Datenschutz & Sicherheit
Trugbild: Plastik, Parasiten und Paranoia
In der Antike deuteten Wahrsager aus den Eingeweiden von Opfertieren die Zukunft. Von großer Bedeutung war die Leberschau – die Leber galt als Organ, das den Zustand der Welt widerspiegelt. Für seherische Weissagungen brauchen wir heute glücklicherweise keine Tierkadaver mehr. Die dauerausgestellten Idealkörper unserer Stars sind für alle sichtbar und ihre prophetischen Deutungen erreichen täglich Tausende Menschen.
So auch der alarmierende Orakelspruch von Heidi Klum: „Wir haben anscheinend alle Parasiten und Würmer“, sagte die Model-Mama jüngst in einem Interview mit dem Wall Street Journal. Sie unterziehe sich daher mit Ehemann Tom Kaulitz einer langwierigen „Parasiten-Reinigung“.
Doch nicht nur bei Heidi ist der Wurm drin. Als „der Mann, der unsterblich sein will“ geistert Bryan Johnson schon seit einigen Jahren durch die Medien. Der US-amerikanische Geschäftsmann und „Langlebigkeits-Influencer“ stellte in seinem Podcast fest: „Unsere Eltern sind voll mit Asbest, wir sind voller Mikroplastik“. Johnson zählt sich selbst zu den „Top 1 %“, gemessen an seiner „Entzündungsrate“ und der Anzahl seiner „nächtlichen Erektionen“.
Die Katastrophe scheint also unausweichlich. Gift und Gewürm geben sich im sonst über alle Maßen gepflegten Promi-Body die Klinke in die Hand. Können uns da Mikroplastik-Tests und Wurmkuren noch retten?
Der Feind in uns
Wenn Klum und Johnson die allumfassende Verseuchung verkünden, sprechen sie gern im Plural. Wir alle sind schwer belastet durch Luftverschmutzung, Mikroplastik und UV-Strahlen, sind gezeichnet von Süchten und Faulheit. Oben drauf kommen Hass und Hetze, schlechte Kunst und mieser Content. Der Gesellschaft bleibt also gar nichts anderes übrig, als den eigenen Körper und die Umwelt als feindlich wahrzunehmen.
Dagegen „helfen“ sollen die verschiedensten Produkte: Atemschutzmasken mit eingebauten Noise-Cancelling-Kopfhörern, „Serum“ mit Lichtschutzfaktor 50 aus Südkorea, Stanley Cups für ausreichend Hydration und einen strahlenden Teint. Für die Feinde im eigenen Kopf und Körper – alternde Zellen, ansetzendes Fett, Einsamkeit oder ein undisziplinierter Geist – gibt es proteinreiche Ernährung, Pillen, Hormontherapien, Dating– und Fitness-Apps.
Die Aussicht auf die nahende Katastrophe oder gar die Todesangst der eigenen Kunden sind immer gut für das Geschäft. Das wissen die Wurm-Gurus auf TikTok, die teure Anti-Parasiten-Tinkturen vertreiben, ebenso wie die Beauty-Industrie und am besten wohl Bryan Johnson, der am regressiven Wunsch nach Unsterblichkeit kräftig mitverdient.
Sauber bleiben in einer schmutzigen Welt
Johnson und Klum verkaufen die Idee eines ewigen Lebens an verzweifelnde Kunden – und das in einer zunehmend schmutzigen Welt, die langsam aber sicher an ihrem eigenen Müll erstickt. Zwar lässt sich Mikroplastik im Gegensatz zu Heidis Parasiten nachweisen, fürs menschliche Auge aber ist es unsichtbar.
Von der eisigen Antarktis bis in die Tiefen des Marianengrabens, ob in Sperma, Uterus oder Gehirn, ob Biomarkt oder Discounter – die winzig kleinen Plastikteilchen sind bereits überall. Und wenn gesundheitsbewusste und zahlungskräftige Kunden auf das Problem aufmerksam gemacht werden, boomt das Geschäft für Johnson und Konsorten.
