Datenschutz & Sicherheit
„Weil es der Staat nicht gebacken bekommt“
Der gemeinnützige Verein „Computertruhe“ arbeitet seit einem Jahrzehnt daran, gebrauchte Rechner wieder herzurichten und an bedürftige Menschen weiterzugeben. Dieses Jahr wurden bereits 960 Computer aufbereitet und ausgegeben. Es gibt mittlerweile Ableger in elf Städten und Regionen, wo sich die Mitglieder ehrenamtlich engagieren.
Der Verein hat Ende Juni seine Mitgliederversammlung veranstaltet und dabei seine lebendige Demokratie- und Transparenzkultur gezeigt. Wir sprechen mit Annette Linder, Physiotherapeutin und Beisitzerin im Vorstandsteam, und Marco Rosenthal, Informatiker und Vereinsvorsitzender. Sie sind beide seit der Gründung durchgehend im Vorstandsteam der „Computertruhe“ aktiv. Sie geben uns Einblicke in die Organisationsstruktur und Arbeitsweise des Vereins und erklären vor allem, wie man mitmachen kann.
In geordnete Bahnen leiten
netzpolitik.org: Liebe Annette, lieber Marco, ihr seid Vertreter des Vorstandsteams des Vereins Computertruhe. Erzählt mal: Wie kam es dazu?

Annette Linder: Eigentlich ging es schon 2015 los, hier bei uns im Breisgau. Es gab damals viele Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind. Da stellten wir uns im Freundeskreis die Frage, wie wir unterstützen können. Wir sind alle berufstätig, haben zum Teil Familie, da fallen manche Dinge weg. Aber wir haben uns gesagt: Wir können technisch ganz gut mit Computern umgehen, damit können wir doch helfen.
Dann haben wir uns einem lokalen Netzwerk für Flüchtlinge in einer kleinen Stadt in der Nähe von Freiburg angeschlossen. Irgendwann stand in den lokalen Infobroschüren für Geflüchtete und Helferkreise dann für Computerprobleme immer der Name Marco Rosenthal mit seinen privaten Kontaktdaten. Da haben wir gemerkt: Das muss in geordnete Bahnen geleitet werden.
Zu dieser Zeit waren wir als Elzpiraten lokal bei der Piratenpartei aktiv. Zusammen haben wir uns überlegt, welche Struktur wir bräuchten, und angefangen, uns ein Logo und einen Namen zurechtzulegen.
Ein Jahr später, im Juni 2016, haben wir unseren Verein gegründet.
netzpolitik.org: Wie viele Menschen wart ihr bei der Gründung?
Annette Linder: Wir waren um die zwanzig Menschen. Aktuell haben wir 166 Mitglieder, aber sie sind nicht alle aktiv. Einige unterstützen uns einfach ideell mit regelmäßigen Beiträgen.
netzpolitik.org: Ihr seid beide aus dem Breisgau, da habt ihr den Verein auch gegründet. Jetzt seid ihr auch in größeren Städten und anderen Regionen aktiv, etwa Berlin, Chemnitz, Lemgo oder München. Was war anfangs der Kern eurer Aktivitäten?
Marco Rosenthal: Anfänglich waren wir Teil des Netzwerks für Geflüchtete und haben dort unsere Expertise angeboten. Wir wollten ursprünglich das Flüchtlingsnetzwerk mit technischer Infrastruktur wie einer Mailingliste oder Website unterstützen. Dann haben wir herausgefunden, dass die Flüchtenden auch andere Hilfe brauchen, beispielsweise für den DSL-Anschluss. Und den Leuten fehlten Endgeräte. Da kam die Idee mit den Computern und Smartphones auf.
Interviews
Wir kommen gern ins Gespräch. Unterstütze unsere Arbeit!
netzpolitik.org: Jetzt beschränkt ihr euch aber auf die Hardware?
Marco Rosenthal: Hardware ist jetzt der Kern, das steht auch in der Vereinssatzung als Hauptzweck. Es geht also um Bereitstellung von Hardware für diejenigen Leute, die bedürftig sind, oder für gemeinnützige Institutionen. Wir haben damals schon gesehen: Der Bedarf an Geräten war riesig, es gab viele Leute, die sich leider so ein Gerät nicht leisten können.
Es engagierten sich dann auch Menschen in Lemgo und ab 2019 in Berlin. Und dann kam die Pandemie. Wir mussten dezentral werden, haben von heute auf morgen unsere Vorstandssitzungen und unsere monatlichen Treffen direkt ab März 2020 online abgehalten.
netzpolitik.org: Ihr kommt also aus der Piratenpartei-Ecke, die damals, als ihr euch gegründet habt, noch in mehreren Parlamenten saß. Ihr habt aber auch das Mindset der Hacker- und Open-Source-Community. Ihr versucht beispielsweise, Software-Produkte zu nutzen, die frei und quelloffen. Stimmt das?
Annette Linder: Ja, wir versuchen, einfach auf offene Software und Plattformen und auf offene Dateiformate zu setzen. Wir hatten ganz am Anfang auch ein Twitter-Konto. Als dann Twitter unerträglich wurde, haben wir uns dort verabschiedet. Wir wehren uns bislang erfolgreich, andere Plattformen wie Instagram oder TikTok zu nutzen, das möchten wir aus Prinzip nicht. Da hätten wir vielleicht eine größere Reichweite, aber die möchten wir um diesen Preis nicht. Wir nutzen intern viel freie Software wie Linux. Ich selbst nutze gar keine Microsoft-Produkte. Dann war einfach klar, wir werden nicht auf Vereinskosten Lizenzen kaufen und Rechner mit Microsoft aufsetzen, also mit Software, die wir nicht möchten. Das hat sich aus Überzeugung so entwickelt.

Spaß daran, was Gutes zu tun
netzpolitik.org: Ist es auch ein Vereinsziel, immer größer zu werden und irgendwann in der ganzen Bundesrepublik präsent zu sein?
