Seite, nachdem wir uns mit Fragen an das Unternehmen gewandt hatten.
Wir wollten mehr darüber erfahren, wo das Unternehmen seinen Sitz hat, wie viele Menschen dort arbeiten und wie es sich an DSGVO und KI-Verordnung halten will. Deshalb haben wir dem Unternehmen eine E-Mail geschickt. Zumindest die erste Antwort wurde mit „GS“ unterzeichnet.
Laut „GS“ umfasse die Datenbank von ProFaceFinder „Hunderte Millionen Bilder, die aus öffentlich zugänglichen Online-Quellen indexiert wurden“. Das Unternehmen verwende „fortschrittliche Hashing- und Face-Clustering-Techniken, um Duplikate zu erkennen und eindeutige Gesichter zu identifizieren.“ Die Bilder stammen demnach aus „Blogs, Foren, Nachrichtenseiten und öffentlich zugänglichen Profilen“.
Die Firma sei im Jahr 2023 in den USA gegründet worden und beschäftige weniger als zehn Angestellte. Monatlich habe die Seite geschätzt mehr als 80.000 Besucher*innen sowie eine „kleine, aber wachsende Anzahl Abonnent*innen“.
„Der Mensch ist der Stalker, nicht die Suchmaschine“
„GS“ zufolge sei es verboten, mit der Gesichtersuche Menschen zu stalken, zu überwachen, zu diskriminieren oder zu de-anonymisieren. Um Missbrauch zu verhindern, würden Suchanfragen auch händisch überprüft. Nach dem Einsatzzweck der Suchmaschine gefragt, schreibt er, die Nutzer*innen würden mit ProFaceFinder unter anderem kontrollieren, ob Online-Kontakte ihr wahres Gesicht zeigten („Catfishing“) sowie „Identitäten prüfen“, etwa zur „persönlichen Sicherheit“ oder für „berufliche Zwecke“.
Hier wird ein Widerspruch erkennbar: Wie sollen Nutzer*innen die Identität einer Person prüfen, wenn es ihnen nicht erlaubt ist, Menschen mit der Suchmaschine zu de-anonymisieren? Entweder finden sie einen Namen oder nicht.
Mit Blick auf DSGVO und KI-Verordnung schreibt „GS“, dass das Unternehmen derzeit rechtliche Beratung in Anspruch nehme, um die Einhaltung zu prüfen. Zudem betreibe es „einige operative Infrastrukturen in Belgien“. Weiter schreibt „GS“:
Wir verarbeiten keine biometrischen Daten im Sinne der DSGVO; es sei denn, die Nutzer laden ausdrücklich ein Bild zum Abgleich hoch. Wir erstellen keine dauerhaften Identitätsprofile und versuchen auch nicht, einzelne Personen zu identifizieren. […] Wir sammeln nicht wahllos Gesichtsdaten oder verstoßen gegen die KI-Verordnung – wir konzentrieren uns auf verantwortungsvoll gesammelte und eindeutig öffentliche Inhalte.
Die DSGVO definiert „biometrische Daten“ hingegen als:
mit speziellen technischen Verfahren gewonnene personenbezogene Daten zu den physischen, physiologischen oder verhaltenstypischen Merkmalen einer natürlichen Person, die die eindeutige Identifizierung dieser natürlichen Person ermöglichen oder bestätigen, wie Gesichtsbilder […].
Was „GS“ in seiner E-Mail-Antwort nicht offenlegt, ist der Name des Unternehmens hinter „ProFaceFinder“ sowie der US-Bundesstaat, in dem das Unternehmen registriert ist. Wir haken mehrfach vergeblich nach.
Wir bohren dort nach, wo andere wegschauen.
Recherchen wie diese sind nur möglich durch eure Unterstützung.
„Wir ziehen es derzeit vor, die Marke ‚ProFaceFinder‘ nicht mit unserem internen Unternehmensnamen zu verknüpfen“, erklärt „GS“. Damit wollte er „Team und Infrastruktur vor potenziellem Missbrauch oder Belästigung“ schützen. Vertrauen und Transparenz nehme man dennoch „ernst“, gerade mit Blick auf DSGVO und KI-Verordnung. „Ich hoffe, das ergibt Sinn“, schreibt der mutmaßliche Chef einer Firma, die nicht einmal ihren Namen verraten will.
TrustPics: Mutterfirma auch in EU aktiv
Der zweite von drei PimEyes-Konkurrenten hat das Wort „Vertrauen“ gleich in den eigenen Namen gepackt: „TrustPics“. Auf der Startseite erklärt das Unternehmen, Gesichter anhand eines Hashing-Verfahrens wiederzuerkennen.
Betreiber laut Website ist die US-amerikanische Outlimit Inc., die gleich hinter mehreren Online-Diensten steckt. Darunter sind zwei Apps, mit denen man Handys aus der Ferne überwachen kann. Vermarktet werden sie als Werkzeuge für Eltern, die kontrollieren wollen, wo sich ihre Kinder aufhalten. Auch eine Suchmaschine für Background-Checks zu Personen gehört zum Portfolio. Laut Website soll sie öffentlich zugängliche Informationen anhäufen, etwa aus Telefonbüchern und sozialen Netzwerken.
Über mehrere Wochen haben wir immer wieder E-Mails verschickt, um zu erfahren, wie „TrustPics“ zur Einhaltung von DSGVO und KI-Verordnung steht. Wir haben hierfür sowohl TrustPics selbst kontaktiert als auch andere Dienste aus dem Portfolio der Outlimit Inc. – doch unsere Fragen blieben unbeantwortet.
