Datenschutz & Sicherheit
Das Sondervermögen, die Infrastruktur und die Digitalisierung
500 Milliarden Euro sollen die Infrastruktur in Deutschland aufmöbeln. Das ist die Hoffnung bei einem Sondervermögen, das der Bundestag noch nach den Wahlen, aber vor Konstituierung der neuen schwarz-roten Regierung beschloss. Er einigte sich damit auf einen Weg, neue Schulden zu machen, ohne die geltende Schuldenbremse grundsätzlich abzuschaffen.
Doch mit dem Ja zu den Milliardeninvestitionen hat die Arbeit erst begonnen. Nun konkretisieren sich die Pläne dazu, wie das Geld genau verteilt werden soll, wofür es ausgegeben werden darf und was dies für Länder und Kommunen bedeutet. Und mit der Konkretisierung beginnen Streitpunkte und Begehrlichkeiten klarer zu werden.
Wir geben einen Überblick, was das Sondervermögen Infrastruktur bedeutet, was feststeht und was noch geklärt werden muss.
Was ist das Sondervermögen für Infrastruktur?
Kurz vor der Konstituierung des neuen Bundestages haben die damaligen Abgeordneten einer Änderung des Grundgesetzes zugestimmt. Dort steht nun in Artikel 143h:
Der Bund kann ein Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur und für zusätzliche Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität bis zum Jahr 2045 mit einem Volumen von bis zu 500 Milliarden Euro errichten.
Damit kann die Bundesregierung entsprechende Kredite aufnehmen, die nicht von der Schuldenbremse betroffen sind.
Wer bekommt wie viel von den 500 Milliarden?
100 der 500 Milliarden Euro erhalten laut Grundgesetz die Länder. Sie können es aber nicht beliebig einsetzen, sondern müssen dem Bund berichten, was sie mit dem Geld getan haben. Der wiederum kann dann prüfen, ob das Geld „zweckentsprechend“ eingesetzt wurde, also ob es tatsächlich für Infrastruktur genutzt wird.
Weitere 100 Milliarden sollen in den Klima- und Transformationsfonds gehen. Dieser Fonds finanziert beispielsweise Projekte zur Elektromobilität und zur Halbleitertechnik.
Wie genau die Aufteilung aussieht, soll ein Bundesgesetz regeln, dem im Fall der Länderbeträge auch der Bundesrat zustimmen muss. Ein Entwurf für das sogenannte Errichtungsgesetz hat Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) laut einem Bericht des Spiegel ins Bundeskabinett eingebracht. Die Ministerien sollen demnach am 24. Juni über den Entwurf abstimmen.
Was muss in einem Errichtungsgesetz noch geregelt werden?
Eine der großen Fragen ist, was alles zu Infrastruktur zählt und wofür die 500 Milliarden Euro eingesetzt werden können. Im Gesetzentwurf sind in der Begründung folgende Bereiche aufgezählt: „Zivil- und Bevölkerungsschutz, Verkehrsinfrastruktur, Krankenhaus-Investitionen, Investitionen in die Energieinfrastruktur, in die Bildungs-, Betreuungs- und Wissenschaftsinfrastruktur, in Forschung und Entwicklung und Digitalisierung“.
Unklar ist außerdem, wie genau die Berichtspflichten für die Länder aussehen. Nach dem Willen der Finanzministerkonferenz sollen die „sowohl zeitlich als auch inhaltlich auf ein Mindestmaß“ beschränkt sein. Außerdem wollen sie, dass neben den speziell für die Länder reservierten 100 Milliarden Euro auch weitere Mittel über Bund-Länder-Programme für Landesangelegenheiten genutzt werden.
Was müssen die Länder noch entscheiden?
Auf einer Finanzministerkonferenz haben sich die Finanzchefs von Ländern und Bund darauf geeinigt, dass die 100 Milliarden für die Bundesländer entsprechend dem Königsteiner Schlüssel aufgeteilt werden sollen. Das heißt: Zu zwei Dritteln zählt das Steueraufkommen, zu einem Drittel die Bevölkerungszahl.
An der Spitze der Länder steht damit Nordrhein-Westfalen, es bekäme einen Anteil von etwa 21 Milliarden Euro. Am Ende der Liste stehen Bremen und das Saarland, ihnen würde je rund 1 Milliarde Euro zustehen.