Annette Linder: Wenn wir beispielsweise auf eine Veranstaltung gehen, dann werben wir schon um neue Mitglieder, vielleicht sprechen wir auch über einen neuen Standort. Aber wir möchten, dass beispielsweise Neumitglieder uns in Ruhe kennenlernen und dann einschätzen können, ob das funktionieren kann. Wir trachten aber nicht danach, etwa pro Jahr fünf neue Standorte zu haben. Denn wir wollen die Leute nicht enttäuschen. Das heißt: Wir setzen lieber auf kleines Wachstum und auf Kontinuität. Es ist uns sehr wichtig, dass sich Spenderinnen und Empfängerinnen auf uns verlassen können.
Marco Rosenthal: Wir hatten während der Pandemie das Problem, dass die Anfragen irgendwann überhandgenommen haben. Denn zu dieser Zeit nahmen wir noch bundesweit Anfragen an. Wir wollen heute so wachsen, wie es allen Engagierten reinpasst. Wir möchten auch, dass Mitglieder Spaß haben an der ganzen Aktion und daran, was Gutes zu tun. Sie sollen sich nicht selbst unter Stress und Druck stellen, das ist uns auch sehr wichtig.
netzpolitik.org: Welche Städte und Regionen deckt ihr inzwischen ab?
Annette Linder: Wir sind in elf Städten und Regionen aktiv: Breisgau, Lemgo, Berlin, Chemnitz, Göttingen, Rhein-Neckar, München, Ortenau, Esslingen-Nürtingen und seit Mai 2025 auch in Karlsruhe. Außerdem gibt es das Team Nord für Hamburg, Lübeck, Flensburg und Umgebung.
netzpolitik.org: Ihr seid schon ein bisschen südlich orientiert, oder?
Marco Rosenthal: Ja, aber wir hätten es schon gern, dass es noch in weiteren Regionen Niederlassungen gäbe. Denn wir sehen, dass Anfragen von dort kommen, die wir momentan nicht abdecken können. Für solche Fälle bekommen die Leute, die sich bei uns melden, eine E-Mail zurück, dass wir leider nicht unterstützen können. Wir verweisen aber gleichzeitig auf andere Projekte, zum Beispiel das Computerwerk in Darmstadt oder auf Hey, Alter! oder auf Angestöpselt aus Würzburg.
Wir haben auch einige Shops zusammengesucht, die gebrauchte Hardware anbieten, die relativ günstig ist. Dort kann man für vielleicht 170 oder 150 Euro auch ein gutes Gerät bekommen. Vielleicht ist das für die eine oder andere Person doch möglich.
netzpolitik.org: Ihr versucht also, auch Alternativen aufzuzeigen, und seht euch nicht als Konkurrenz zu anderen Vereinen?
Annette Linder: Nein, gar nicht. Wir sind froh, wenn wir Kontakt haben oder auch mal zusammenarbeiten. Wir treten nicht in Konkurrenz, im Gegenteil.
Warum ein gemeinnütziger Verein?
netzpolitik.org: Ihr habt letztes Jahr ungefähr 1.800 Menschen und Organisationen geholfen. Die Organisationen sollen gemeinnützig sein, ist das ein Ausschlusskriterium?
Annette Linder: Ja, aufgrund unserer Satzung und unserem Vereinszweck dürfen wir nur Menschen unterstützen, die vor dem Gesetz als bedürftig gelten. Wir nehmen auch den Bedürftigkeitsnachweis entgegen. Das müssen wir dokumentieren. Ansonsten helfen wir Einrichtungen, die in Deutschland als gemeinnützig anerkannt sind. Es können zum Beispiel auch Hardware-Spenden in einen afrikanischen Staat oder vielleicht in ehemalige Ostblock-Staaten sein, aber es muss als Partner einen gemeinnützigen Verein nach deutschem Recht geben.
Marco Rosenthal: Es kann auch eine gemeinnützige GmbH oder Vergleichbares sein …
Annette Linder: … oder eine Kirche, wenn sie als mildtätig gilt.
Marco Rosenthal: Das sind Einschränkungen, die uns am Anfang ein Dorn im Auge waren. Wir haben vor der Vereinsgründung gar keine Prüfungen auf Bedürftigkeit oder Gemeinnützigkeit gemacht, weil wir das selbst gar nicht wollten. Wir wollten nicht wissen, was die Leute verdienen oder was sie an Leistungen vom Staat bekommen. Das war uns eigentlich zuwider. Aber wir haben gesehen: Wir bekommen wenig Sach- und Geldspenden, wenn wir kein gemeinnütziger Verein werden. Dann haben wir in den sauren Apfel beißen müssen und diese Prüfung eingeführt.
netzpolitik.org: Ihr habt das also trotz der Datenschutzbedenken als notwendig angesehen?
Marco Rosenthal: Genau. Das Problem waren Absagen von Unternehmen. Sie haben gesagt: Wir spenden Geräte, die ja noch teilweise einen hohen Wert haben, nur an gemeinnützige Einrichtungen. Das hat für uns den Ausschlag gegeben. Denn wir wollten den Menschen helfen, hatten aber keine Geräte. Wir brauchten mehr Hardware, also gingen wir diesen Schritt, die Gemeinnützigkeit beim Finanzamt anzustreben, um einfacher an Geld- und Sachspenden zu kommen.
netzpolitik.org: In eurem letzten Jahresbericht beschreibt ihr die Art der Spenden, die ihr entgegennehmt: Das sind natürlich Hardware-Spenden sowie Geldspenden, aber ihr nehmt auch Zeitspenden. Menschen können also ihre Zeit spenden. Wie ist das denn prozentual, was kommt am meisten an Spenden bei euch an?
Annette Linder: Zeit ist das Wertvollste. Wir haben um die 50 bis 60 wirklich aktive Mitglieder, die auch in der Hardware-Aufbereitung tätig sind. Was die leisten, das ist wirklich das Wichtigste und aber auch das, was uns aktuell am meisten fehlt. Wir stehen im Moment finanziell gut da. Wir haben – vielleicht auch durch das Ende von Windows 10 bedingt – gerade ein Hoch an Rechnerspenden. Das heißt: Es ist das erste Mal in unserer zehnjährigen Geschichte so, dass wir wirklich an den meisten Standorten genug Geräte haben. Es liegt nun eher an Menschen, die mithelfen. Zeitspenden sind also das Kostbarste.
