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Trugbild: Das süße Leben
Das Gespräch fand auf der wohl schönsten Terrasse statt, die ich jemals betreten hatte. Zwischen Zigaretten und Champagner wollte die Hausherrin von mir wissen, für wen ich denn so schreibe. Ich zählte einige meiner ehemaligen Auftraggeber auf. „Mit 18 war ich auch Kommunistin“, sagte sie später zu mir.
Der Satz blieb hängen, und zwar so lange, dass er mich einige Wochen danach an eine Szene aus Federico Fellinis Film „La Dolce Vita“ erinnerte. Dort fragt eine Aristokratin den Boulevardjournalisten Marcello bei einem rauschenden Fest in der familieneigenen Villa scherzhaft, ob er nun einen Artikel über die „dumme und korrupte Aristokratie“ schreiben werde. „Erstens schreibe ich über andere Dinge, und zweitens seid ihr nicht interessant genug“, sagt Marcello. Die Aristokratin ignoriert die scharfe Antwort und feiert weiter.
Marcello lässt sich dennoch auf eine weitere durchzechte Nacht mit hohlen Gesprächen und oberflächlichen Begegnungen ein, anstatt seiner eigentlichen Arbeit, der Schriftstellerei, nachzugehen. Zu groß ist die Verlockung des vermeintlich „süßen Lebens“, zu schön das Bild, das die edle Gesellschaft in den alten Gemäuern abgibt. Schließlich endet das Fest im Morgengrauen. Die feinen Leute verschwinden auf ihrem Anwesen, Marcello muss in sein tristes Privatleben zurückkehren.
Auch ich habe auf der schönen Terrasse mein vorerst letztes Glas Champagner ausgetrunken und bleibe schließlich mit einer nüchternen Erkenntnis zurück: Wer sich ganz oben auf der Treppe befindet, der kann die Stufen mühelos herab- und wieder hinaufsteigen oder zwischendurch seine Identität wechseln. Stadtvillen und Schampus gibt es für weiter unten Angesiedelte und Außenseiter nur auf den Smartphones zu sehen – dafür täglich, als Teil von beliebten Netzästhetiken wie der „Old Money Aesthetic“ oder der „Dark Academia“. Wen wundert es da noch, dass der Berufswunsch Influencer heute zu den meistgenannten Karrierezielen junger Menschen zählt?
Content Creation als wirtschaftliche Überlebensstrategie
Die Sabrage, das Köpfen einer Champagnerflasche mit Säbel, prächtige Anwesen, und viele weitere Abbilder eines gehobenen Lebensstils laufen auf sozialen Medien in Dauerschleife. Und immer scheint es den anderen dabei besser zu gehen als einem selbst. Im analogen Leben bekommen junge Menschen die Krisen unserer Gegenwart als Kontrastprogramm hautnah zu spüren. Immer mehr Mikroplastik, immer weniger Geld und kein bezahlbarer Wohnraum in den Städten. Viele haben den Wunsch nach Eigentum, sei es ein Haus oder eine Wohnung, bereits aufgegeben. Das Influencertum verspricht dagegen kompromisslose Selbstbestimmung und finanzielle Freiheit.
Es liegt also nahe, über den unternehmerischen Aufbau der eigenen Identität als Marke nachzudenken. Das hat weniger mit Selbstverliebtheit oder Arroganz als mit der aktuellen wirtschaftlichen Lage und dem verantwortlichen System zu tun. Der in Eigenregie geleistete Transfer von Persönlichkeit und Talent in eine darstellende Netz-Persona soll ökonomische Sicherheit gewährleisten.
In besonders prekären Berufsfeldern kann eine hohe Follower-Anzahl lukrative Verträge und Projekte sichern. Influencer haben deutlich bessere Chancen, in die gnadenlos umkämpften Branchen wie Literatur, Schauspiel oder Musik einzusteigen. Manchmal gleichen dabei viele Follower sogar fehlendes Können aus.
Hohe Reichweite ist ein Sprungbrett für unerreichbare Karrieren, die sonst nur durch ein finanzielles Fundament, gute Kontakte und viel Glück möglich sind. In jedem Fall nehmen auch Arbeitnehmer die kostenlose Werbung durch ihre Angestellten gerne mit. Selbst in analogen Jobs, vom Barkeeper bis zum Eisverkäufer, verhilft heute ein gepflegtes Netzprofil zu besseren Chancen.
Schlechte Zukunftsaussichten
Anstatt junge Menschen also dafür zu verurteilen, sich ihre eigene Marke im Netz aufzubauen und mit dem Finger auf den für viele noch als kindisch geltenden Berufswunsch Content Creator zu zeigen, müssen Gründe für die prekäre Lage der Heranwachsenden anerkannt und bestenfalls angegangen werden. Während meiner gesamten Ausbildung, von der Realschule, dem Gymnasium bis zur Fachhochschule und Universität bekam ich zu hören, dass die Chancen auf dem Jobmarkt schlecht stünden. Praktische Lösungsansätze gab es keine.
In einem Berufsklima, das sich zunehmend irrational anfühlt und das seinen Subjekten dennoch harte Arbeit ohne allzu große Erfolgschancen auf gesellschaftlichen Aufstieg abverlangt, fühlen sich junge Menschen zurecht allein gelassen und unsicher. Es liegt also nahe, sich mit eigenen Inhalten im Netz selbstständig zu machen und somit die klassischen Gatekeeper zu umgehen. Der unternehmerische Aufbau der eigenen Identität als Marke ist so Zukunftsinvestition und Schutzwall zugleich.
Hustle Culture als Pflicht
Leider ist auch die vermeintliche Sicherheit des Influencer-Daseins größtenteils Illusion. Nur die wenigsten können mit Content Creation ihren Lebensunterhalt finanzieren. Der Content-Markt stagniert, die Aufmerksamkeit der Zusehenden ist begrenzt. Während wir also immer häufiger Bilder eines besseren Lebens betrachten, verkleinern sich gleichzeitig die Chancen darauf, es auch führen zu dürfen.
Selbst wenn das süße Leben für die meisten der Zuschauer nur (Ab-)Bild und Wunsch bleibt und eine bildgewaltige Existenz sicherlich kein Glück verspricht – aufgeben werden den unternehmerischen Ausbau der eigenen Marke trotzdem die wenigsten. Die unsichere Lage zwingt sie regelrecht dazu. Leider gilt am Ende des Tages oft das von einem streitbaren Literaturkritiker abgeschaute Sprichwort, wie es ein guter Freund zu sagen pflegt: „Im Taxi weint es sich besser als in der U-Bahn.“