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Umgang mit psychischen Erkrankungen: Es muss etwas passieren


„Wir können erst etwas tun, wenn etwas passiert ist.“ Das ist ein Satz, den Annette Lindt-Lange häufig gehört hat, als sie bei verschiedenen Stellen Unterstützung gesucht hat. „Und dann ist eben irgendwann ‚etwas passiert‘“, sagt sie am Telefon. Ein psychisch erkrankter Angehöriger von ihr hat eine Straftat begangen und ist im Maßregelvollzug gelandet.

Lindt-Lange ist Sozialpädagogin und engagiert sich im Vorstand des hessischen Landesverbandes der Angehörigen und Freunde von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Dorthin wandte sie sich nach der Unterbringung ihres Familienmitglieds.

„Wir hatten damals schon eine fünf Jahre lange Vorgeschichte hinter uns. Immer wieder Zwangseinweisungen, immer wieder Entlassungen ohne Nachbetreuung“, erzählt sie. Ein klassischer Weg der „Forensifizierung“, sagt Lindt-Lange heute. Damit meint sie: Erkrankte werden immer wieder kurzfristig in psychiatrischen Kliniken untergebracht, eine langfristige, niedrigschwellige Hilfe, die zu ihnen passt und sie stabilisiert, finden sie dabei häufig nicht.

Weil die Betroffenen zudem oft schlechte Erfahrungen mit Zwangshospitalisierungen machen, hält sie das teils davon ab, sich selbst in Behandlung zu begeben. Es kommt zu Behandlungs- und Therapieabbrüchen und einer möglichen Chronifizierung ihrer Erkrankungen – im schlimmsten Fall kann das am Ende zu einer Eskalation führen, bei der sie sich selbst oder anderen schaden.

Eskalation mit Schlagzeilen

Dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung straffällig und insbesondere gewalttätig werden, ist sehr selten. Laut Forschenden wie der kanadischen Sozialepidemiologin Heather Stuart ist der Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und Gewalttaten in der öffentlichen Wahrnehmung überschätzt. „Es ist sehr viel wahrscheinlicher, von einem psychisch gesunden Menschen verletzt zu werden“, schreibt die Bundespsychotherapeutenkammer. Nur bei einigen wenigen Erkrankungen ist das Risiko für eine Gewalttat erhöht, beispielsweise bei Substanzmissbrauch oder in psychotischen Phasen, vor allem wenn die Betroffenen nicht in Behandlung sind.

Kommt es zu entsprechenden Gewalttaten, machen Eskalationen teils bundesweit Schlagzeilen. In den letzten Monaten ist das mehrmals passiert: ein Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Magdeburg, ein Messerangriff in einem Aschaffenburger Park, Brandsätze auf eine Synagoge. In all diesen und weiteren Fällen berichteten Medien nicht nur über die Taten, sondern auch über die psychiatrische Vorgeschichte der Verdächtigen.

Einige waren bereits zuvor aufgefallen, waren teils bereits wegen Straftaten verurteilt worden oder kurz zuvor aus einer psychiatrischen Klinik entlassen worden. In einigen Fällen wurden die Verdächtigen nach ihrer Festnahme nicht in Untersuchungshaft, sondern in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht. So wurden die Taten in der öffentlichen Wahrnehmung mit mutmaßlichen Erkrankungen verknüpft.

Das führte zu Fragen: Wieso konnten die Taten nicht verhindert werden? Hätte nicht auffallen müssen, dass die mutmaßlichen Täter:innen sich in einer psychischen Krise befunden haben? Hätte nicht irgendjemand eingreifen können? Und wie lässt sich so etwas in Zukunft verhindern?

Schnelle Antworten auf komplexe Probleme

Vermeintlich schnelle Antworten auf diese komplexen Probleme hatten nach den Ereignissen vor allem Politiker:innen parat: CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte im Januar ein Register für „psychisch kranke Gewalttäter“, verpflichtende Meldungen psychisch kranker „Gefährder“ wollte Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD). Seitdem diskutiert die Innenministerkonferenz über einen intensiveren Datenaustausch zu erkrankten Personen zwischen Gesundheits-, Sicherheits-, Justiz- und Ausländerbehörden sowie ein „integriertes Risikomanagement“.