Einfach dazukommen!
netzpolitik.org: Wenn ihr Leute zu Zeitspenden aufrufen würdet, was für Menschen sucht ihr? Ehrenämtler sind ja ein bestimmter Schlag Menschen, aber was sollten sie bei euch ungefähr an Kompetenzen mitbringen? Könntet ihr sie auch anlernen?
Marco Rosenthal: Wir lernen auch an. Als Team helfen und unterstützen wir, geben Wissen weiter. Wir haben eine zentrale Signal-Chatgruppe, in der Mitglieder drin sind, die aktiv sind. Wenn man ein Problem hat, kann man reinposten und dann wird einem relativ schnell geholfen. Dann gibt es auch noch die Gruppen für jeden Standort, wo man auch Hilfe anfordern kann.
Wir unterstützen auch Leute, die bisher vielleicht noch nie mit Linux gearbeitet haben oder noch nie einen Rechner auseinandergenommen haben. Denn wir haben ja auch einen Bildungsauftrag in der Vereinssatzung. Wichtig ist, dass die Leute Bock drauf haben, was Neues zu lernen und auch neue Bereiche in der Computertechnik kennenzulernen.
Annette Linder: Man braucht bei uns kein abgeschlossenes Informatikstudium, um mitmachen zu können. (lacht)
Ich bin zum Beispiel Physiotherapeutin von Beruf. Wenn man unsere Mitgliederstruktur anguckt, da sind das meistens schon Leute, die aus dem IT-Bereich kommen. Wenn neue Mitglieder dazukommen, dann natürlich gern an unseren schon bestehenden Standorten. Denn das hat Vorteile: Man stößt zu einem erprobten Team und kann sich auf kurzem Weg Unterstützung holen. Wir haben eine untere Grenze von drei neuen Mitgliedern, die wir brauchen, um einen neuen Standort zu gründen. Die neuen Mitglieder können sich so gegenseitig unterstützen und nicht überlasten, wenn sie mal beruflich oder privat längere Zeit ausfallen.
netzpolitik.org: Schreiben euch Leute, die mitmachen wollen, eine E-Mail oder pingen sie euch bei Mastodon an?
Annette Linder: In der Regel schreiben uns Interessierte über das Kontaktformular unserer Website an. Ab und zu pingen uns die Leute auch im Fediverse an. Wir laden dann zu unserem offenen Online-Treffen mit anschließender Vorstandssitzung ein. Die Termine finden sich auf der Website. Da können Leute einfach dazukommen und mal reden.
Kürzlich waren Mitglieder von uns beispielsweise auf der GPN in Karlsruhe. Wir stellen uns an Infoständen vor und versuchen, mit Leuten Kontakt zu bekommen. Veranstaltungen des Chaos Computer Clubs besuchen wir gern und laden die Leute ein, mal in eine Videokonferenz zu kommen. Wir suchen Leute, die Rechner aufbereiten. Aber nicht nur, denn natürlich brauchen wir auch Engagierte für die Vereinsorganisation, die unser Ticketsystem am Laufen halten, die Website vielleicht mal neu aufsetzen, sich mit Design auskennen oder Pressearbeit übernehmen. Es gibt also viele Möglichkeiten, sich bei uns einzubringen.
netzpolitik.org: Können sich zum Beispiel auch Jugendliche einbringen oder Rentner, die vielleicht mehr Zeit haben als Leute, die im Arbeitsleben stehen? Oder habt ihr sogar Kinder, die sich einbringen?
Annette Linder: Es gibt eigentlich keine Altersgrenzen, aber gerade wenn Kinder oder Jugendliche im Spiel sind, geht es darum, dass wir auch mit sensiblen Daten zu tun haben. Manchmal spenden Unternehmen, aber auch Privatpersonen Rechner, wo noch alle Daten drauf sind.
Personen, die etwas von uns erhalten möchten, weisen uns ihre Berechtigung mit entsprechenden Dokumenten nach. Da brauchen wir natürlich Regeln, die sicherstellen, dass diese personenbezogenen Daten gut gehandhabt werden. Wir haben keine genaue Altersgrenze nach unten, aber unter 14 Jahren wird es natürlich rechtlich schwierig.
Wir haben beispielsweise gerade eine Kooperationsanfrage einer Schule. Da würden sich dann die Erwachsenen um die Datenschutzrechte und um die ganze Kommunikation kümmern und die Jugendlichen und Kinder in der Rechneraufarbeitung beteiligt werden. Die rechtliche Sache muss geklärt sein. Nach oben gibt es keine Altersgrenzen: Wir haben auch Rentner in unserem Verein, die mithelfen.
netzpolitik.org: Heute sind bei euch die Mehrzahl der aufbereiteten Rechner Laptops, fast 1.000 im letzten Jahr. Es geht aber auch um Desktop-Rechner, auch in kleinem Rahmen um Smartphones und Tablets. Wo lagert ihr die Hardware-Spenden?
Marco Rosenthal: Das hängt von den Standorten ab. Beispielsweise in Chemnitz ist es so, dass die Mitglieder dort mit dem Repair-Café zusammenarbeiten und die Räumlichkeiten auch zum Lagern nutzen dürfen. Dort ist dann an bestimmten Tagen Ausgabe und Spendenannahme, also können die Leute direkt hinkommen und Spenden abgeben oder abholen. Dort wird auch gebastelt, es passiert alles mehr oder weniger in diesem Raum. Ähnlich ist es auch in Göttingen.