Mindestens ein Dienst der Outlimit Inc. ist wohl auch in der EU aktiv. Im Impressum der Kinder-Überwachungs-App „Kidgy“ steht der Name eines Unternehmens in Prag. Auch im tschechischen Handelsregister ist es zu finden. Geschäftsführer ist demnach ein Mann aus Bulgarien.
Gerne hätten wir von ihm mehr über die Outlimits Inc. erfahren. In unseren E-Mails an Kidgy und die anderen Dienste haben wir uns ausdrücklich nach ihm erkundigt. Keine Antwort.
FaceCheck.ID: Einsatz durch Polizei in Neuseeland
Der dritte und letzte PimEyes-Konkurrent dieser Recherche heißt „FaceCheck.ID“ und soll Medienberichten zufolge bereits von der Polizei in Neuseeland eingesetzt worden sein.
Auf der Startseite prangt das Zitat eines „anonymen Benutzers“, der die Gesichtersuche „erschreckend gut“ finden soll. In einem „Hinweis“ ganz unten auf der Startseite heißt es: „FaceCheck ist eine Suchmaschine zur Gesichtserkennung“.
Außerdem finden sich dort mehrere Sätze, die offenbar der rechtlichen Absicherung dienen sollen, etwa:
- „Nur für Bildungszwecke.“
- „FaceCheck speichert keine sensiblen oder persönlich identifizierbaren Daten.“
- „Die KI von FaceCheck ist so trainiert, dass sie keine Kindergesichter indiziert.“
Besonders wirksam scheint das erwähnte KI-Training in Bezug auf Kindergesichter nicht gewesen zu sein. Die Suchmaschine ermöglicht es, mühelos nach Gesichtern von Kindern zu suchen und fördert dabei Dutzende Ergebnisse zutage.
Die Betreiberfirma sitzt laut Website in Belize. In einer Pressemitteilung der Suchmaschine Ende 2024 wurde allerdings ein Sitz im US-Bundesstaat Hawaii genannt sowie der Name eines „Präsidenten von FaceCheck.ID“.
Kontaktieren konnten wir das Unternehmen allerdings nicht. Wir schickten E-Mails an die bei FaceCheckID hinterlegte Adresse sowie über das Kontaktformular des PR-Portals. Die Nachrichten ließen sich nicht zustellen.
PimEyes will keine Gesichter-Suchmaschine sein
Im Gegensatz zur Konkurrenz gibt sich PimEyes alles andere als verschlossen. Betrieben wird die Suchmaschine von der Carribex LTD aus Belize. Firmenchef Giorgi Gobronidze aus Georgien erklärt auf Anfrage ausführlich, dass PimEyes seiner Auffassung nach häufig falsch dargestellt werde.
„PimEyes ist keine Gesichtserkennungsplattform“, will Gobronidze per E-Mail klarstellen. Die Startseite von PimEyes erweckt einen anderen Eindruck. Dort steht: „PimEyes nutzt Suchtechnologien zur Gesichtserkennung“, „Die Gesichtserkennungs-Website PimEyes ist eines der leistungsfähigsten Gesichtserkennungs-Tools der Welt“ und „Es ist Gesichtserkennung auf Steroiden“.
Weiter schreibt Gobronidze, mit der Suchmaschine würde „niemand“ eindeutig identifiziert, es würden lediglich Websites gefunden. Ein Fall aus der jüngsten Geschichte zeigt, wie Identifizierung konkret aussehen kann. Ende 2023 spürten Journalisten mit Hilfe von PimEyes das seit Jahren untergetauchte, ehemalige RAF-Mitglied Daniela Klette in Berlin auf. Die Suchmaschine fand ihr Gesicht auf den Fotos eines Capoeira-Vereins, den sie unter falscher Identität besucht hatte.
Gobronidze zufolge sei die Rolle biometrischer Merkmale bei PimEyes „null“. Auf der Startseite von PimEyes steht jedoch: „In den Suchergebnissen zeigen wir nicht nur ähnliche Fotos, […] sondern auch Bilder, auf denen Sie vor einem anderen Hintergrund, mit anderen Personen oder sogar mit einem anderen Haarschnitt zu sehen sind.“ Das heißt, für die Suchmaschine werden die besonderen Merkmale eines Gesichts mit Hilfe technischer Verfahren erkannt – was gemeinhin als Biometrie bezeichnet wird.
Mehrere Datenschutzbehörden hätten PimEyes untersucht, schreibt Gobronidze weiter. „Wir haben vollständig und transparent kooperiert.“ Verstöße seien keine festgestellt worden. „Das ist ein überprüfbares Ergebnis.“
Auf Nachfrage liefert der Landesdatenschutzbeauftragte Baden-Württemberg Kontext. Demnach habe die Behörde PimEyes noch nicht abschließend bewertet. Die Antworten des Unternehmens hätten Fragen offengelassen, weshalb die Behörde ein Bußgeldverfahren eingeleitet habe. Allerdings ruhe das Verfahren derzeit – dazu später mehr.
Die britische Datenschutzaufsicht ICO teilt mit, einen Fall zu PimEyes eröffnet zu haben. Man habe sich jedoch gegen ein formelles Verfahren entschieden und den Fall im März 2023 geschlossen. Zu den Gründen will sich die Behörde auf Anfrage von netzpolitik.org nicht äußern.