Johnson selbst hat bereits mit der Entplastifizierung des Körpers begonnen und seine Plastikwerte angeblich um ein Vielfaches gesenkt. Für Normalsterbliche ist das noch nicht möglich. Aber wer jetzt schon wissen mag, wie viel Mikroplastik im eigenen Blut herumschwimmt, dem verkauft Johnson Mikroplastik-Tests für 135 Dollar das Stück. Der Zweck des Produktes richtet sich dabei – wie gewohnt – auf die Bekämpfung der Symptome, nicht ihrer Ursachen.
Wiederkehr verdrängter Schuld
Gleichzeitig arbeiten diejenigen, die vor den Konsequenzen ihres eigenen Treibens am besten geschützt sind, fleißig an der kulturellen und physischen Zersetzung der Welt mit. Parasiten-Prophetin Heidi Klum, die im People Magazine verkündete, dass „Älterwerden okay ist“ und sich „total für Botox“ ausspricht, hat immerhin fünf Jahre lang für die Fast-Food-Kette McDonalds geworben.
Wen wundert es angesichts dieser Ambivalenz, dass Heidi bei ihrer berühmt-berüchtigten Halloween-Party als Riesenwurm auftrat. War das grandiose Kostüm unbewusster Ausdruck der eigenen Todesangst und des verdrängten schlechten Gewissens?
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Die Würmer folgen der armen Heidi nun selbst in die virtuelle Heimat. Im persönlichen Social-Media-Feed setzt sich die grausige Thematik fort, wie sie im Wall-Street-Journal-Interview verrät: „Gerade ist mein kompletter Instagram-Feed voll mit Würmern und Parasiten“.
Ähnliche Widersprüche tun sich bei Johnson auf. Der Influencer sagt zwar, dass „wir die Welt in Plastik gebadet haben“. Seine Olivenöl-Hausmarke „Snake Oil“ verkauft er aber dennoch in reisetauglichen Plastiksäckchen zu je 15 Milliliter.
Die Langlebigkeits-Jünger loben das Schlangen-Öl in zahlreichen Kommentaren auf der Verkaufs-Website: „Kein Problem mit dem Geschmack, ich nehme jeden Morgen problemlos einen Esslöffel ein. Das Flaschendesign gefällt mir sehr.“ Und ein anderer schreibt: „Ich trinke gerade meine fünfte Flasche Olivenöl.“ Amerikaner eben.
Madige Aussichten
Wer den Menschen Parasiten andichtet und sie glauben machen will, dass die Mikromenge an „Polyphenolen“ in Olivenöl ewiges Leben verheißt, der ist kein Seher, sondern ein Scharlatan.
Und während die tatsächliche Plastikwerdung von Umwelt und Körper voranschreitet, sind Klum und Johnson vermutlich die Ersten, die sich von Verkaufsschalter und Behandlungstisch auf ihre vom Plebs abgeschirmten Yachten oder in sterile Bunker flüchten.
Grund zur Hoffnung gibt es trotzdem. Für die Verwurmten unter uns hat die Model-Mama immerhin noch einen Hausmittel-Tipp parat: „Der Parasit hasst Nelken. Er hasst auch die Samen einer Papaya.“
Datenschutz & Sicherheit
Bald ist Schluss: Volksverschlüsselung wird eingestellt
Mit wenigen Klicks sollte jedermann in die Lage versetzt werden, leicht Ende-zu-Ende-verschlüsselte E-Mails versenden zu können – die Idee hinter der Volksverschlüsselung war es, Verschlüsselung einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Nun wird die kostenlose Volksverschlüsselung-Software nach jahrelangem Betrieb zum 31. Januar 2026 eingestellt. Das gab das Fraunhofer Institut für Sichere Informationstechnologie (Fraunhofer SIT) bekannt.
„Um unsere Ressourcen für neu zu entwickelnde zukunftsorientierte Sicherheitslösungen einsetzen zu können, haben wir uns entschieden, den Volksverschlüsselungsdienst nicht weiterzuführen“, heißt es in einer kurzen Erklärung. Der Blick zurück aber fällt positiv aus. Gemeinsam mit seinen Partnern, darunter die Deutsche Telekom, habe man dazu beitragen können, IT-Sicherheit in Deutschland einfacher und alltagstauglicher zu machen, heißt es. Hinter der Open-Source-Anwendung Volksverschlüsselung verbirgt sich eine Infrastruktur, mit der Schlüssel erzeugt, zertifiziert und verteilt werden, damit Anwender eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung beim E-Mail-Versand nutzen können. E-Mails signieren und verschlüsseln sollte so für jede und jeden leicht handhabbar sein.