In Berlin oder auch hier in Breisgau ist es zum Beispiel komplett anders. Da sind die Distanzen zwischen den Mitgliedern so groß. Da bastelt jeder daheim und wir haben zentrale Lagerräume gemietet. Zum Teil stellen die Mitglieder auch privaten Lagerplatz zur Verfügung. Uns ist nur wichtig, dass die Hardware so gelagert ist, dass keine Dritten rankommen können. Denn gerade bei Privatpersonen sind oft doch noch persönliche Daten auf den Geräten. Wenn jemand wenig Platz daheim hat, dann nimmt er halt nur drei oder fünf Laptops zum Aufbereiten mit.
Die meisten Anfragen von Geflüchteten
netzpolitik.org: Ihr installiert auf den Rechnern das leicht zu bedienende Linux „Mint“. Erzählt mal, wie das abläuft.
Marco Rosenthal: Linux Mint haben wir deswegen ausgesucht, weil es doch Windows-ähnlich aussieht und den Leuten die Oberfläche so bekannter ist. Wir haben früher viel Ubuntu oder Lubuntu installiert, abhängig von den Leistungsklassen der Rechner. Das spielt aber heute keine Rolle mehr. Alles, was zehn Jahre oder jünger ist, geht mit dem aktuellen Linux Mint. Da haben wir keine Probleme festgestellt.
Wir machen seit etwa zwei Jahren Umfragen, nachdem wir eine Hardware-Spende rausgegeben haben. Darüber können uns die Leute anonym mitteilen, ob sie Probleme hatten. Die Umfragen hat eines unserer Mitglieder ausgewertet: Es ist tatsächlich so, dass viele Leute sagen, dass sie kein Problem mit Linux Mint hatten, dass sie vielleicht am Anfang ein bisschen skeptisch waren, aber mit dem System ganz gut klarkommen. Wir haben uns vor anderthalb Jahren im Verein entschlossen, dass wir keine Windows-Geräte mehr rausgeben.
netzpolitik.org: Ihr habt ja schon gesagt, dass ihr anfangs stark in der Flüchtlingshilfe aktiv wart. Ist es auch heute für euch noch ein Schwerpunkt oder ist es euch letztlich egal, wem ihr helft, wenn die Bedürftigkeit besteht?
Annette Linder: Ursprünglich ging es ja mit der Flüchtlingshilfe los, aber wir haben uns schon zu Projektbeginn für weitere hilfsbedürftige Zielgruppen geöffnet. Als die Ukraine-Krise losging und die geflüchteten Leute von dort kamen, war vor allem in Chemnitz und Berlin viel los. Die Flüchtlingshilfe und die Unterstützung von Menschen, die nicht hier gebürtig sind, nimmt schon noch einen großen Bereich ein.
Marco Rosenthal: Tatsächlich war es von Anfang an unsere Idee, nicht nur Geflüchtete zu unterstützen, sondern alle Bedürftigen. Im Moment sind die meisten Anfragen aber von Geflüchteten, sehr viele Leute aus der Ukraine, aber auch wieder vermehrt aus Afghanistan.
netzpolitik.org: Ihr seid eingefleischte Ehrenämtler, ihr engagiert euch viele Jahre. Ich möchte kurz auf ein Friedrich-Merz-Zitat zu sprechen kommen. In seiner Regierungserklärung sagte der frischgebackene Kanzler im Mai: „Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten. Mit Viertagewoche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können.“ Da scheint auch eine Form von Geringschätzung des Ehrenamts durch, weil Arbeit bei ihm offenbar nur bezahlte Arbeit ist. Was denkt ihr darüber als Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, langfristig und mit sehr viel Zeiteinsatz?
Annette Linder: Das trifft bei mir auf sehr viel Unverständnis, weil ich denke: Eigentlich wäre die Tätigkeit, die wir ehrenamtlich machen, nicht notwendig, wenn Geräte reparierbar wären und wenn wir keine gewollte Obsoleszenz hätten. Wenn die Politik ihre Arbeit machen würde, dann hätten wir das Problem nicht. Der Staat sollte eigentlich in der Lage sein, eine Gesellschaft aufzubauen, wo das nicht notwendig wäre.
Marco Rosenthal: Ich empfinde auch Unverständnis, es macht mich auch wütend. Weil wir eigentlich ehrenamtlich Dinge tun, die der Staat machen müsste. Wenn ich beispielsweise den Bundespräsidenten sehe, wie er die Tafeln für ihre gute Arbeit lobt, dann denke ich mir: Eigentlich sollten sie das gar nicht machen müssen. Bei uns ist es dasselbe: Ich helfe gerne den Menschen, aber der Grund, warum wir ihnen helfen, ist tatsächlich ein Versagen, weil es zum Beispiel der Staat nicht gebacken bekommt, dass in den Schulen für jedes Kind ein Rechner da ist.
Annette Linder: Ich denke, wir reden gerade viel davon, dass man die Demokratie stärken und verteidigen muss oder gesellschaftlichen Zusammenhalt verbessern soll. Doch das passiert eben nicht, wenn jeder statt acht Stunden oder bald zehn Stunden arbeitet und am Samstag auch noch und Feiertage gestrichen werden. Wenn es die Tage nicht mehr gibt, an denen noch Ressourcen für Ehrenamtliches frei ist, weil die Leute immer mehr arbeiten müssen und sich noch mehr sorgen müssen, dann bricht der gesellschaftliche Kit weg. Dann hat man nur noch Arbeitnehmer, aber keine Menschen mehr.
netzpolitik.org: Das ist zwar nicht euer Vereinszweck, aber ihr könntet sicher mühelos politisch falsche Weichenstellungen nennen, die ihr im Rahmen eurer Vereinstätigkeit als fehlerhaft entdeckt habt, oder?
Marco Rosenthal: Wir bräuchten beispielsweise endlich Vereinfachungen, was das Steuerrecht angeht. Es ist immer noch für ein Unternehmen einfacher, einhundert Laptops zu verschrotten, als für uns zu spenden.
Wünsch dir was
netzpolitik.org: Wenn ihr ein paar Wünsche frei hättet: Was würdet ihr euch von unseren Lesern und Leserinnen wünschen, die vielleicht jetzt auch Bock haben, was zu tun und sich zu engagieren oder zu spenden.