AlgorithmWatch: „Katastrophe für Demokratie und Rechtsstaat“
Fachleute lassen keine Zweifel daran, dass sie öffentliche Gesichter-Suchmaschinen für gefährlich halten. „Bereits jetzt ist die Tatsache, dass es diese Suchmaschinen gibt, eine der schlimmsten Entwicklungen der Digitalisierung und eine Katastrophe für Demokratie und Rechtsstaat“, warnt Matthias Spielkamp, Geschäftsführer der Organisation AlgorithmWatch. Solche Suchmaschinen bedeuteten das Ende der Anonymität im öffentlichen Raum, mit entsprechenden Konsequenzen für politischen Protest.
Spielkamps Einschätzung nach sind die Suchmaschinen aus gleich mehreren Gründen in der EU verboten. Neben dem Verbot aus der KI-Verordnung würden auch Vorgaben für den Datenschutz und andere Grundrechte verletzt. Aus dem Hochladen eines Fotos oder Videos könne man kein Einverständnis in die Datenerhebung durch Gesichter-Suchmaschinen herleiten.
Eine mögliche biometrische Identifizierung könne Menschen auch davon abhalten, ihr Grundrecht auf freie Meinungsäußerung oder die Versammlungsfreiheit wahrzunehmen.

Gerade Anbieter ohne Sitz in der EU seien zugleich nur schwer zur Verantwortung zu ziehen, sagt Spielkamp. Die Staaten, in denen die Firmen sitzen, hätten oft wenig Interesse an einem Verbot. Aus der vergleichbaren Erfahrung mit Steuerhinterziehung wisse man aber, dass EU-Behörden trotzdem Druck auf die Anbieter ausüben könnten.
Als Beispiel nennt er das Unternehmen Clearview AI, das seine Gesichtersuche ausschließlich für Ermittlungsbehörden anbietet. Zwar konnten die von EU-Behörden verhängten Geldbußen gegen das Unternehmen nicht eingetrieben werden. „Aber die Behörden könnten Strafanträge gegen Verantwortliche stellen, auf deren Basis dann Haftbefehle ausgestellt werden können.“
Die Verantwortung sieht Spielkamp bei Regierungen und Behörden in Staaten wie Deutschland, die sich nicht klar gegen solche Systeme aussprechen. Oft würden Polizei und Geheimdienste selbst solche Gesichter-Suchmaschinen einsetzen wollen – und dabei die fatalen Folgen „für uns alle“ ignorieren.
HateAid: Warnung vor Einschüchterung und Stalking
Die Juristin Josephine Ballon warnt vor den Gefahren, die von Gesichter-Suchmaschinen wie PimEyes ausgehen. Für die NGO HateAid berät sie Betroffene von Gewalt im Netz. Teilnehmende von Demonstrationen ließen sich mit Hilfe der Suchmaschinen identifizieren und anschließend einschüchtern. Persönliche Informationen könnten im „feindseligen Kontext“ weiterverbreitet oder zum Stalking eingesetzt werden.
Es sei denkbar, dass Nutzer*innen mit Hilfe der Suchmaschinen die Identität einer gesuchten Person überhaupt erst ermitteln, etwa indem sie Bildausschnitte von Demonstrationen einspeisen und so zu Social-Media-Profilen gelangen.
Der Vollständigkeit halber weist Ballon allerdings darauf hin: Auch Betroffene bildbasierter digitaler Gewalt könnten die Gesichtersuche einsetzen, etwa um herauszufinden, wo Inhalte über sie selbst verbreitet werden. Bei HateAid setze man diese Tools jedoch aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht ein.
Axel Voss (CDU): Behörden müssen handeln
Wir haben die Ergebnisse unserer Recherche mehreren EU-Parlamentarier*innen vorgelegt, die das Verbot in der KI-Verordnung mit ausgehandelt haben.
„Nach meinem Verständnis ist dieses Geschäftsmodell kaum mit europäischem Datenschutzrecht vereinbar“, sagt etwa Axel Voss (CDU), Koordinator der EVP-Fraktion im Rechtsausschuss, „insbesondere nicht mit dem AI Act, der genau solche massenhaften, ungezielten Gesichtserkennungsdatenbanken ausdrücklich verbietet“. Dass sich Anbieter anonym oder aus Drittstaaten heraus dem Zugriff entziehen, zeigt für ihn ein Defizit bei der Durchsetzung. „Hier müssen Datenschutzbehörden und die künftige KI-Aufsicht konsequent und koordiniert handeln.“
„Die öffentlichen Gesichtssuchmaschinen sind ein massiver Eingriff in die Privatsphäre und verstoßen gegen geltendes EU-Recht“, sagt auch die liberale deutsche Abgeordnete Svenja Hahn. Dieses Recht müsse jetzt durchgesetzt werden – unabhängig davon, ob ein Unternehmen innerhalb oder außerhalb der EU ansässig ist.
Es sei wahrscheinlich, dass die Verstöße mehr als nur einen EU-Mitgliedsstaat betreffen, deshalb gehe es um grenzübergreifende Rechtsdurchsetzung. Hierbei komme auch dem koordinierenden AI Office der EU-Kommission sowie dem Ausschuss für künstliche Intelligenz eine wichtige Rolle zu, wie Hahn erklärt. Das AI Office ist eine neue Regulierungsbehörde, die unter anderem das gemeinsame Vorgehen der Mitgliedstaaten bei der Durchsetzung der KI-Verordnung koordinieren soll. Es arbeitet seit Mitte 2024.