Für die aktuellen Nutzerinnen und Nutzer ändert sich trotz der Ankündigung zunächst wenig. Der Zugriff auf bestehende Installationen und Zertifikate bleibt bestehen. Ab dem 31. Januar kommenden Jahres aber ist die Registrierung neuer Nutzerinnen und Nutzer nicht mehr möglich. Auch werden ab diesem Zeitpunkt keine Updates oder Support-Leistungen mehr bereitgestellt. Diverse Dienste, wie der Verzeichnis- und Sperrdienst, werden dann eingestellt.
(akn)
Datenschutz & Sicherheit
Die EU muss Google aufspalten
Am Freitag hat die EU-Kommission verkündet, dass Google seine Marktmacht in der Online-Werbung missbraucht hat. Dafür muss der Tech-Konzern 2,95 Milliarden Euro Strafe zahlen. Google muss zudem innerhalb von 60 Tagen Abhilfemaßnahmen vorlegen, die seine Interessenkonflikte in der Online-Werbung beenden.
Diese Entscheidung vertagt leider die nötigen Maßnahmen, um die Monopolmacht von Google zu brechen. Sie lässt zugleich die Tür zu einer Aufspaltung weiter offen. Die Debatte wird sich zuspitzen – umso wichtiger ist es, den Druck auf die EU-Kommission aufrechtzuerhalten. Denn nur eine Aufspaltung von Google löst die Probleme dauerhaft.
Google nutzt seine Macht zulasten der Medien
Der Kern des Problems ist Googles Dominanz bei der Vermarktung von Anzeigeflächen. Ruft man eine Webseite auf, laufen im Hintergrund in Sekundenbruchteilen Auktionen ab. Ihr Ausgang entscheidet, welche Anzeigen wir auf dieser Seite angezeigt bekommen. Google dominiert beide Seiten dieses Auktionsprozesses: Es betreibt den größten Server, über den die Verleger ihre Anzeigenflächen anbieten. Es ist zugleich bei den Diensten marktbeherrschend, mit denen Werbetreibende ihre Online-Anzeigenkampagnen steuern. Google betreibt zudem mit AdX den größten Auktionsserver auf dem Markt. Google hat diese Marktmacht jahrelang missbraucht und damit Medien, Anzeigenkunden und Wettbewerber geschädigt.
Das sieht auch die EU-Kommission in ihrer Entscheidung so. Google habe den eigenen Auktionsserver AdX bevorzugt, damit seine Stellung gestärkt und hohe Gebühren verlangen können. Diese Bewertung ist ein wichtiger Schritt, um die Monopolmacht des Tech-Konzerns zu begrenzen. Googles Fehlverhalten ist gut belegt und auch in den USA durch ein Gericht bestätigt. Das ist nicht nur ein wirtschaftliches Problem, denn Googles Monopolstellung reduziert die Anzeigenerlöse der Medien und schwächt damit den Journalismus und letztlich die Demokratie.
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Geldstrafen wirken nicht – nur Aufspaltung hilft
Die EU verhängt deshalb eine Milliardenstrafe. Sie legt sich aber nicht fest, wie der Machtmissbrauch und die Interessenkonflikte dauerhaft beendet werden sollen. Diese Entscheidung reicht nicht aus und kann nur der erste Schritt sein. Auch wenn Trump sich aufregt und mit Gegenmaßnahmen droht: Geldstrafen bewirken angesichts der gewaltigen Monopolgewinne von Google wenig. Im ersten Quartal 2025 steigerte Googles Mutterkonzern Alphabet seinen Umsatz auf 90,23 Milliarden US-Dollar, der Gewinn lag allein in diesen drei Monaten bei 34,54 Milliarden Dollar.