Annette Linder: Wir wünschen uns am meisten Zeitspenderinnen und Zeitspender, also Menschen, die uns in unserer Arbeit unterstützen, sei es an den Standorten zur Hardware-Aufbereitung oder auch sonst dabei, unseren Verein mit Leben zu füllen.
Marco Rosenthal: Ich hätte auch gerne noch ein diverseres Team. Wir machen dafür auch Neumitglieder-Workshops. Und ich hätte auch gerne mehr Leute im Verein, die nicht nur an Rechnerinstandsetzungen arbeiten, sondern die uns bei anderen Arbeiten unterstützen, beispielsweise bei Fördergeldbewerbungen, beim Design, bei Pressearbeit oder beim Texteschreiben fürs Blog.
Annette Linder: Ein paar Wünsche gingen auch in die politische Richtung: Es sollte vereinfacht werden, Dinge weiterzunutzen, also etwa in Reparaturrechtsfragen, die ja langsam kommen, nur viel zu spät und viel zu langsam. Die Bürokratie für gemeinnützige Vereine könnte tatsächlich eine Entbürokratisierung vertragen, auch um es den Unternehmen zu erleichtern, Geld und Hardware zu spenden. Das wäre eine sehr coole Sache.
netzpolitik.org: Wie kann ein spendenwilliges Unternehmen mit euch am besten in Kontakt treten?
Annette Linder: Am besten einfach über unser Kontaktformular auf der Website, da gibt es auch die Möglichkeit, einen Standort direkt anzuschreiben. Wir können den Unternehmen die Spende natürlich bestätigen. Wir werben sogar auch auf Mastodon oder auf unserer Webseite dafür, dass ein Unternehmen XY uns gespendet hat, denn das dient denen und uns und es ist auch ein Beispiel für andere Unternehmen.
netzpolitik.org: Vielen Dank für das Gespräch, die vielfältigen Einblicke und dass ihr euch die Zeit genommen habt!
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Wer hilft hier der AfD?
Es war ein hörbarer und starker Protest: Demonstrierende haben gemeinsam mit dem Zentrum für politische Schönheit das ARD-Sommerinterview mit der Rechtsextremistin Alice Weidel (AfD) gekapert. Und zwar nicht nur mit ein paar Parolen, Buh-Rufen und Tröten, sondern auch über Minuten mit dem unüberhörbaren Chorgesang „Scheiß AfD, scheiß AfD“. Selten war eine Störaktion im deutschen Fernsehen effektiver.
Natürlich sind die Gegner dieser Protestaktion nicht weit. Erwartbar lügen die Rechtsextremistenfreunde sich nun in die Tasche, dass die ARD die Proteste bestellt oder extra laut aufgedreht hätte, um das Interview zu torpedieren. So weit, so durchsichtig. Nazis lügen halt, ob auf der Braunplattform X, in der Jungen Freiheit oder im ARD-Sommerinterview.
Naives Verständnis eines neutralen Journalismus
Umso mehr überrascht das anhaltend naive wie selbstverliebte Verständnis eines neutralen Journalismus, der angeblich in der Lage ist, Faschistinnen wie Weidel in Interviews und Talkshows „zu stellen“. Seit vielen Jahren versuchen sich gestandene Medienleute daran, die AfD zu dechiffrieren und ihre Ziele offenzulegen. Das ist in vielen Fällen auch gelungen, wohl aber noch nie in seichten Gesprächsformaten.
Bei der ARD hat man bis heute nicht verstanden – oder will man nicht wahrhaben -, dass die Talkshow- und Interviewbühne zum Aufstieg und vor allem zur Normalisierung der rechtsextremen Partei beigetragen hat. Die Anstalt hofiert die AfD weiter und tut so, als sei ein lauschiges Interview vor Regierungskulisse ein gleichwertiges Format gegenüber Recherche, Meldung oder Dokumentation. Und sie rechtfertigt die Einladung Weidels damit, dass die AfD als große Partei gleichberechtigt behandelt werden müsse – was jedoch nicht stimmt.
Alle wissen doch, dass in rechtsextremen Kreisen längst eine andere Realität herrscht. Dass jeder unkritische Schnipsel aus den Sendungen der Öffentlich-Rechtlichen auf TikTok an die willigen Follower verfüttert wird. Dass kritische Fragen herausgeschnitten und dass Faktenchecks ignoriert werden.
In der anhaltenden Diskussion um die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin haben wir gerade erst die durchgreifende Macht dieser rechtsextremen Netzwerke zu spüren bekommen. Ungeachtet solcher Erfahrungen schiebt die ARD nach dem Sommerinterview nurmehr einen Faktencheck nach, der auf die öffentliche Debatte aber schon längst keinen Einfluss mehr hat.
Permanente Opferfalle
Seit Jahren gehen viele Journalist:innen der Öffentlich-Rechtlichen so normalfreundlich mit der AfD um – und sie lernen offenbar nicht dazu. Und wenn jemand lautstark dagegen protestiert, dann heißt es: „Das hilft der AfD.“ So jedenfalls sieht es ARD-Hauptstadtkorrespondent Gabor Halasz, der damit in die permanente Opferfalle der AfD tritt.
„Was ist damit gewonnen, ein Interview so zu stören, dass kaum ein Gespräch möglich ist?“, kritisiert Halasz die Protestierenden. „Die #AfD und ihre Chefin #Weidel werden so ganz sicher nicht verschwinden.“ Niemand würde mehr über die Inhalte der AfD reden, mahnt der Journalist. Dabei ist eben das doch das große Verdienst dieses demokratischen Protests zur besten Sendezeit.
Die AfD ist keine normale Partei, sondern derzeit die größte Gefahr für die Demokratie. Der gestrige Protest ist deswegen ein wichtiges Zeichen gegen die Normalisierung einer menschenfeindlichen Politik, die auf „die Ausländer“ einprügelt und völkisch-rassistische Ziele durchsetzen will. Und er ist ein Zeichen gegen das ständige Nachplappern und willfährige Abspielen der Themen, die Rechtsradikale in der öffentlichen Debatte platzieren wollen.