„Menschen mit psychischer Erkrankung sind viel häufiger Opfer von Gewalttaten, als dass sie Täter werden“, sagt Andreas Jung. Er ärgert sich über solche Diskussionen. Jung war in der Vergangenheit selbst mehrmals wegen einer psychischen Erkrankung in einer Klinik. Heute setzt er sich für die Interessen von Psychiatriebetroffenen ein, als Mitglied im Psychiatriebeirat Hessen, als zertifizierter Genesungsbegleiter und Mitarbeiter der unabhängigen Marburger Psychiatrie-Beschwerdestelle.

Den Einwand von Jung bestätigen mehrere Datenerhebungen. Eine Befragung aus Großbritannien unter Menschen in psychiatrischer Behandlung etwa kam zu dem Ergebnis, dass schwer psychisch erkrankte Frauen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe einem vier Mal so hohen Risiko ausgesetzt sind, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden. Bei einer anderen Auswertung zeigte sich, dass sich Opfer von Tötungsdelikten überdurchschnittlich oft vorher in psychiatrischer Behandlung befunden hatten.

Ein falscher Eindruck

Über diese Missstände gibt es kaum Berichte und noch weniger öffentliche Diskussionen. Das ist ein Problem. In einem Leserbrief, den die unabhängige Beschwerdestelle Psychiatrie in Marburg im Juni an hessische Medien richtete, heißt es: Durch die Berichterstattung über vermutete oder gesicherte psychische Erkrankungen von Täter:innen werde „der Eindruck erweckt, dass von Menschen mit einer psychischen Erkankung eine besondere Gefahr ausgehe“. Das kritisiert die Beschwerdestelle. Wenn medial immer wieder ein Zusammenhang zwischen Taten und psychischer Verfassung hergestellt werde, könne das zu einer „feindseligen Stimmung“ gegenüber kranken Personen führen.

Wozu die Diskussionen über vermeintliche Gefahren noch führen: Es wirkt, als sei die psychische Verfassung von Menschen vor allem ein Thema für die Sicherheitspolitik geworden. Und so bekommen Forderungen nach Datenaustausch und „Risikomanagement“ mehr Aufmerksamkeit als Kritik an der psychosozialen Versorgung für Betroffene.

Hessen, wo sowohl Andreas Jung als auch Annette Lindt-Lange wohnen, ist dabei besonders aktiv. Seit Beginn des Jahres arbeitet dort eine Taskforce des Landeskriminalamts daran, 1.600 psychisch erkrankte Personen, die in einer Polizeidatenbank entsprechend markiert sind, zu überprüfen und das mit ihnen verbundene Risiko zu bewerten. „Psychisch Auffällige / Vielschreiber / Gewalttäter“ ist der Name der Arbeitsgruppe.

Nach einem Gesetzentwurf von CDU und SPD sollen künftig außerdem Polizei und Ordnungsamt informiert werden, wenn eine unfreiwillig hospitalisierte Person aus einer Psychiatrie entlassen wird und Ärzte ohne medizinische Betreuung eine Fremdgefährung fürchten.

Andreas Jung ist sich sicher, dass dies zu einer Verschlechterung für hilfesuchende Menschen führen würde. „Solche Regelungen haben schwere Folgen für das Vertrauensverhältnis vom Patienten zum Arzt“, sagt er. „Das stört die Behandlung, baut Barrieren auf und macht es noch schwieriger, Hilfe zu suchen.“

Wie es sich anfühlt, wenn solche Barrieren entstehen, hat Volker Scherer erlebt. Er ist psychiatrieerfahren und war das letzte Mal vor anderthalb Jahren freiwillig für einige Tage in einer Klinik. Scherer erlebt immer wieder technische Einmischungen und erzählt im Gespräch, dass er mit Schalltriggern angegriffen werde. „Eine Kombination von Kriminalität und Überwachung“, sagt er. Er selbst schreibe wegen deswegen viele Briefe an Behörden und frage sich, ob er nun auch als „Vielschreiber“ gilt. „Da werden nur die Menschen als Problem gesehen und gar keine äußeren Umstände betrachtet.“

Bei seinem letzten Klinikaufenthalt habe er eine rechtliche Betreuung „reingeknallt bekommen“, sagt Scherer. Eine solche Betreuung soll je nach Einzelfall dabei unterstützen, beispielsweise Behördendinge und Wohnungsangelegenheiten zu regeln. Ganz unzufrieden war Scherer am Ende damit nicht, es habe ihm „etwas geholfen“, sagt er. Später wurde die Betreuung auf seinen Antrag hin wieder aufgehoben.