Verhaltensauflagen für den Konzern wären nur schwer kontrollierbar, Google könnte sie immer wieder durch neue unfaire Praktiken umgehen. Die EU-Kommission muss deshalb eine Aufspaltung weiter verfolgen, statt sich auf Googles Vorschläge und Wohlverhalten zu verlassen. Die EU-Kommission hatte in ihrer vorläufigen Analyse des Falls im Juni 2023 selbst gesehen, dass nur ein Verkauf von Teilen des Werbegeschäfts die Interessenkonflikte Googles beenden kann. Darauf verweist die Kommission auch in ihrer jetzigen Pressemitteilung. Das ist ein Lichtblick.
Die Machtstellung Googles auf mehreren Marktseiten führt unweigerlich zu Interessenskonflikten und öffnet dem Machtmissbrauch Tür und Tor. Nur durch eine Aufspaltung lässt sich dauerhaft sicherstellen, dass Google seine eigenen Werbedienste nicht bevorzugt und andere Marktteilnehmer nicht behindert. Die EU-Kommission muss den politischen Mut dafür aufbringen, um die Demokratie und die digitale Souveränität der EU zu schützen. Wir brauchen eine Wettbewerbspolitik, die die übermäßige Machtkonzentration in der digitalen Wirtschaft endlich auf struktureller Ebene angeht.
Ulrich Müller ist Mitgründer und Vorstand von Rebalance Now. Die Organisation tritt dafür ein, die Monopolisierung der Wirtschaft zurückzudrängen und die Macht großer Unternehmen zu beschränken. Das Ziel ist eine vielfältige und ausgewogene Wirtschaft.
Datenschutz & Sicherheit
„Es gibt nur schlechte Optionen. Wir sollten sie alle umsetzen.“
Etwa jeden dritten Tag bringt in Deutschland ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin um. Das ist nicht neu. Neu ist, dass derzeit auch Politiker*innen den Kampf gegen Femizide zu einer Priorität erklären und darüber diskutieren, was sich dagegen tun lässt. Besonders beliebt unter den möglichen Maßnahmen: die elektronische Fußfessel für Gewalttäter*innen, nach dem sogenannten spanischen Modell.
In Spanien wird sie schon seit 2009 eingesetzt, in Deutschland will Schwarz-Rot sie jetzt im Gewaltschutzgesetz verankern. Das Bundesjustizministerium (BMJ) hat dafür Ende August einen Gesetzentwurf vorgestellt.
Künftig sollen Familiengerichte bundesweit die elektronische Fußfessel anordnen können, um Näherungsverbote durchzusetzen und gewaltsame Täter*innen auf Abstand zu halten. Das Besondere dabei: Statt einen Radius um die Wohnung oder den Arbeitsplatz zur verbotenen Zone zu erklären, funktioniert das Näherungsverbot in solchen Fällen dynamisch. Der Gefesselte trägt einen mit GPS ausgestatteten Sender am Bein, die betroffene Person trägt auf Wunsch ebenfalls ein Gerät bei sich. Kommt die Person näher als der gerichtlich angeordnete Abstand, soll ein Alarm ausgelöst werden.
Der Kriminologe Florian Rebmann arbeitet als Teil eines Teams an der Universität Tübingen an einer großangelegten Studie zu Femiziden in Deutschland. Er warnt im Interview mit netzpolitik.org: Die Fußfessel darf nicht dafür sorgen, dass die Debatte um Gewaltschutz abebbt.
netzpolitik.org: Herr Rebmann, warum ist die elektronische Fußfessel als Maßnahme für Gewaltschutz ausgerechnet jetzt oben auf der politischen Agenda in Deutschland angekommen?
Florian Rebmann: Das Thema Partnerschaftsgewalt ist gerade politisch relevant, es besteht ein großer Handlungsdruck. Die Fußfessel ist eine Maßnahme, die, wenn man den Berichten aus Spanien glaubt, sehr gut funktionieren soll. Gleichzeitig kann man diese Maßnahme gut kommunizieren, weil sie sehr direkt die potentiellen Täter betrifft.