Protest auch gegen die ARD
In den letzten beiden Jahren gingen Millionen Menschen auf die Straße, weil sie Angst vor einer rechtsradikalen Machtübernahme haben, vor einem Ende der Demokratie. Die gestrigen Proteste beim ARD-Sommerinterview richten sich nicht nur gegen die Rechtsradikalen und ihre politischen Arme im Parlament, sondern auch gegen den Umgang mit ihnen in den öffentlich finanzierten Medien. Die Menschen erwarten zu Recht, dass die ARD entlang der festgeschriebenen Grundrechte agiert, ihren Bildungsauftrag stets mitbedenkt und die Demokratie stärkt.
Rechtsextreme zu normalisieren, mit ihnen freundlich ins Gespräch zu kommen und sie so zu legitimieren, gehört nicht dazu.
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Microsoft: Techniker aus China betreuten Cloud des US-Verteidigungsministeriums
Seit rund einem Jahrzehnt stellt Microsoft die Azure-basierte Cloud-Infrastruktur des US-Verteidigungsministeriums (Department of Defense, DoD) bereit. Eine Recherche der US-Organisation ProPublica enthüllte nun, dass der Konzern dabei wohl grob fahrlässig mit hochsensiblen Regierungsdaten umging: Die Betreuung der Infrastruktur überließ er auch Technikern aus Nicht-US-Ländern – unter anderem aus China. Kontrolliert wurde deren Arbeit offenbar nur oberflächlich aus der Ferne – von sogenannten „Digital Escorts“, US-Bürgern mit entsprechender Sicherheitsfreigabe.
Akute Gefahr gebannt…
Ob dabei Daten ausspioniert wurden oder Schäden etwa durch eingeschleusten Schadcode entstanden, ist bisher nicht bekannt. Unklar bleibt auch die Dimension der Vorgänge, also etwa die Anzahl der involvierten chinesischen IT-Fachkräfte.
ProPublicas Rechercheergebnisse wurden am vergangenen Freitag zunächst von einem Microsoft-Sprecher indirekt bestätigt: Auf X versicherte Frank X. Shaw, dass der Konzern die Beteiligung chinesischer Entwickler an der Betreuung der DoD-Regierungscloud und „verwandter Services“ gestoppt habe. Als Grund für den Stopp nannte er „Bedenken“, die bezüglich der Beteiligung ausländischer ITler aufgekommen seien.
Eine weitere Bestätigung in deutlich drastischeren Worten folgte kurz darauf von US-Verteidigungsminister Pete Hegseth auf X. Er sprach von „billiger chinesischer Arbeit“ („cheap chinese labour“), deren Inanspruchnahme „offensichtlich inakzeptabel“ sei und die eine potenzielle Schwachstelle in den DoD-Computersystemen darstelle. Ab sofort sei China nicht mehr am Betrieb der DoD-Cloud beteiligt, zudem sei eine Untersuchung eingeleitet worden.
Ganz nebenbei machte Hegseth in seiner kurzen Ansprache die Obama-Regierung mitverantwortlich, da diese den ursprünglichen Cloud-Deal ausgehandelt habe. Microsoft wiederum nannte er nicht namentlich; stattdessen sprach er allgemeiner von „einigen Tech-Firmen“. Laut ProPublica ist indes nicht bekannt, ob auch andere für die US-Regierung tätige Cloud-Provider wie Amazon Web Services oder Google Cloud ebenfalls auf Digital Escorts setzen. Auf Anfrage hätten diese sich nicht äußern wollen.
… Grundproblem verkannt
Daraus ergibt sich die Frage, wie es überhaupt zu solch groben Security-Schnitzern kommen kann. Denn eigentlich macht das Federal Risk and Authorization Management Program (kurz FedRAMP) konkrete Vorgaben. Unter anderem besagt es, dass eingesetzte Server nicht nur von qualifiziertem Personal administriert und gewartet werden müssen. Dieses muss auch über eine Sicherheitsfreigabe verfügen, um sicherzustellen, dass verarbeitete, potenziell sensible Daten nicht in falsche Hände geraten. Diese Clearance ist auf US-Bürger begrenzt.
Um die lukrativen Staatsprojekte trotz mangelndem FedRAMP-kompatiblem Personal zu bekommen, hat Microsoft diese Vorgaben offenbar kreativ uminterpretiert: Ausländische IT-Worker übernahmen die eigentliche Arbeit, während „DoD Secret Cleared Escorts“ aus der Ferne die Freigabe übernahmen. Der Workflow laut ProPublica: Der verantwortliche Techniker erklärt grob, welche Arbeiten ausgeführt werden müssen – etwa ein Firewall-Update oder ein Bugfix. Und der Escort als ausführende Instanz übernimmt die vorgegebenen Befehle per Copy & Paste. Er soll diese dabei zwar auch kontrollieren – aber das dürfte in vielen Fällen seine technische Fähigkeiten weit übersteigen, erklärt ProPublica.
Dass Escorts technisch nicht sehr versiert sein müssen, zeigt beispielhaft eine Jobanzeige für einen „DoD Secret Cleared Escort“: „Nachgewiesene Kenntnisse in der Verwaltung von Windows-Servern, Domänenservern, unterstützenden Desktops, Desktop-Anwendungen und Active Directory“ sind dort lediglich als verzichtbare „Nice to Have „-Fähigkeiten aufgeführt. Die verantwortlichen ausländischen Techniker seien ihren Digital Escorts in Sachen fachlicher Expertise oft haushoch überlegen; in der Praxis seien das etwa ausgemusterte Militärs mit Security-Freigabe aber ohne besondere technische Expertise zu Minimallöhnen. „Wir vertrauen darauf, dass das, was sie tun, nicht bösartig ist, aber wir können es nicht mit Sicherheit sagen“, zitiert die Plattform einen von ihr befragten Escort.