Bevor es aber richtig losgehen kann, braucht es das oben erwähnte Bundesgesetz, das auch regelt, wie die Beträge eingesetzt werden dürfen.
Kommt das ganze Geld auf einmal?
Nein, laut Grundgesetz können Investitionen aus dem Sondervermögen innerhalb der nächsten zwölf Jahre bewilligt werden. Ob etwa die Länder das Geld in festen Raten und Zeitabständen oder abhängig vom Status konkreter Projekte bekommen, ist noch nicht abschließend geklärt.
Laut einem Spiegel-Bericht sollen zumindest die 100 Milliarden für den Klima- und Transformationsfonds „in zehn gleichmäßigen Tranchen bis 2034 überwiesen“ werden.
Der neue Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) hat in seiner Antrittsrede im Bundestag angekündigt, er wolle das zur Verfügung stehende Geld „möglichst schnell verbauen“.
Wie schnell kommt das Sondervermögen?
Der neue Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) hat in Aussicht gestellt, dass noch vor der Sommerpause ein Gesetz für die Einrichtung des Sondervermögens Infrastruktur in den Bundestag kommt. Der anvisierte Termin für die Kabinettsabstimmung ist der 24. Juni.
Da die letzte Sitzungswoche des Bundestages am 11. Juli endet, ist eine so kurzfristige Verabschiedung nicht realistisch.
Wie viel Digitales steckt im Sondervermögen?
Wie viel vom Sondervermögen in digitale Infrastruktur fließt, ist noch nicht absehbar. Dafür braucht es neben dem Bundesgesetz noch einen Wirtschaftsplan. Fest steht aber, dass die Begehrlichkeiten an den Mitteln groß sind.
Die Digitalminister:innen von Bund und Ländern schreiben: „Neben der Modernisierung des Staates und der öffentlichen Verwaltung durch Digitalisierung benötigen wir einen kräftigen Impuls für die digitalen Schlüsseltechnologien und souveräne, europäische IT-Infrastrukturen.“
Auf ihrer Konferenz im Mai forderten sie außerdem, der Bund solle prüfen, „ob Investitionen in Cloud und KI künftig auch aus dem zu errichtenden Sondervermögen für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur getätigt werden können“.
Was sind Streitpunkte?
Für Diskussionen sorgt die Frage, wofür das Geld ausgegeben werden darf. Es soll für zusätzliche Investitionen da sein – aber wann ist das der Fall? Die grüne Haushaltspolitikerin Paula Piechotta hat dem Finanzminister etwa bereits vorgeworfen: „Er rechnet sich seinen Haushalt schön“. Sie hat bei den Haushaltsberatungen offenbar den Eindruck gewonnen, dass Lars Klingbeil reguläre Haushaltslöcher mit dem Zusatzgeld stopfen könnte.

Ein anderes Streitthema ist die Verteilung an Länder und Kommunen. Bekommen sie „nur“ die extra für sie vorgesehenen 100 Milliarden Euro oder auch etwas vom Rest? Wie eng sollen die Vorschriften sein, was sie mit dem Geld tun dürfen? Dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen.
Das Präsidium des Deutschen Städtetags begrüßt, dass 100 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen ausdrücklich für die Länder und Kommunen bestimmt sind. Die Mittel sollten aber schnell und unkompliziert vor Ort ankommen, betont Verbandspräsident Markus Lewe, Oberbürgermeister von Münster (CDU).
Darüber hinaus sollten die Kommunen auch an den weiteren 300 Milliarden Euro „partizipieren“ können, so die Forderung des Städtetages. Er unterstreicht zugleich, dass dies nicht die kommunale Finanzkrise löse. Dafür brauche es weitere Reformen und Entlastungen.
Ins gleiche Horn stößt der Städte- und Gemeindebund. Dessen Hauptgeschäftsführer André Berghegger warnte den Bund, die Verwendung der Mittel einzuschränken: „Städte und Gemeinden wissen sehr genau, welche Infrastrukturmaßnahmen bei Straßen, Schulen, Brücken oder sonstigen Bereichen prioritär angegangen werden müssen“.