Eine psychosoziale Unterstützung wurde ihm zwar auch angeboten, aber „da ging das Vertrauen wieder verloren“. „Man war nicht bereit, dort meine Probleme und die Schalleinmischungen ernst zu nehmen“, sagt er.

Unklare Kriterien

Der Genesungsbegleiter Andreas Jung sieht noch ein Problem für das Vertrauensverhältnis: „Die Kriterien für die Meldungen, die in Hessen künftig gemacht werden sollen, sind völlig unklar.“ Und warum sollte eine Person überhaupt aus einer Klinik entlassen werden, wenn ein Arzt davon ausgeht, dass sie noch selbst- oder fremdgefährend sein könnte? „Wenn ein untergebrachter Patient nicht kooperativ und einsichtig ist, wird in der Regel sowieso der Beschluss zu seiner Unterbringung verlängert“; wirft Jung ein.

Manche Ärzte würden künftig vielleicht kaum etwas melden, weil sie das Vertrauen ihrer Patient:innen nicht gefährden wollen. Andere wiederum könnten die Behörden über sehr viele Entlassene informieren – um auf Nummer sicher zu gehen. Das zumindest vermutet Constantin von Gatterburg. Er hat viele Jahre beim sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes im hessischen Kreis Bergstraße gearbeitet. Nun ist er im Ruhestand, engagiert sich aber weiterhin unter anderem als Sprecher der hessischen Landesarbeitsgemeinschaft der Gesellschaft für Soziale Psychiatrie.

„Psychiatrie ist zu wesentlichen Teilen Beziehungsarbeit, Vertrauen ist zentral für die Genesung“, sagt von Gatterburg. „Das steht für den Arzt im Vordergrund, nicht, dass er noch mehr sicherheitsrechtliche Aufgaben übernimmt.“ Von Gatterburg hat zwar nicht prinzipiell etwas dagegen, dass sich verschiedene Institutionen über erkrankte Personen austauschen. Ihm ist aber wichtig: „Das muss unter dem Aspekt der Hilfe passieren und nicht für eine Gefährdungsanalyse.“

Denn klar ist: Um Erkrankte bei einer Genesung und Stabilisierung zu unterstützen und das Risiko zu verringern, dass sie sich oder anderen Schaden zufügen, braucht es vor allem passende Behandlungsangebote und Prävention. Doch daran fehlt es überall.

Es fehlt an allen Stellen

Wenn man beispielsweise Annette Lindt-Lange fragt, was Betroffenen und Angehörigen helfen würde, fallen der Angehörigen einer Person im Maßregelvollzug schnell viele Dinge ein: flächendeckende, aufsuchende Krisendienste zum Beispiel. Die könnten Erkrankte zu Hause besuchen und sie in ihrem eigenen Umfeld unterstützen.

Es fehlten auch mehr Angebote für betreutes Wohnen, sagt sie. Therapien seien mit hohen Wartezeiten verbunden. Sich einen Platz zu suchen, erfordert viel Eigenmotivation von den Erkrankten. Problematisch sei auch, was nach Aufenthalten in einer Psychiatrie passiert. Der Übergang führe oft zu Problemen. „Manche Menschen werden in die Obdachlosigkeit entlassen“, sagt Lindt-Lange. „Nach ihrer Klinikzeit haben sie dann gar keinen Halt mehr.“

Das kann Andreas Jung bestätigen: „Das Entlassmanagement funktioniert überhaupt nicht. Oft ist unklar, was nach dem Klinikaufenthalt passiert, Menschen warten monatelang auf einen ambulanten Therapieplatz.“ Das führe, so Jung, vielerorts zu einer „Drehtürpsychiatrie“, bei der Klinikaufenthalte sich mit Entlassungen abwechseln.

Die eine passende Lösung für alle Betroffenen gibt es aber nicht. „Die Betreuung nach der Klinik muss zu der jeweiligen Person passen“, sagt von Gatterburg. Manche bräuchten eine Tagesbetreuung, andere würden von aufsuchenden Hilfen profitieren.

Woran scheitern psychosoziale Angebote?

Ein Problem beobachtete er in seiner Arbeit immer wieder: „Krisen passieren oft in Zeiten, wo die klassischen Dienstleister und Angebote nicht aktiv sind.“ Um beispielsweise rund um die Uhr erreichbare Krisendienste einzurichten, müsste es aber erst eine gesicherte Finanzierung geben.