Knackpunkt China
Bislang ist nicht klar, wie viele solcher Tandems aus Escort und ausländischen Technikern Microsoft beschäftigt und aus welchen Ländern diese stammen. Auch ist unklar, wie hoch der Anteil der chinesischen IT-Arbeiter daran ist; nicht einmal eine Größenordnung ist bekannt. Nur an denen hat sich die Diskussion jedoch jetzt entzündet und nur die Chinesen wollen Hegseth und Shaw offenbar ausmustern. In einem offenen Brief an das US-Verteidigungsministerium hat US-Senator Tom Cotton jetzt konkretere Informationen zum konkreten Umfang dieses Problems angefordert. Ob diese geliefert und dann auch öffentlich werden, steht auf einem anderen Blatt.
(ovw)
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Warum das Ehrenamt zählt und bezahltes Schreiben trotzdem sinnvoll ist
Wikipedia ist die zentrale Sammlung unseres Weltwissens und längst viel mehr als nur eine Enzyklopädie. Gerade bei komplexen und sich dynamisch entwickelnden Themen von großer gesellschaftlicher Relevanz liefert Wikipedia einen Überblick über den Stand der Dinge – und sie erfüllt damit auch eine quasi journalistische Aufgabe, die kein anderes Medium so leisten kann. Hinzu kommt die Bedeutung der Wikipedia und ihrer Schwesterprojekte für die Reihung von Suchergebnissen und als Lieferant von Trainingsdaten für KI-Anwendungen.
Umso erfreulicher ist es, dass Wikipedia diese für demokratische Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter essenziellen Aufgaben werbefrei und auf Basis freier Software und Lizenzen erbringt, finanziert über Spenden und unter Mitwirkung von Tausenden von Freiwilligen.
Mit der großen Bedeutung der Wikipedia geht auch eine Verantwortung einher. Und wie nicht nur die jüngste Recherche der FAZ über veraltete Artikel in der Wikipedia gezeigt hat, gibt es auch hartnäckige Probleme, die nach einer Lösung verlangen. Besonders augenscheinlich ist das bei Artikeln über lebende Personen, deren öffentliche Persona maßgeblich und dauerhaft von der Darstellung in der Wikipedia geprägt wird. Gleichzeitig wird explizit davon abgeraten, den eigenen Artikel selbst zu editieren.
Gerade für politische exponierte Personen, für Frauen und People of Color, die ohnehin bei öffentlichen Auftritten regelmäßig mit Hass und Hetze auf Social Media konfrontiert sind, ist es eine Zumutung, sich außerdem noch mit Umgestaltungen und Verfälschungen ‚ihres‘ Wikipedia-Beitrags auseinandersetzen zu müssen. Hier fehlen professionelle Ansprecherpartner:innen, die auch Artikel editieren dürfen, ganz besonders.
Hinzu kommt, dass sogenanntes „bezahltes Schreiben“ in der Wikipedia längst an der Tagesordnung ist. Erforderlich ist hierfür nur die Offenlegung, dass ein Beitrag im Rahmen von bezahltem Schreiben gemäß Nutzungsbedingungen im Auftrag geleistet wurde. Mit anderen Worten, wer sich professionelle Wikipedia-Begleitung durch eine Agentur leisten kann, hat weniger Probleme als jene (Privat-)Personen, die das nicht tun können.
Ebenso hartnäckig wie die Probleme – veraltete Artikel, mangelnde Diversität unter den Freiwilligen und fehlende Ansprechpartner:innen – ist aber die Weigerung von Teilen der Wikipedia-Community, über die Etablierung von hauptamtlichen Redaktionen direkt bei Wikimedia auch nur ernsthaft zu diskutieren. Jüngstes Beispiel ist ein Blogeintrag bei Wikimedia Deutschland, der argumentiert „Warum das Ehrenamt zählt und bezahltes Schreiben keine Lösung ist“.
Im Folgenden möchte ich deshalb die fünf wichtigsten Fragen beantworten, die mir in der Debatte zu von Wikimedia bezahlten Redaktionen immer wieder unterkommen.
Könnte bezahltes Schreiben die Motivation der Ehrenamtlichen schwächen?
Die größte und am häufigsten vorgebrachte Sorge ist Motivationsverlust unter den freiwilligen Autor:innen. So schreibt Hanna Klein im oben verlinkten Blogeintrag:
Wenn andere für dieselbe Arbeit bezahlt würden, könnte das demotivierend wirken – und dazu führen, dass sich weniger Menschen ehrenamtlich beteiligen.
Es ist sicher kein Zufall, dass die gesamte Passage im Konjunktiv formuliert ist. Denn natürlich mag so ein Effekt auf einzelne freiwillige Autor:innen zutreffen. Allerdings spricht eine Vielzahl an Gründen dagegen, dass es sich dabei um eine weitverbreitete Sichtweise handelt. Denn die Gründe, warum Menschen bei der Wikipedia mitarbeiten, sind vielfältig: aus Freude am Schreiben, aus politischer Überzeugung, um Wissen zu teilen oder einfach, um Teil einer Community zu sein. Diese Motive verschwinden nicht, nur weil es auch ein paar bezahlte Redakteur:innen gibt.
Im Gegenteil: Ein Nebeneinander von bezahlten und freiwillig Mitarbeitenden ist in vielen Bereichen völlig selbstverständlich. Und zwar nicht nur in Organisationen wie dem Roten Kreuz, der Tafel oder dem Technischen Hilfswerk, sondern auch in jener Szene, aus deren Mitte heraus die Wikipedia entstanden ist: freie und offene Software. Viele Projekte florieren gerade deshalb, weil bezahlte Entwickler:innen die oft undankbaren, aber notwendigen Aufgaben übernehmen – etwa Bugfixes, Tests, Sicherheitsupdates. So ist es auch bei der (Weiter-)Entwicklung der Mediawiki-Software, auf der Wikipedia selbst läuft. Diese wird ganz maßgeblich durch Entwickler:innen vorangetrieben, die von der Wikimedia Foundation dafür bezahlt werden.
Aber gibt es nicht Forschung, die negative Effekte von Bezahlung auf intrinsische Motivation belegt?