Auch die niederländische Grünen-Abgeordnete Kim van Sparrentak sieht das Problem bei der Durchsetzung der bestehenden Regeln. Datenschutzbehörden müssten schneller handeln. Im Fall der nationalen Aufsichtsbehörden für die KI-Verordnung sei mitunter nicht einmal klar, wer zuständig ist.
Warum das deutsche PimEyes-Verfahren ruht
Auf diesen Umstand verweist auch die Datenschutzbehörde Baden-Württemberg, die bereits im Jahr 2021 ein Verfahren gegen PimEyes einleitete, es derzeit aber ruhen lässt. Die Behörde sieht neuen Abstimmungsbedarf durch die KI-Verordnung, die nationale Aufsichtsbehörden für deren Durchsetzung vorsieht.
Wer diese Rolle in Deutschland übernimmt, muss noch per Gesetz beschlossen werden. Sehr wahrscheinlich wird es die Bundesnetzagentur (BNetzA) sein; sie bereitet sich bereits auf die Aufgabe vor.
Solange die nationale KI-Aufsicht noch nicht da ist, will man allerdings in Baden-Württemberg nichts weiter tun. „Da der Verlauf eines künftigen weiteren Verfahrens rechtlich mit Blick auf die Zuständigkeit noch nicht abschließend geregelt ist, führen wir das Verfahren derzeit nicht aktiv fort“, erklärt die Behörde auf Anfrage.
Die Bilanz der Aktivitäten der Datenschutzbehörde in Bezug auf PimEyes ist ernüchternd: Vier Jahre lang passierte wenig, jetzt passiert erst mal gar nichts.
Dafür gibt es Kritik: „Ich halte es nicht für selbsterklärend, warum eine Datenschutzbehörde auf die Einsetzung der BNetzA warten sollte“, sagt Josephine Ballon von HateAid.
EU-Mitgliedstaaten könnten gemeinsam vorgehen
Die Trägheit der Aufsichtsbehörden hat Konsequenzen. Anbieter von Gesichter-Suchmaschinen münzen das als Erfolg um, wie die vor Selbstbewusstsein strotzenden Antworten von PimEyes-Chef Gobronidze zeigen. Könnte die Bundesnetzagentur Schwung in die Sache bringen?
Auf Anfrage verweist die Behörde darauf, dass sie noch nicht per Gesetz als KI-Aufsicht eingesetzt wurde. Und selbst wenn es soweit ist, könnten wiederum andere zuständig sein. Die Auslegung der KI-Verordnung zu verbotenen Praktiken müsse „mit anderen designierten Behörden und dem AI Office der EU koordiniert werden“, schreibt die BNetzA auf Anfrage. Grundlage seien die umfangreichen Leitlinien der EU-Kommission. „Möglich wäre auch ein gemeinsames Vorgehen von Aufsichtsbehörden mehrerer EU-Mitgliedstaaten.“
Zu konkreten Zeitplänen äußert sich die BNetzA nicht. Zumindest vonseiten der EU gibt es eine Frist. Demnach müssen die Mitgliedstaaten die nationale Umsetzung der KI-Aufsicht bis August 2025 regeln. Zuständig ist in Deutschland dafür das neue Digitalministerium. Dessen Sprecher teilt auf Anfrage mit: Der Entwurf für das Gesetz zur Umsetzung sei derzeit in Abstimmung zwischen den Ressorts und solle noch vor der Sommerpause ins Kabinett.
Selbst wenn Aufsichtsbehörden in Gang kommen, ist das Problem nicht einfach zu lösen. Die BNetzA gesteht ein: Wenn Anbieter ihren Sitz außerhalb der EU haben, gestalte sich die Handhabe „schwierig“.
Das können Betroffene tun
Wer seine Rechte gegenüber Gesichter-Suchmaschinen geltend machen möchte, hat mehrere Möglichkeiten. Zunächst bieten alle vier in diesem Artikel genannten Anbieter laut ihrer Websites einen sogenannten Opt-out an. Das heißt, Nutzer*innen können sich aktiv melden und den Anbieter dazu auffordern, Suchergebnisse mit ihrem Gesicht nicht länger anzuzeigen. Wie zuverlässig das funktioniert, haben wir allerdings nicht getestet.
Zudem können Interessierte den Anbietern unter Berufung auf die DSGVO eine Auskunftsanfrage stellen. So lässt sich herausfinden, ob ein Unternehmen die eigenen personenbezogenen Daten verarbeitet hat. Auch eine Löschung dieser Daten könne sie beantragen.
Sollte ein Unternehmen die eigenen Daten ohne Einwilligung verarbeitet haben oder die Auskunftsanfrage ignorieren, können sich Betroffene bei ihrer Datenschutzaufsicht beschweren. Zuständig sind die jeweiligen Landesdatenschutzbehörden. Der Chaos Computer Club Hamburg hat hierfür eine Anleitung veröffentlicht.
Oftmals sind es die Beschwerden einzelner Personen, die bewirken, dass eine Datenschutzbehörde tätig wird. Auch wenn sich die Verfahren viele Jahre ohne Ergebnis in die Läge ziehen können: Wenn sich die Beschwerden von Betroffenen häufen, ist das zumindest ein Zeichen dafür, dass sich Menschen für das Problem interessieren, und dass wirksame Gegenmittel fehlen.