Der psychiatrische Notdienst in Darmstadt beispielsweise, der an Wochenenden und Feiertagen abends erreichbar ist, wird zwar finanziell von Stadt und Landkreis unterstützt, ist aber darüber hinaus auf Spenden angewiesen. Und nicht überall gibt es überhaupt flächendeckende Akutangebote. Ein wenig besser ist die Situation beispielsweise in Bayern, wo es ein Netzwerk an Krisendiensten gibt, das 24 Stunden am Tag telefonisch erreichbar ist.

Scheitert so etwas in Ländern wie Hessen am verfügbaren Budget? Annette Lindt-Lange vermutet, dass es daran eigentlich nicht liegen könne. Denn wenn es im schlimmsten Fall zu einer Eskalation kommt, ist das zum einen zuallererst tragisch und schockierend für alle Betroffenen. Aber eben auch sehr kostspielig. „Die Unterbringung im Maßregelvollzug ist extrem teuer“, sagt Lindt-Lange. Mehr als 300 Euro pro Tag zahlt das Land Hessen für eine untergebrachte Person, die Einrichtungen sind überbelegt. „Prävention ist immer günstiger“, so die Angehörige.

Dafür bräuchte es ihrer Meinung nach eine Strategie und Prioritätensetzung aus der hessischen Landesregierung. Doch auf die wartet sie vergeblich. Stattdessen diskutieren vor allem Innenministerien und Sicherheitsbehörden über den Umgang mit psychisch erkrankten Straffälligen. „Dabei sollte das etwas sein, womit sich vor allem die Sozial- und Gesundheitsministerien beschäftigen“, wünscht Lindt-Lange sich. Damit etwas passiert. Aber diesmal etwas, was Betroffenen hilft und Eskalationen vorbeugen kann.



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GravityForms: WordPress-Plug-in in Supply-Chain-Attacke infiziert


Auf der offiziellen Webseite des Plug-ins GravityForms für das Content-Management-System WordPress haben bösartige Akteure infizierte Fassungen zum Download eingestellt. Die manipulierte Version des mehr als eine Million Mal installierten Plug-ins enthält eine Hintertür, die den Angreifern vollständiges Kompromittieren der WordPress-Instanz ermöglicht.

Laut der IT-Forscher von Patchstack hat der Entdecker des mit Malware versehenen Plug-ins am vergangenen Freitag GravityForms von der offiziellen Webseite „gravityforms.com“ heruntergeladen. Das hat jedoch HTTP-Anfragen an die verdächtige Domain gravityapi.com gestellt, die erst am Dienstag vergangener Woche erstellt wurde. Die Anfrage an diese Domain war so langsam, dass die Monitoring-Systeme des Entdeckers darauf ansprangen.

Die Analysten haben einige größere Webhoster kontaktiert und sie nach den Indizien für einen Befall (Indicators of Compromise, IOCs) suchen lassen. Dabei stellte sich heraus, dass die Infektion nicht weit verbreitet ist; das mit Backdoor versehene Plug-in war offenbar nur kurze Zeit verfügbar und wurde nur von wenigen Opfern heruntergeladen. Patchstack hat bei der Untersuchung herausgefunden, dass auch Groundhog von der Supply-Chain-Attacke betroffen ist. Inwiefern es sich in diesem Kontext um Supply-Chain-Angriffe handelt, erörtert Patchstack nicht genauer.

Die Hintertür im GravityForms-Plug-in hat den Angreifern einige Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Sie konnten etwa neue Konten mit Administratorrolle anlegen, beliebige Dateien auf den Server hochladen oder Nutzerkonten löschen. Am Samstag hat Patchstack Backdoor-Aktivitäten beobachtet, bei denen die Angreifer einen verschlüsselten Aufruf an den gf_api_token-Parameter geschickt haben.

Die Programmierer des Plug-ins von RocketGenius hat der Entdecker der manipulierten Version ebenfalls kontaktiert. Von dort hat er etwas später Rückmeldung erhalten: Infiziert war die Version 2.9.12 des Plug-ins. Das Plug-in wurde durch eine saubere Variante ersetzt, zunächst ohne die Versionsnummer anzuheben. Das haben die Entwickler dann im Laufe des Freitags nachgeholt und Version 2.9.13 hochgeladen. Die Domain gravityapi.org hat der Domainregistrar Namecheap stillgelegt.