Dass es weitergehende Maßnahmen brauche, sagt auch der Vorsitzende des Deutschen Landkreistages, Achim Brötel (CDU). Er fordert einen deutlich höheren Anteil, den die Kommunen von der Umsatzsteuer erhalten. Damit könnten Landkreise, Städte und Gemeinden weit viel mehr anfangen „als mit einem großen Investitionsprogramm, bei dem der Bund die Bedingungen aufstellt und das möglicherweise dann noch nicht einmal die drängendsten kommunalen Bedarfe trifft“.
Was sagen Vertreter:innen der Zivilgesellschaft und Branchenverbände?
Henriette Litta, Geschäftsführerin bei der Open Knowledge Foundation Deutschland, sieht das angekündigte Sondervermögen grundsätzlich positiv. „Es kommt aber natürlich darauf an, wie genau diese Mittel eingesetzt werden“, so Litta gegenüber netzpolitik.org. „Wir brauchen eine missionsorientierte Finanzierungsstrategie für digitale Infrastruktur, die gut koordiniert, aus einem Guss umgesetzt und wirkungsorientiert begleitet wird.“
Sie fordert, „eine widerstandsfähige technologische Infrastruktur für unsere Demokratie“ zu schaffen. Dafür brauche es mehrere Voraussetzungen:
Erstens müssen die Grundlagen für Innovation verbreitert werden: Die Forschungs- und Entwicklungskapazitäten an Forschungseinrichtungen müssen gestärkt und miteinander vernetzt werden; Kompetenzen im Bereich der digitalen Bildung müssen auf allen Ebenen gefördert werden. Zweitens muss ein breites Ökosystem für die Erprobung von Ideen geschaffen werden, in dem Start-ups und zivilgesellschaftliche Technologieinitiativen Software prototypisieren, Daten analysieren oder Algorithmen entwickeln können. Drittens müssen wir, wenn Prototypen funktionieren, Strukturen aufbauen, um Produkte zu skalieren, anzupassen und (dauerhaft) nutzbar zu machen. Viertens müssen wir – wenn Innovation zu Infrastruktur wird – ein stabiles System bereitstellen, um Produkte zu betreiben und die Verfügbarkeit, Qualität, Sicherheit und Standards zu gewährleisten, die wir für diese Produkte brauchen.
Dass es dringend Investitionen in zentrale, flächendeckende Verwaltungsstrukturen geben müsse, sagt Ann Cathrin Riedel, Geschäftsführerin bei NExT e. V. und ehemalige Vorsitzende bei LOAD – Verein für liberale Netzpolitik. „Dazu zählen vorrangig Basisdienste, die der Bund kostenfrei zur Verfügung stellen sollte, damit sie kostenlos von den Kommunen nachgenutzt werden können“, so Riedel gegenüber netzpolitik.org. Ein Vorbild sei hier Sachsen-Anhalt, das seinen Kommunen Paymentdienste anbiete.
Geld allein reiche aber nicht aus, sagt Riedel, sondern es brauche außerdem klare politische Verantwortung für einzelne Themen. „Beim Thema Verwaltungstransformation und Staatsmodernisierung muss jede:r Minister:in begreifen, dass sie für dafür in ihrem Bereich verantwortlich ist, denn sie werden keines ihrer politischen Vorhaben umsetzen können, wenn hier die Verwaltung nicht digital transformiert ist.“ Dazu gehöre auch, sich mit technischen Standards zu beschäftigen, die zentral vorgegeben werden müssten, damit der Datenaustausch auch funktioniere, sagt Riedel.
Der Digitalbranchenverband Bitkom hat bereits im März einen Digitalpakt Deutschland vorgeschlagen, den das Sondervermögen mit 100 Milliarden Euro finanzieren soll. Vier Felder nimmt der Verband dabei in den Blick: „Digitale Transformation der Wirtschaft, Aufbau eines sogenannten Deutschland Stacks durch die Förderung von Schlüsseltechnologien und Infrastrukturen, Verwaltungsdigitalisierung und digitale Bildung“.