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Trump setzt auf „strategisches Chaos“
Die politische Lage in den USA spitzt sich zu. Vergangene Woche hat der autoritär auftretende Präsident Donald Trump Militärtruppen nach Kalifornien entsandt, um Proteste gegen die Einwanderungsbehörde ICE zu ersticken. Erschreckende Bilder wie die Abführung des demokratischen Senators von Kalifornien, Alex Padilla, gingen um die Welt.
Am Wochenende nahm Trump an seinem Geburtstag eine Militärparade in der Hauptstadt Washington ab – höchst ungewöhnlich für die USA, selbst wenn die Armee am gleichen Tag ihren 250. Geburtstag hatte. Zugleich regt sich immer mehr Widerstand in der Bevölkerung, nicht nur in Los Angeles. Landesweit kam es am Samstag zu massiven Protesten unter dem Motto „No King“ – „Kein König“ in mehr als 2.000 Städten.
Sind die USA noch vor der autoritären Komplettübernahme durch Trump und seine Bewegung zu retten? Wir haben den Verfassungsrechtler Anthony Michael Kreis gefragt, was gerade passiert und worauf es jetzt ankommt. Kreis ist Professor an der Georgia State University und begleitet die Umwälzungen kritisch unter anderem auf Bluesky.

Das Interview wurde auf Englisch geführt und lässt sich hier im Original nachlesen.
„Strategisches Chaos“ der Trump-Regierung
netzpolitik.org: Hierzulande beobachten viele Menschen ungläubig, was mit einem der wichtigsten Verbündeten Deutschlands und einem Land geschieht, das sie immer als stabile Demokratie wahrgenommen haben. Wie würden Sie die Ereignisse der vergangenen Monate in Ihrem Land beschreiben?
Anthony Kreis: Das Beste, was ich dazu sagen kann, ist „strategisches Chaos“. Die Trump-Regierung arbeitet mit Hochdruck daran, Institutionen zu zerstören und die Handlungsfähigkeit des Staates zu schwächen, oft unter Missachtung des Rechts. Und sie vertritt Positionen, die die Verfassung zutiefst verletzen. Leider gab es so viele Angriffe auf die Verfassung und die amerikanische Demokratie, dass es schwer ist, den Überblick zu behalten.
netzpolitik.org: Wie wir in den zurückliegenden Wochen gesehen haben, hat Donald Trump Nationalgarde und Marines in Kalifornien eingesetzt, um Proteste niederzuschlagen. Gibt es dafür einen Präzedenzfall, und was sagt das Gesetz über den Einsatz von Streitkräften im Inland?
Anthony Kreis: Der Einsatz von Bundestruppen oder der Nationalgarde ist äußerst selten – insbesondere, weil die lokalen Behörden nicht um Unterstützung gebeten haben. Nach amerikanischem Recht ist es unzulässig, Bundestruppen zur Durchsetzung ziviler Gesetze einzusetzen. Sie können Bundesgebäude und Beamte schützen, aber in der Regel ist dies eine Maßnahme der letzten Instanz. Die Tatsache, dass der Präsident so leichtfertig Truppen auf amerikanischen Straßen einsetzt, lässt mich vermuten, dass es hier um eine Machtdemonstration geht – und nicht um die Durchsetzung des Gesetzes und die Aufrechterhaltung der Ordnung. Angesichts der relativ isolierten Natur des Problems inmitten überwiegend friedlicher Demonstrierender hätte das alles auch von nichtmilitärischem Personal geleistet werden können.
Demokratie am Tiefpunkt
netzpolitik.org: Wenn das Ziel darin bestand, die Zivilgesellschaft von Protest abzuschrecken, scheint es gescheitert zu sein: Am vergangenen Wochenende gab es im ganzen Land massive „No King”-Proteste, selbst angesichts der politisch motivierten Ermordung einer demokratischen Abgeordneten in Minnesota. Wie gesund ist die US-Zivilgesellschaft derzeit, und wie mächtig können Proteste sein, um Veränderungen zu bewirken?
Anthony Kreis: Die amerikanische Demokratie befindet sich derzeit an einem Tiefpunkt. Die Drohungen mit politischer Gewalt, die Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und die Versuche, demokratische Institutionen auszuhöhlen, zeigen, wie ernst die Lage ist. Proteste können natürlich dazu beitragen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren und die Menschen zu ermutigen, sich am politischen Prozess zu beteiligen. Letztendlich müssen die Menschen jedoch protestieren – und wählen gehen. Es wird ein langfristiges, ernsthaftes Engagement von Millionen von Amerikanern erfordern, um dieses jüngste Kapitel des demokratischen Rückschritts in den USA zu beenden.
netzpolitik.org: Wahlen funktionieren nur, wenn sie Konsequenzen haben. Aber es scheint, dass der Kongress keinen nennenswerten Druck auf Trump ausübt. Ist das ein Problem, das durch das US-Verfassungssystem verursacht wird? Oder ist ein politisches Problem?