Vergangene Woche wurde eine Schwachstelle im WordPress-Plug-in SureForms bekannt. Angreifer können durch die Schwachstelle in dem auf mehr als 200.000 Webseiten genutzten Plug-ins die WordPress-Instanz ebenfalls vollständig kompromittieren.


(dmk)



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Tech-Ideologien und der neue Faschismus


Dieser Auszug stammt aus dem Buch Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus von Rainer Mühlhoff, mit freundlicher Genehmigung vom Verlag Reclam und vom Autor. Rainer Mühlhoff wurde in Philosophie promoviert und arbeitet als Professor für Ethik der Künstlichen Intelligenz an der Universität Osnabrück. Sein Sachbuch über digitalen Faschismus erscheint am 16. Juli 2025. An diesem Tag diskutiert der Autor sein Buch mit Lisa Steigertahl, Philipp Ehmann und Constanze Kurz in der Urania in Berlin.


Die Ideologien hinter dem KI-Hype

Populäre KI-Narrative beruhen auf drei Grundelementen, nämlich auf der Anthropomorphisierung von KI-Systemen, affektiv überzeichneten Zukunftserwartungen (utopisch wie apokalyptisch) und kurzfristigen technologischen Lösungsversprechen für gesellschaftliche Probleme (Solutionismus). Diese Vorstellungen weichen oft deutlich vom tatsächlichen Entwicklungsstand der KI-Technik ab.

Doch was steht hinter dieser Hype-Dynamik, die das Potential von KI-Technologie dermaßen übertreibt? Gehen Politik und Öffentlichkeit einfach nur den wirtschaftlichen Interessen der KI-Industrie auf den Leim?

Es wird sich im Folgenden zeigen, dass das so einfach nicht ist. Zwar hat der KI-Hype sehr viel mit wirtschaftlichen Interessen zu tun, doch greift die imaginäre Überhöhung von KI auf länger bestehende intellektuelle Strömungen zurück, die in wissenschaftlichen und industriellen Milieus tief verankert sind und die man unter dem Oberbegriff Tech-Ideologien zusammenfassen könnte. Dazu zählen der technologische Determinismus in seinen verschiedenen Spielarten, Transhumanismus und bestimmte futuristische Auslegungen der utilitaristischen Ethik – insbesondere der Longtermismus. Indem sie als Ideologien bezeichnet werden, soll herausgestellt werden, wie in diesen Weltanschauungen die gegenseitige Befruchtung industrieller Interessen und öffentlicher Vorstellungen von KI als quasi natürliche Wahrheit aufscheint.

Rainer Mühlhoffs Buchcover von Reclam
„Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus“ von Rainer Mühlhoff.

Technologischer Determinismus und Techno-Optimismus

Alle Tech-Ideologien, die nachfolgend vorgestellt werden, stehen zunächst im Zusammenhang mit der aggressiven Innovationskultur, die besonders im Silicon Valley vorzufinden ist. Diese Kultur ist eng mit einem unternehmerischen Risikokapitalismus verknüpft, der privatwirtschaftlich vorangetriebene technologische „Disruption“ als Triebkraft gesellschaftlichen Fortschritts versteht. Zugleich wird sie von einer libertären Ideologie geprägt, die staatliche Regulierung als Hemmnis für Innovation ansieht und der wirtschaftlichen – wie auch der sozialen – Auslesefunktion des Marktes eine fast uneingeschränkte Steuerungsfunktion zuschreibt. Hinzu kommt die enge Verzahnung von akademischer Forschung mit privatwirtschaftlicher Technologieentwicklung, durch die wirtschaftliche Interessen und unternehmerische Denkweisen den wissenschaftlichen Diskurs erheblich prägen. In diesem Umfeld werden technophile Gesellschaftsutopien besonders gefördert und weitergetragen.

Die Auffassung, dass technologische Entwicklung eine autonome Kraft darstellt, die gesellschaftliche Strukturen, Wohlstand und Fortschritt maßgeblich und zwangsläufig bestimmen, wird häufig als technologischer Determinismus bezeichnet. Ein prominenter Vertreter dieser Sichtweise ist der OpenAI-CEO Sam Altman, der 2015 auf einer Tech-Konferenz ausführte, „I think that AI will probably, most likely, lead to the end of the world. But in the meantime, there will be great companies“. In einem Blog-Post von 2021 erklärte er, dass die KI-Revolution „unstoppable“ sei und „phenomenal wealth“ erzeugen werde. Der technologische Determinismus kombiniert häufig eine vermeintlich deskriptive Theorie vom unaufhaltsamen Fortschritt mit einem geradezu verzückten Optimismus und messianischen Heilsversprechungen.