Was die Fußfessel nicht leisten kann, ist die strukturellen Ursachen dieser Delikte anzugehen. Das wäre auch mit einem viel höheren Aufwand verbunden. Sie ist also einerseits nur Symptombekämpfung. Andererseits gibt es aber auch Anhaltspunkte dafür, dass die Fußfessel in Einzelfällen etwas bringt.
netzpolitik.org: In Spanien ist die Zahl der Femizide pro Jahr erheblich zurückgegangen. Laut spanischem Innenministerium kam es bei keinem der rund 13.000 Fälle, in denen eine Fußfessel angeordnet wurde, zu einer Tötung. Klingt das nicht nach einem Erfolg?
Florian Rebmann: Da muss man vorsichtig sein. Man kann aus den verfügbaren Daten nicht ableiten, dass dieser Rückgang auf die Einführung der elektronischen Fußfessel zurückzuführen ist. Seit sie im Jahr 2009 in Spanien eingesetzt wird, wurde dort eine Vielzahl von weiteren Maßnahmen ergriffen. Es ist also nicht klar, auf welche dieser Maßnahmen der Rückgang an Femiziden zurückgeht.
Interessanter als die Fallzahlen finde ich die Information, dass es bei keinem der begleiteten Fälle zu einer Tötung kam. Auch das bedeutet zwar nicht zwangsläufig, dass die Maßnahme funktioniert, weil ja nicht feststeht, dass diese Menschen ohne Fußfessel eine schwere Gewalttat begangen hätten. Bei so vielen Anordnungen kann man aber schon folgern, dass die Maßnahme etwas bringt.
netzpolitik.org: Ist die Lage in Spanien überhaupt mit der in Deutschland vergleichbar?
Florian Rebmann: Nein. Spanien hat schon 2004 sein Gewaltspräventionssystem, das Frauen schützen soll, grundlegend reformiert. Es gibt dort nicht nur die Fußfessel, sondern spezialisierte Polizeibeamt*innen und Staatsanwaltschaften. Es gibt spezialisierte Gerichte, die über alle Rechtsfragen entscheiden, die mit Gewalt an Frauen zu tun haben. All diese Behörden kommunizieren direkt miteinander. In Deutschland gibt es zwar auch seit 2002 das Gewaltschutzgesetz, aber die verschiedenen Maßnahmen greifen nicht so harmonisch ineinander. Jedes Bundesland hat andere Regeln und es ist nicht so, dass nach einer Anzeige bei der Polizei automatisch das Gewaltschutzgesetz aktiviert würde. Spanien hat einen systemischen Ansatz verfolgt; in Deutschland ist es Stückwerk geblieben.
„Viele Opfer rechnen nicht damit, getötet zu werden“
netzpolitik.org: Sie haben anhand eines Samples von 108 Partnerinnentötungen in Deutschland aus dem Jahr 2017 rückblickend untersucht, wie viele davon eine Fußfessel möglicherweise hätte verhindern können. Das war nur bei rund 12 Prozent der Fall. Woran liegt das?
Florian Rebmann: Es gibt sehr unterschiedliche Falltypen von Partnerinnentötungen und nicht auf jede ist die Fußfessel anwendbar. Das gängige Bild ist: schlagender Mann, Frau trennt sich, Mann erträgt das nicht und reagiert mit der Tötung. Diese Fälle gibt es, viele sind jedoch ganz anders gelagert. Alte Paare etwa, wo das Opfer krank ist und der Täter entscheidet, dass es sterben soll. Suizidale Täter, die nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Frau töten. In solchen Fällen beobachten wir vorher meist wenig Gewalt in der Beziehung. Die Opfer rechnen auch nicht damit, getötet zu werden.

netzpolitik.org: Die Fußfessel adressiert also nur bestimmte Hochrisikofälle.
Florian Rebmann: Und nur Fälle, in denen es vorher schon zu Gewalt kam. Selbst unter diesen Betroffenen gibt es sehr viele, die sich nicht an staatliche Stellen wenden. In solchen Fällen können natürlich auch keine präventiven Maßnahmen angeordnet werden. Die Fußfessel kann also nur in den wenigen Fällen helfen, in denen Opfer nach einer vorherigen Gewalttat auch ein Näherungsverbot beantragen und das bewilligt wird.
netzpolitik.org: Das zentrale Problem scheint zu sein, dass viele Betroffene sich nie bei der Polizei melden oder Anzeige erstatten. Warum ist das so?