Anthony Kreis: Wir sprechen oft davon, dass die drei Gewalten sich gegenseitig kontrollieren und ausgleichen. Historisch gesehen geht es jedoch eher um die Trennung der Parteien als um die Trennung der Gewalten. Solange die Republikaner den Kongress und den Verfassungsgerichtshof kontrollieren, wird es weniger institutionellen Widerstand seitens der Legislative und der Judikative geben. Damit dies geschieht, müsste sich die Lage grundlegend ändern und Trump an Popularität unter den Republikanern verlieren. Ansonsten hängt für die Demokraten viel von den Wahlen im Jahr 2026 ab. Das ist dann ihre einzige echte Chance, den Abwärtstrend zu stoppen.
USA in der Verfassungskrise
netzpolitik.org: Haben die Demokraten bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt oder haben sie noch Optionen?
Anthony Kreis: Sie haben kaum andere Möglichkeiten, als die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Bislang haben sie das nicht besonders gut gemacht.
netzpolitik.org: Bis zu den Wahlen 2026 wird also der Supreme Court in den meisten dieser Fragen das letzte Wort haben. Bislang waren seine Entscheidungen für die Trump-Regierung eher durchwachsen. Aber Trump versucht weiterhin, offensichtlich illegale Anordnungen durchzusetzen, sei es der Einsatz des Militärs im Inland oder die Abschaffung des verfassungsmäßig garantierten Geburtsortsprinzips. Wir haben bereits gesehen, dass Trump Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs ignoriert hat. Befinden sich die USA bereits in einer Verfassungskrise?
Anthony Kreis: Jeder wird „Verfassungskrise” anders definieren. Für mich ist es ein Moment, in dem die Rechtsstaatlichkeit bedroht ist und die Machthaber versuchen, Regeln und Institutionen außerhalb eines legitimen Prozesses zu ändern – mit anderen Worten: willkürliche und instabile Regierungsführung („Governance“). Das ist seit Januar der Zustand in Amerika. Ich würde sagen, wir befinden uns in einer Verfassungskrise.
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Lass uns jetzt gemeinsam WhatsApp verlassen
WhatsApp hat das Internet zu einem besseren Ort gemacht. Für viele Menschen war es lange Zeit selbstverständlich, dass man andere auf WhatsApp erreichen kann. Ohne absurde Zeichenbegrenzung wie bei der SMS. Ohne den hölzernen Charakter einer E-Mail. Und mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, sodass niemand die Nachrichten auf dem Weg abfangen und mitlesen kann. Danke, WhatsApp!
Aber mit WhatsApp geht es bergab. Der Messenger, der inzwischen zu Meta gehört, soll Geld abwerfen. Meta ist der Konzern, der auch Facebook und Instagram betreibt. An dessen Spitze steht Multi-Milliardär Mark Zuckerberg, der sich darum bemüht, Donald Trump zu gefallen. Und als würde Meta nicht schon genug Geld verdienen, soll jetzt auch noch WhatsApp Werbung bekommen.
Werbung bei WhatsApp: Jahrelang war das tabu. Im Jahr 2012, vor der Übernahme durch Mark Zuckerberg, da schrieben die WhatsApp-Chefs noch :
Werbung ist nicht nur die Störung der Ästhetik, die Beleidigung deiner Intelligenz und die Unterbrechung deines Gedankengangs. Bei jedem Unternehmen, das Anzeigen verkauft, verbringt ein erheblicher Teil des Engineering-Teams seinen Tag damit, die Datenanalyse zu optimieren […]. Sobald Werbung im Spiel ist, bist du als Nutzer*in das Produkt.
2012 ist lange her. Die Gründer von WhatsApp sind schon länger nicht mehr an Bord. Inzwischen ist WhatsApp für viele Menschen nicht mehr wegzudenken. Wie sonst soll man die Familie erreichen, die Leute im Verein, die Bekanntschaft aus der Bar? WhatsApp gehört für viele zur Grundversorgung. Und gerade deshalb sollte WhatsApp keine Werbung haben.
WhatsApp hat uns „absolut“ verarscht
Wie absurd wäre Werbung an anderen Stellen, die zur Grundversorgung gehören? Stellt dir vor, dein Telefonanbieter würde Werbung einführen. Du könntest niemanden mehr anrufen, ohne dir zuerst einen Werbeclip anhören zu müssen. Oder die Post würde Werbung einführen: Du dürftest Briefe nur noch in Umschlägen verschicken, die zugekleistert sind mit knallbunten Anzeigen. Das würde sich einfach falsch anfühlen.
Nach der Übernahme durch Facebook hatte WhatsApp noch mit Nachdruck versprochen, im Messenger solle es auch in Zukunft keine Werbung geben:
Und du kannst dich absolut darauf verlassen, dass deine Kommunikation nicht durch Werbung gestört wird.
Das Wort „absolut“ griff auch Mark Zuckerberg auf, als er im Jahr 2014 sagte:
Wir werden unsere Pläne rund um WhatsApp absolut nicht ändern. […] WhatsApp wird völlig eigenständig arbeiten.
Tja, jetzt kommt die Werbung doch. Inklusive möglicher Personalisierung über andere Meta-Dienste hinweg, also Instagram und Facebook. WhatsApp hat damit seine über Jahre gepflegten Ideale verraten. Worauf sollten wir uns nochmal „absolut“ verlassen? Sieht aus, als hätten uns WhatsApp und Mark Zuckerberg absolut verarscht.