Einige einflussreiche Akteure legen diese Grundstruktur des technologischen Determinismus nicht nur deskriptiv, sondern unmittelbar normativ aus und inszenieren sich selbst als Propheten dieser Botschaft, so etwa der Silicon-Valley-Investmenbanker Marc Andreessen mit seinem einflussreichen Techno-Optimist Manifesto aus dem Jahr 2023. Darin heißt es:

Our civilization was built on technology. Our civilization is built on technology. Technology is the glory of human ambition and achievement, the spearhead of progress, and the realization of our potential. For hundreds of years, we properly glorified this – until recently. I am here to bring the good news. We can advance to a far superior way of living, and of being.

Die Techno-Optimisten im Silicon Valley vertreten offensiv die Überzeugung, dass technologischer Fortschritt nicht nur unausweichlich, sondern von Natur aus wünschenswert und moralisch geboten sei – dass er jedoch aktuell durch liberale und nachhaltigkeitsorientierte Politik behindert werde. Sie lehnen regulatorische Eingriffe als innovationsfeindlich ab und propagieren eine Weltanschauung, in der technologische „Disruption“ die Quelle für Wohlstand, gesellschaftlichen Fortschritt und eine paradiesische Zukunft ist.

Kunst und Kultur

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Eine notorische Leerstelle dieser Denkweisen bildet die Auseinandersetzung mit Fragen der gesellschaftlichen Verteilung von Macht und Ressourcen oder der schon jetzt sichtbaren sozialen und ökologischen Schäden, die durch KI-Technologie verursacht werden. Auch wird die Tatsache ausgeblendet, dass von den techno-deterministischen und -optimistischen Narrativen vor allem die KI-Industrie selbst profitiert. Zugleich sind diese Narrative so konstruiert, dass sich die Protagonisten der Frage nach der gerechten Teilhabe der Gesamtgesellschaft am durch sie akkumulierten Wohlstand entziehen können. Ein zentraler Aspekt der Ideologieförmigkeit dieses Weltbildes besteht darin, dass diese Punkte systematisch verdunkelt werden.

Transhumanismus und seine Unterströmungen

In einem einflussreichen kritischen Artikel aus dem Jahr 2024 führen die Informatikerin, KI-Ethikerin und ehemalige Google-Mitarbeiterin Timnit Gebru sowie die US-amerikanische Philosophin Émile Torres das Akronym TESCREAL ein, um damit ein „Bündel“ aus miteinander verwobenen und sich überlappenden Ideologien und Lehren zu bezeichnen, die in bestimmten technologischen und wissenschaftlichen Kreisen, insbesondere im Silicon Valley, verbreitet sind.

Die Abkürzung TESCREAL steht für „Transhumanism, Extropianism, Singularitarianism, Cosmism, Rationalism, Effective Altruism, and Longtermism“. Obwohl es sich um keine geschlossene Ideologie handelt, sondern um eine lose Verknüpfung von teils jahrzehntealten, teils sehr neuen Ideen, argumentieren Gebru und Torres, dass diese weltanschaulichen Lehren maßgeblich die Narrative großer Technologieunternehmen, einflussreicher Investor:innen und Vordenker:innen in der KI-Forschung prägen. Als Ideologien vermitteln sie eine ontologische und ethische Orientierung, die Zukunftstechnologien wie KI, Nanotechnologie und Gentechnologie nicht nur als unumgänglich, sondern als moralisch wünschenswert und notwendig für das langfristige Überleben der Menschheit positioniert. Zudem dienen sie als ideologische Rechtfertigung für die technologischen und geopolitischen Strategien zahlreicher Unternehmen und Akteure in diesem Feld. Es zeigt sich, dass einige dieser Weltanschauungen direkte Fortführungen von Eugenik und Rassentheorie des 20. Jahrhunderts darstellen.