Florian Rebmann: Wir wissen aus der Forschung, dass es zwischen Opfern und der Polizei, die sie schützen soll, häufig zu Konflikten und Missverständnissen kommt. Weil Opfer von häuslicher Gewalt häufig in akuten Gefährdungssituation die Polizei rufen, sich dann aber umentscheiden, keine Anzeige erstatten wollen oder Anzeigen wieder zurückziehen. Durch dieses Hin uns Her gewinnt die Polizei den Eindruck, die Gewalt sei gar nicht so schlimm oder die Opfer seien unzuverlässig. Für dieses Verhalten gibt es aber sehr nachvollziehbare Gründe, wenn man sich in die Situation der Menschen hineinversetzt. Sie haben Angst, fürchten etwa um das Sorgerecht für gemeinsame Kinder, sie werden von ihrem Partner bedroht oder sind finanziell von ihm abhängig. Opfer glauben, die Polizei kann ihnen nicht helfen oder machen die Erfahrung, dass die Maßnahmen der Polizei nichts an ihrer Situation ändern.
„Wenn man Gewalt gegen Frauen grundlegend angehen wollte, müsste man anders herangehen“
netzpolitik.org: Halten Sie es vor diesem Hintergrund überhaupt für sinnvoll, die elektronische Fußfessel einzuführen?
Florian Rebmann: Es ist ohnehin schon extrem schwierig für die Politik, etwas gegen häusliche Gewalt zu tun. Die geringe Zahl der Fälle, in denen die Fußfessel eine Tötung verhindern könnte, würde aus meiner Sicht also nicht gegen die Einführung sprechen. Man könnte auch sagen: Es gibt nur schlechte Optionen. Wir müssen sie alle umsetzen.
netzpolitik.org: Dann anders gefragt. Sehen Sie die Gefahr, dass die Politik die Wirkung der Fußfessel überschätzt und andere dringend notwendige Maßnahmen aus dem Blick geraten?
Florian Rebmann: Wenn man bei der Fußfessel stehen bliebe und die Spannung abfällt, wäre das ein Problem. Partnerschaftsgewalt hat strukturellen Ursachen. Da geht es um psychische Erkrankungen bei Täter*innen, um finanzielle und soziale Probleme, um Ungleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Wenn man das Problem Gewalt gegen Frauen grundlegend angehen wollte, müsste man ganz anders herangehen: Sozialreformen machen und umfassende Aufklärungskampagnen. Solche Maßnahmen sind schwerer zu kommunizieren und zeigen keine schnelle Wirkung. Sie wären aber wichtiger, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Was also nicht passieren sollte: Fußfesseln einführen und davon ausgehen, damit sei alles gut.
netzpolitik.org: Nach den Plänen der Bundesregierung sollen Familiengerichte nicht nur die Fußfessel anordnen dürfen, sondern auch verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter*innen.
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Florian Rebmann: Das ist ein guter Ansatz. Im Moment kann Täterarbeit erst nach einer Verurteilung angeordnet werden. Der Täter muss schuldig gesprochen werden, vorher spielt das so gut wie keine Rolle. Das Problem: Bei schweren Gewaltverbrechen an Frauen, das konnten wir zeigen, sind die Täter in der Regel vorher noch nicht verurteilt worden. Das Strafrecht kommt also zu spät. Die Hoffnung bei der Reform ist, dass jetzt auch schon Familiengerichte im Eilverfahren Maßnahmen wie Anti-Gewalt-Trainings verordnen können und dass sie früher greifen.
Ich sehe allerdings ein Problem auf uns zukommen: Wenn jetzt mehrere Tausend Menschen in Deutschland diese Weisung bekommen, gibt es dafür kein ausreichendes Angebot. Man müsste also auch die Täterarbeit viel stärker ausbauen und finanziell fördern, sonst können Täter die Auflagen nicht erfüllen.
netzpolitik.org: Die Fußfessel ist ein tiefer Eingriff in die Grundrechte der Überwachten. Ihr Standort wird rund um die Uhr überwacht; das Gerät ist etwa am Strand oder im Fitnessstudio für andere sichtbar. Sehen Sie einen so tiefen Eingriff als gerechtfertigt, ohne dass jemand strafrechtlich verurteilt wurde?