WhatsApp-Chef weicht Fragen aus
Die neue Werbung soll im Tab „Aktuelles“ zwischen Status-Updates zu sehen sein. Das heißt, die Gespräche mit den eigenen Kontakten bleiben vorerst werbefrei. Aber wer weiß, wie lange noch? Der SPIEGEL wollte von WhatsApp-Chef Will Cathcart wissen, ob WhatsApp bald auch noch die Chats und den Startbildschirm zur Werbefläche macht. „Können Sie uns versprechen, dass Sie dies in den nächsten zwei Jahren nicht tun werden?“, lautetet die Frage.
Das ist eine simple Frage. Man kann sie mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Aber Will Cathcart hat nicht mit „Ja“ oder „Nein“ geantwortet.
Er hat gesagt: „Unser Fokus geht nicht in diese Richtung“.
Bei so einer ausweichenden Antwort gehen meine Alarmglocken an. Offensichtlich will sich WhatsApp alle Optionen offenhalten. Und WhatsApp macht sich nicht einmal die Mühe, das offen zu sagen. Stattdessen übt sich der WhatsApp-Chef in Wortakrobatik. Wer so aalglatt antwortet wie Will Cathcart, der will Menschen verarschen. Hätte er doch nur gesagt: „Vielleicht, keine Ahnung.“ Das wäre ehrlicher gewesen.
WhatsApp hat ein Privatsphäre-Problem
Es gibt noch mehr gute Gründe, WhatsApp zu verlassen. Trotz Ende-zu-Ende-Verschlüsselung schützt der Messenger unsere Privatsphäre nicht gut. Um zu funktionieren, will WhatsApp Zugriff auf das gesamte Telefonbuch haben. Inklusive der Kontakte, die kein WhatsApp haben. WhatsApp erklärt zwar, dass diese Nummern nicht im Klartext gespeichert würden; Fachleute wie der IT-Sicherheitsforscher Mike Kuketz beruhigt das aber nicht.
Mehr noch: WhatsApp erfasst, wer wann mit wem Kontakt hatte. Der Zuckerberg-Konzern kann zwar nicht lesen, worum es inhaltlich geht, dank Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Aber WhatsApp hat das wertvolle Wissen, wer mit wem vernetzt ist – und wie eng. Das sind die sogenannten Metadaten. Obendrauf kommen Eckdaten wie Profilbild und Status, die nicht Ende-zu-Ende-verschlüsselt sind.
Solche Daten sind mächtig. Der Whistleblower Edward Snowden hat in seiner Biografie geschrieben:
Die unbequeme Wahrheit ist aber gerade, dass der Inhalt unserer Kommunikation nur selten so viel über uns verrät wie ihre anderen Elemente. Es sind die ungeschriebenen, unausgesprochenen Informationen, die den weiteren Kontext und unsere Verhaltensmuster offenbaren.
Wie gefährlich ist das, wenn ein Konzern dieses Wissen über drei Milliarden Nutzer*innen hortet? Ein Konzern, der seinen Sitz in den USA hat, also einem zunehmend autokratischen Staat, dessen aktueller Präsident wohl am liebsten ein Diktator wäre?
Natürlich gibt WhatsApp auf Anfrage auch Daten an Polizei und Strafverfolgungsbehörden weiter. Unternehmen können solche Anfragen schwer ignorieren. Aber sie können entscheiden, welche Daten sie überhaupt erfassen. Was man nicht hat, kann man auch nicht weitergeben. Das nennt man Privacy by Design. WhatsApp macht hier keinen guten Job.

So klappt der Umstieg ganz einfach
Es gibt weniger problematische – und werbefreie – Messenger, die genauso praktisch und angenehm sind wie WhatsApp. Die Auswahl ist groß. Es gibt Leute, die sich da tief reinknien und im Detail diskutieren, welcher Messenger der beste ist. Aber darum soll es hier nicht gehen. Von WhatsApp wegzukommen ist ein erster, großer Schritt in die richtige Richtung.
Wer nicht lange suchen will, kann beispielsweise zum kostenlosen Signal oder zum kostenpflichtigen Threema greifen. Beide haben keine Werbung und sammeln deutlich weniger Daten als WhatsApp. Der Umstieg ist einfach. Alles ist sehr ähnlich wie WhatsApp. Schon nach kurzer Zeit hat man sich an das Design gewöhnt.
Vielleicht willst du WhatsApp zumindest vorläufig behalten, weil du einige Kontakte eben nur dort erreichst. Verständlich! Der Messenger-Wechsel wäre viel einfacher, wenn alle direkt mitmachen würden. Aber: Irgendjemand muss den Anfang machen. Und wenn du diesen Artikel schon bis hierhin gelesen hast, dann bist du bestens dafür qualifiziert, den Anfang zu machen.
Es muss ja kein harter Wechsel von heute auf morgen sein. Der erste Schritt ist kurz und schmerzlos: Einfach einen neuen Messenger herunterladen. Jetzt gleich! Fertig ist das erste Erfolgserlebnis.
Das kannst du deinen Kontakten schreiben
Und dann kannst du den Umzug Schritt für Schritt vollziehen. Du kannst mit den Kontakten oder Gruppen beginnen, von denen du weißt: Die machen bestimmt mit. Vielleicht hilft dir dieser Artikel dabei zu erklären, warum dir der Wechsel wichtig ist.