Der Transhumanismus bildet eine der zentralen ideologischen Wurzeln der TESCREAL-Ideologien. Seine Ursprünge reichen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. Er basiert auf der Überzeugung, dass der Mensch durch den gezielten Einsatz von Technologie seine physischen, psychischen und intellektuellen Grenzen überwinden, in einer hybriden biologisch-technologischen Existenzform aufgehen und dabei ein gesteigertes Dasein erreichen könne, das insbesondere Krankheiten und die Sterblichkeit überwinden wird. Der Begriff Transhumanismus geht auf einen Essay aus dem Jahr 1957 des britischen Eugenikers und Evolutionsbiologen Julian Huxley, der außerdem der erste Direktor der UNESCO und Präsident der britischen Eugenik-Gesellschaft war, zurück. Dort beschreibt dieser die Idee des Transhumanismus als einen Prozess, durch den »die menschliche Spezies als Ganzes, als Menschheit« sich selbst überwindet. Dieses Hinauswachsen über sich selbst wird einerseits als eine evolutionäre Entwicklung begriffen, die im Sinne des technologischen Determinismus unaufhaltbar ist. Andererseits schreibt der Transhumanismus in seinen verschiedenen Unterströmungen den Menschen als Entwickler:innen von Technologie in unterschiedlichem Sinne aktive und mitgestaltende Rollen bei diesem Prozess zu (entsprechend leitet etwa der britische Futurist Max More in den 1990er Jahren als den moralischen Imperativ des Transhumanismus eine Verpflichtung der Menschheit zum Fortschritt ab). Ein solcher charakteristischer Umschlagspunkt von einer Beschreibung zu einem normativen und politischen Programm ließ sich bereits beim Techno-Optimistischen Manifest erkennen.

Rainer Mühlhoff
Sachbuchautor Rainer Mühlhoff. Foto: Felix Noak.

Als Unterströmungen des Transhumanismus haben sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts einerseits unmittelbar nützliche Projekte ergeben, wie zum Beispiel die Entwicklung von Prothesen zur Funktionserweiterung oder Funktionserhaltung des menschlichen Körpers sowie Projekte der Nanotechnologie und des Bioengineerings, etwa in der regenerativen Medizin. Andererseits propagiert der Transhumanismus deutlich skurrile Tendenzen, die sich etwa der Entwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellen widmen, mit denen der menschliche Geist oder seine Bewusstseinsinhalte digital „ausgelesen“ und „in eine Cloud hochgeladen werden“ soll (diesem Ziel hat sich etwa das Unternehmen Neuralink von Elon Musk verschrieben).

Ein zentraler Akteur in der zeitgenössischen transhumanistischen Bewegung ist der schwedische Philosoph Nick Bostrom, der mit seinen Arbeiten zu künstlicher Superintelligenz, zu „existential risk“ und „human enhancement ethics“ weit über akademische Kreise hinaus wahrgenommen wird. Bostrom gründete 1998 zusammen mit David Pearce die transhumanistische Denkfabrik World Transhumanist Association (heute: Humanity+) und leitete bis zu seiner Auflösung im April 2024 das Future of Humanity Institute an der Universität Oxford, das durch finanzielle Unterstützung aus dem Silicon Valley und von Tech-Milliardären wie Elon Musk und Peter Thiel gefördert wurde. In seinem Buch Superintelligence: Paths, Dangers, Strategies (2014) vertritt Bostrom die These, dass die Entwicklung einer künstlichen Superintelligenz entweder den ultimativen Fortschritt zu einer neuen Stufe der Menschheit bedeuten oder zu ihrer vollständigen Auslöschung führen würde – eine oben bereits diskutierte utopisch-apokalyptische Überzeichnung, die für das zeitgenössische transhumanistische Denken typisch ist und von dort in den populären KI-Diskurs übertragen wurde.


Rainer Mühlhoff widmet sich auch den weiteren Ideologien hinter dem KI-Hype: dem Extropianismus und Singularitarianismus, der Eugenik 2.0, den Rationalisten und ihrer existenzial-futuristischen Ethik, dem Effektiven Altruismus, dem Longtermismus und der Säkularen Eschatologie. Nachzulesen in seinem Reclam-Buch: Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus.



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Gigabyte: CERT warnt vor UEFI-Sicherheitslücke von Mainboards


In der UEFI-Firmware zahlreicher Gigabyte-Mainboards klaffen Sicherheitslücken, durch die Angreifer ihre Rechte im System sehr weitreichend ausweiten können. Gigabyte stellt für zahlreiche Mainboards BIOS-Updates bereit, die die Lücken schließen.