In der Tat gibt es Studien zum sogenannten Crowding-out-Phänomen im Bereich der Motivationsforschung. Wenn Menschen für etwas bezahlt werden, das sie zuvor freiwillig getan haben, kann das ihre intrinsische Motivation untergraben. Das – wenn auch empirisch umstrittene – Lehrbuchbeispiel ist die finanzielle Vergütung für Blutspenden. So sinkt in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen die Bereitschaft zur Blutspende, wenn sie als ökonomische Transaktion und nicht als moralische Tugend verstanden wird.
Vor allem als unzureichend empfundene monetäre Anreize wirken sich negativ auf intrinsische Motivation und geleistete Beiträge aus. Es wäre also in der Tat keine gute Idee, sämtlichen rund 6.000 Freiwilligen ein bisschen Geld für ihre Arbeit zu bezahlen. Aber das schlägt meines Wissens nach auch niemand vor. Stattdessen geht es um die Finanzierung von Vollzeitstellen für gezielt ausgewählte Aufgaben, die allein von Freiwilligen derzeit nicht in ausreichendem Maße erfüllt werden.
Hat die Wikipedia überhaupt genug Geld dafür, um Leute für das Schreiben zu bezahlen?
Ja. Die Wikimedia Foundation als Organisation hinter der Wikipedia erhält genug Spenden, um zumindest in den größeren Sprachversionen Redaktionen zu finanzieren. Alleine Wikimedia Deutschland hat 2024 rund 11,7 Millionen Euro an Spenden und 6,2 Millionen Euro an Mitgliedsbeiträgen eingenommen, Tendenz steigend. Inzwischen verfügt der Verein über Rücklagen in Höhe eines Jahresspendenaufkommens von 11,6 Millionen Euro („Noch nicht verbrauchte Spendenmittel“).
Auch wenn ein großer Teil des Spendenaufkommens an die Wikimedia Foundation weitergeleitet wird – deren Nettovermögen inzwischen rund 230 Millionen US-Dollar beträgt -, machen diese Beträge deutlich, dass Geld für die Bezahlung von Redaktionen vorhanden wäre. Und gut möglich, dass die Spendenbereitschaft unter den Leser:innen sogar noch wüchse, wenn das Geld unmittelbarer als derzeit in die Verbesserung der Wikipedia zurückfließt.
Aber ist eine zwanzig- bis dreißigköpfige Redaktion nicht viel zu klein, um Millionen von Artikel zu pflegen?
Natürlich kann und sollen bezahlte Redakteur:innen nicht sämtliche Inhalte der Wikipedia beisteuern. Das würde in der Tat nicht funktionieren, ist aber auch gar nicht notwendig. Wie oben ausgeführt, ist es unwahrscheinlich, dass ein größerer Teil der Freiwilligen sofort die Arbeit einstellt, nur weil es auch ein paar bezahlte Redakteur:innen gibt.
Umgekehrt hätten die Redakteur:innen vor allem die Aufgabe, die Freiwilligen zu entlasten, indem sie ihnen als Ansprechpartner:innen dienen und sich um Dinge kümmern, für die sich keine Freiwilligen finden oder wo verlässliche Verfügbarkeit erforderlich ist, die mit Freiwilligen schwer herzustellen ist. Letzteres betrifft vor allem die oben erwähnten Artikel über lebende Personen.
Welche Aufgabenfelder von hauptamtlichen Redaktionen prioritär bearbeitet werden, sollte natürlich im Austausch mit der Freiwilligen-Community festgelegt werden. Denkbar wäre es, viel besuchte, aber länger nicht bearbeitete Artikel systematisch zu aktualisieren und zu überarbeiten.
Könnte verschärfte Haftung für Inhalte zu Problemen führen?
Schon heute ist es so, dass die Wikimedia Foundation für rechtswidrige Inhalte haftet, sofern sie Kenntnis davon besitzt. An dieser sogenannten „Forenhaftung“ für Beiträge von Freiwilligen würde sich durch bezahlte Redaktionen erst mal nichts verändern. In diesem Zusammenhang ist aber die radikale Transparenz der Wikipedia wieder hilfreich: Weil jede Änderung und Sichtung dauerhaft und transparent nachvollziehbar in der Versionsgeschichte von Wikipedia-Artikeln dokumentiert ist, wäre auch mit bezahlten Kräften keine umfassende Haftung für alle Inhalte in der Wikipedia verbunden.
Klarerweise würde die Wikimedia Foundation aber für Beiträge hauptamtlicher Redakteur:innen sowie für die von ihnen gesichteten Beiträge von Dritten haften. Das gilt aber auch für jedes andere Online-Medium und ist angesichts der Relevanz und Bedeutung der Wikipedia durchaus sinnvoll.
Fazit
Niemand will das Ehrenamt in der Wikipedia abschaffen. Im Gegenteil: Es ist das Fundament, auf dem Wikipedia ruht. Aber genau deshalb braucht es eine Debatte darüber, wie dieses Fundament auch in Zukunft tragfähig bleibt. Das bedeutet auch, darüber zu sprechen, wo gezielte Bezahlung sinnvoll sein kann – nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung.
Natürlich wird auch eine Wikipedia mit bezahlten Redaktionen nie fehlerfrei, vollständig oder fertig sein. Das kann und soll auch nicht das Ziel sein. Aber mit bezahlten Kräften ließen sich die größten und seit Jahren ungelösten Probleme der Wikipedia zumindest ein wenig lindern.
Statt also jegliche Form von spendenfinanziertem Schreiben pauschal abzulehnen, wäre es sinnvoller, darüber zu diskutieren, auf welche Weise Spendengelder am effektivsten zur Verbesserung der Wikipedia investiert werden könnten – und wo auch weiterhin besser primär auf ehrenamtliche Mitarbeit gesetzt werden sollte. Pilot- und Testprojekte in einzelnen ausgewählten Sprachversionen würden sich dafür anbieten.
Eine ergebnisoffenere Diskussion der Frage von spendenfinanzierten Autor:innen würde der auf ihre Offenheit so stolzen Wikipedia-Community gut zu Gesicht stehen.
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