Florian Rebmann: Ich kritisiere an dem Entwurf, dass die Voraussetzungen für eine Anordnung nicht hoch genug sind. Ich hätte erwartet, dass hier eine Einschränkung gemacht wird, was die Schwere der potenziellen Straftat angeht, um die Verhältnismäßigkeit zu wahren.
netzpolitik.org: Laut Entwurf muss die Anordnung „unerlässlich“ sein, um ein Näherungsverbot durchzusetzen und es muss eine Straftat zu befürchten sein, die sich gegen Leben, Leib, persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet.
Florian Rebmann: Diese Maßnahme kann nur dann plausibel begründet werden, wenn wir davon ausgehen, dass Personen in Zukunft gefährlich werden. Über die Täter, die im Eilverfahren vom Familiengericht so eine Anordnung bekommen, wissen wir aber in der Regel sehr wenig. Sie werden nicht begutachtet. Die Gerichte stellen auch keine komplexen Prognosen an. In der Regel vermuten Gerichte aufgrund einer früheren Verletzung, dass Täter nochmal etwas tun werden. Das genügt meiner Meinung nach als prozessuale Absicherung einer so schweren Maßnahme nicht. Wenn man dann im dazu gehörigen Gesetz noch niedrige Voraussetzungen hat, könnte das in der Gesamtschau als nicht verfassungsgemäß eingeschätzt werden. Ich würde deswegen erwarten, dass hier entweder klar geregelt wird, wie die Prognose gestellt werden kann oder die Voraussetzung für die Anordnung von Fußfessseln erhöht werden.
„Nicht nur das Opfer muss sein Leben einschränken“
netzpolitik.org: Wie sicher ist die Technologie hinter den Fußfesseln? Wenn Täter etwa eine Fußfessel mit wenigen Tricks entfernen können oder ein technisches Problem simulieren, dann wäre sie nutzlos.
Florian Rebmann: Täter können sich der Fußfessel entledigen. Das Gerät löst dann einen Alarm aus und die Frage ist, wie schnell die Polizei darauf reagieren kann. Es gibt immer Fälle, in denen elektronisch Gefesselte entwischen und Straftaten begehen. Vollständige Sicherheit bietet sie also nicht, und das sollte man den Betroffenen, die damit geschützt werden sollen, auch vermitteln.
netzpolitik.org: Beim Entfernen der Fußfessel drohen Gefängnisstrafen. Aber wenn ein Täter bereit ist, Gewalt gegen einen Menschen anzuwenden, warum sollte ihn die Strafandrohung beim Entfernen der Fußfessel abschrecken?
Florian Rebmann: Die herkömmliche Fußfessel für Straftäter*innen ist so konzipiert, dass die Strafdrohung verhindern soll, dass der Täter die Fußfessel ablegt. Bei wild entschlossenen zukünftigen Mördern ist es illusorisch, dass das einen Effekt hat. Solche Täter haben schon lange entschieden, dass ihnen egal ist, ob sie ins Gefängnis kommen. Die Fußfessel nach dem spanischen Modell hat aber neben der Abschreckungsfunktion auch die Funktion der Gefahrenabwehr. Die Fessel wirkt also nur, wenn die Polizei in so einem Fall sehr schnell informiert wird und noch in der Gefahrensituation eingreift. Ob das klappen wird, werden wir sehen.
netzpolitik.org: Was weiß man dazu, wie sich die Fußfessel auf die Wahrnehmung der damit geschützten Personen auswirkt? Können Sie dadurch angstfreier leben?
Florian Rebmann: Befragungen haben gezeigt, dass sich die Opfer durch die Überwachung des potentiellen Täters sicherer fühlen. Es führt dazu, dass die verantwortliche Person überwacht wird und die Last trägt – nicht nur das Opfer muss sein Leben einschränken. Da ist also auch eine moralische Komponente dabei. Opfer berichten, dass sie nach Jahren endlich ohne Angst einkaufen gehen oder die Kinder zur Schule bringen können. Die Befragungen zeigen aber auch, dass das stark davon abhängt, wie eng die Opfer von den Behörden begleitet werden. Zum Beispiel, ob sie etwa bei einem Alarm sofort informiert werden, was los war.
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