Davor warnt aktuell das CERT. Die Schwachstellen betreffen den Systemverwaltungsmodus (System Management Mode, SMM). „Angreifer könnten eine oder mehrere dieser Schwachstellen ausnutzen, um ihre Privilegien zu erhöhen und beliebigen Code in der SMM-Umgebung eines UEFI-unterstützten Prozessors auszuführen“, fasst das CERT die Sicherheitslücken zusammen. Der BIOS-Hersteller AMI hat gegenüber dem CERT angedeutet, dass das Unternehmen die Schwachstellen bereits früher nach vertraulichen Meldungen ausgebessert hat, sie nun jedoch in der Gigabyte-Firmware wieder aufgetaucht seien und jetzt öffentlich bekannt gemacht wurden.

UEFI kann direkt mit der Hardware im System Management Mode interagieren, einem hoch-privilegiertem CPU-Modus, der für grundlegende Betriebssystemoperationen gedacht ist – er wird auch als Ring „-2“ bezeichnet innerhalb der CPU-Privilegienstufen. Befehle dieser Privilegienstufe laufen in einem geschützten Speicherbereich ab, dem System Management RAM (SMRAM) und sind lediglich durch System Management Interrupts (SMI) erreichbar, erörtert das CERT. Die SMI-Handler dienen als Zugang zum SMM und verarbeiten übergebene Daten über bestimmte Kommunikationspuffer. Unzureichende Prüfung dieser Puffer oder nicht vertrauenswürdige Pointer aus Prozessor-Status-Registern können zu „ernsthaften Sicherheitsrisiken“ führen, einschließlich SMRAM-Manipulationen und nicht autorisierter SMM-Ausführung, erklärt das CERT weiter. Angreifer können die SMI-Handler missbrauchen, um beliebigen Code früh im Bootvorgang, in Wiederherstellungsmodi oder bevor das Betriebssystem vollständig geladen ist auszuführen.

In den einzelnen Sicherheitsmitteilungen findet sich der Hinweis der IT-Sicherheitsforscher, dass Code an dieser Stelle auch SMM-basierte Schutzmechanismen des SPI-Flash-Speichers gegen Modifikationen oder Secure-Boot sowie einige Hypervisor-basierte Varianten der Speicherisolierung umgehen kann. Derart eingeschleuster Code übersteht selbst Betriebssystem-Neuinstallationen. Insgesamt vier Sicherheitslücken hat Binarly nun entdeckt und gemeldet.

Einmal die ungeprüfte Nutzung des RBX-Registers, die in SMRAM-Schreibzugriffen mündet (CVE-2025-7029 / EUVD-2025-21142, CVSS 8.2, Risiko „hoch„). Fehlende Prüfung von Funktionszeiger-Strukturen, die aus RBX und RCX abgeleitet werden, ermöglichen Angreifern kritische Flash-Operationen wie ReadFlash, WriteFlash, EraseFlash und GetFlashInfo (CVE-2025-7028 / EUVD-2025-21138, CVSS 8.2, Risiko „hoch„). Zudem ermöglicht eine Kombination aus einer doppelten Pointer-Dereferenzierung, die einen Speicherort für Schreiboperationen aus der ungeprüften NVRAM-Variablen SetupXtuBufferAddress einbezieht sowie das Schreiben von Inhalten aus Speicherbereichen, auf die ein von Angreifern kontrollierbarer Zeiger aus dem RBX-Register verweist, das Schreiben beliebiger Inhalte in den SMRAM (CVE-2025-7027 / EUVD-2025-21141, CVSS 8.2, Risiko „hoch„). Außerdem kommt das von Angreifern kontrollierbare RBX-Register als ungeprüfter Zeiger in der CommandRcx0-Funktion zum Einsatz und ermöglicht damit Schreibzugriffe auf von Angreifern spezifizierbare Bereiche im SMRAM (CVE-2025-7026 / EUVD-2025-21137, CVSS 8.2, Risiko „hoch„).

Die Binarly-Sicherheitsmitteilungen enthalten eine Liste von mindestens 80 betroffenen Gigabyte-Mainboards, teils auch älteren. Eine stichprobenartige Prüfung zeigt, dass Gigabyte offenbar zahlreiche BIOS-Updates im Juni veröffentlicht hat, die die Schwachstellen ausbessern.

In der vergangenen Woche wurden Probleme mit AMDs Firmware-TPM (fTPM) bekannt, für das AMD bereits seit Jahren Korrekturen bereitstellt. Allerdings liefern diverse Hersteller diese Korrekturen nicht mit aktualisierten BIOS-Versionen aus.


(dmk)



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