Würde ich heute von WhatsApp wechseln, dann würde ich vielleicht diese Nachricht an meine Kontakte schicken:
Hey ihr Lieben,
auf WhatsApp fühle ich mich nicht mehr richtig wohl. Ich möchte Meta nicht länger meine Daten anvertrauen, und jetzt soll dort auch noch Werbung kommen. Hier könnt ihr mehr darüber lesen: https://netzpolitik.org/2025/bitte-keine-werbung-lass-uns-jetzt-gemeinsam-whatsapp-verlassen
Können wir bitte gemeinsam den Messenger wechseln? Es ist wirklich nicht schwer, und wir bleiben dort genauso gut in Kontakt. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir das zusammen ausprobieren. ❤️
[Link zum alternativen Messenger]
So lief es bei mir
Meinen Umzug von WhatsApp habe ich vor ein paar Jahren gemacht. Die Wahl fiel auf Signal. Ich war überrascht, wie viele meiner Kontakte schon dort waren. Andere haben sich extra wegen mir Signal heruntergeladen. Danke nochmal dafür!
Inzwischen erreicht mich fast keine Nachricht mehr über WhatsApp. In meinem WhatsApp-Status steht, dass mir Menschen bitte auf Signal schreiben sollen. Es gibt nur wenige Kontakte, die ich bisher nicht zum Wechseln motivieren konnte. Seit einer Weile warte ich nur noch darauf, die App bald löschen zu können. Nur so kann man auch die letzten Nachzügler*innen dazu bewegen, endlich den Absprung zu schaffen.
Das dürfte leichter fallen, wenn es mit WhatsApp weiter bergab geht. Auch der Messenger ICQ war mal unverzichtbar und spielt heute keine Rolle mehr. Wenn einmal eine kritische Masse zusammenkommt, dann kann sich alles ändern. Und diese kritische Masse, das können einfach wir sein. Nur Mut!
Datenschutz & Sicherheit
Cybertrading-Betrug: Ermittler nehmen fast 800 Domains vom Netz
Im Kampf gegen die internationale Wirtschaftskriminalität im Internet und betrügerische Plattformen haben baden-württembergische Behörden fast 800 illegale Websites beschlagnahmt. Das Cybercrime-Zentrum bei der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe und das Landeskriminalamt (LKA) Baden-Württemberg arbeiteten dafür mit der europäischen Polizeibehörde Europol und bulgarischen Strafverfolgungsbehörden zusammen.
„Die beschlagnahmten Domains wurden auf eine vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg gehostete Beschlagnahmeseite umgeleitet und können nun nicht mehr zur Begehung von Straftaten genutzt werden“, hieß es weiter. „Durch die Maßnahmen wurden die kriminellen Akteure erheblich geschwächt, indem ihre technische Infrastruktur gezielt außer Kraft gesetzt wurde.“ Allein seit der Umleitung in den vergangenen zwei Wochen stellten Strafverfolger den Angaben nach rund 616.000 Zugriffe auf die übernommenen Seiten fest.
Auf Gewinnversprechen folgt massiver Druck
Es geht dabei um eine relativ neue Betrugsmasche namens „Cybertrading Fraud“. Die Kriminellen machen gutgläubigen Opfern Hoffnung, per Mausklick vor allem im Bereich Kryptowährungen große Gewinne zu erzielen. Im Internet bewerben sie ihre Angebote laut dem Sicherheitsbericht des Innenministeriums auf seriös wirkenden Seiten. In der Regel sei eine einfache Registrierung erforderlich.
Dann meldeten sich vermeintliche Brokerinnen und Broker telefonisch, um eine erste Investition von meist 250 Euro zu fordern. Diese sei scheinbar sofort erfolgreich. Gelegentlich gebe es sogar kleinere Auszahlungen. „Diese Erfolge sowie das geschickte und intensive Einwirken der vermeintlichen Brokerin oder des vermeintlichen Brokers verleiten dazu, mehr Geld zu investieren“, schreiben die Fachleute. Die Kriminellen übten oft massiven Druck aus. Doch sobald die Menschen ihre angeblichen Gewinne ausgezahlt haben wollten, seien Internetseite und Ansprechpersonen häufig nicht mehr erreichbar.
2024: Anstieg auf 1036 Fälle
Laut dem Sicherheitsbericht 2024 registrierten die Behörden einen Anstieg auf 1036 Fälle. Mehr als doppelt so viele Taten seien zudem aus dem Ausland begangen worden. „Erklärungen hierfür sind die hohe Reichweite der Internetplattformen, die Hoffnung vieler Geschädigter, per Mausklick eine große Rendite zu erwirtschaften und deren Gutgläubigkeit“, heißt es.
Das Cybercrime-Zentrum und das LKA ermitteln in dem aktuellen Fall gegen bislang unbekannte Täter. Manche der 796 Domains seien in deutscher Sprache verfasst. Die Betreiber der Internetauftritte hätten nicht die erforderliche Erlaubnis der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) für Finanz- beziehungsweise Wertpapierdienstleistungen und Bankgeschäfte.
Den Verbrauchern und Verbraucherinnen raten LKA und das Cybercrime-Zentrum, sich genau über Trading-Plattformen zu informieren, bevor sie sich anmelden oder Geld überweisen. „Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen. Nehmen Sie sich Zeit, um das Angebot in Ruhe zu prüfen und zu bewerten.“
Bereits Mitte Mai 2025 waren Ermittler gegen Online-Investmentbetrüger vorgegangen. Nach Durchsuchungen an acht Orten in Albanien, Israel und Zypern nahmen sie einen Verdächtigen fest. Ihm steht die Auslieferung nach Deutschland bevor.
(cku)
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