Die Hälfte des Geldes solle demnach in „Innovationsförderung“ fließen, gemeint sind damit Tech-Start-ups, Künstliche Intelligenz und Quantencomputing. Mit 35 Milliarden soll die Wirtschaft unter anderem mittels Sonderabschreibungen und Investitionsprämien einen „Digitalbooster“ erhalten. Zehn Milliarden Euro sollen der Verwaltungsdigitalisierung zugutekommen, fünf Milliarden der Bildung.
Datenschutz & Sicherheit
Damit müssen Menschen auf der Pride in Budapest rechnen
Dieser Plan könnte gründlich schiefgegangen sein. Mitte März beschloss das ungarische Parlament ein queerfeindliches Gesetz, das Veranstaltungen faktisch verbietet, die ein Leben jenseits von Heterosexualität und Cisgeschlechtlichkeit zeigen. Seitdem wächst die Solidarität mit der queeren Community. 15 EU-Staaten haben die EU-Kommission zu einem „schnellen Handeln“ aufgefordert. Aus ganz Europa werden Teilnehmer*innen für die Pride-Parade in Budapest erwartet – die trotz aller Hindernisse Ende Juni stattfinden soll.
„Das wird mit Sicherheit die bisher größte Pride-Parade in Ungarn werden“, sagte Viktória Radványi, Vorsitzende von Pride Budapest, bei der Eröffnung der Feierlichkeiten am vergangenen Wochenende.
Die Regierung rechtfertigt das Verbot mit der Behauptung, solche Veranstaltungen könnten die „körperliche, geistige und moralische Entwicklung“ von Kindern gefährden. Es ist das beliebte Muster autoritärer Regime: eine bedrohte, queere Minderheit wird zur angeblichen Gefahr erklärt; Homo- und Transfeindlichkeit werden zur Waffe gegen Demokratie und Menschenrechte.
Nach diesem Drehbuch entstand bereits das ungarische Kinderschutzgesetz von 2021, das Minderjährigen jede Information über Homosexualität oder Transgeschlechtlichkeit vorenthält. Werbung, Bücher, Filme zu diesen Themen sind seither für unter 18-Jährige tabu. Seit März gilt das Verbot nun auch für öffentliche Veranstaltungen wie die Pride, die diese Vielfalt feiern.
Demonstrieren als Ordnungswidrigkeit
Nicht nur die Veranstalter*innen, auch Teilnehmer*innen der Demonstration können auf dieser Grundlage bestraft werden. Das Verbot sieht vor, dass die Polizei sie per Gesichtserkennung identifizieren und mit Bußgeldern bis zu 500 Euro belegen darf.
Es steht viel auf dem Spiel im EU-Land Ungarn. Es geht um Menschenrechte aus der EU-Grundrechtecharta: Nichtdiskriminierung, Versammlungsfreiheit, freie Meinungsäußerung. Das wirft die Frage auf, wer es noch wagt, friedlich zu protestieren, wenn dafür biometrische Identifikation und Geldstrafe droht.
Was erwartet also die Teilnehmer*innen, die sich für die Pride angekündigt haben? Welche Rechte und Pflichten haben sie auf der Demonstration? Und was ist das für ein System zur Gesichtserkennung, mit dem Orbáns Regierung zu abschrecken will? Wir haben die wichtigsten Informationen zusammengetragen.
1. Wird die Pride überhaupt in Budapest stattfinden können?
Noch kämpfen die Veranstalter*innen darum, wie in vergangenen Jahren durch die Budapester Innenstadt ziehen zu dürfen, und zwar entlang der Prachtstraße Andrássy ut. Die Polizei hat die Route nicht genehmigt, mit der Begründung, es könne auf der Demonstration zu verbotenen Handlungen kommen. Demnach sei es nicht auszuschließen, dass auch Minderjährige teilnehmen; außerdem drohten auch „passive Opfer“ unter den Zuschauer*innen, so die Begründung. Stattdessen soll die Demonstration auf einer abgelegenen Pferderennbahn am Stadtrand stattfinden. Das wollen Veranstalter*innen nicht hinnehmen.
Am Montag schaltete sich dann Budapests liberaler Bürgermeister ein: Die Stadt werde die Pride als kommunales Fest für Liebe und Freiheit ausrichten, gemeinsam mit den Veranstalter*innen. Dafür brauche es keine Genehmigung der Polizei.
2. Warum darf die ungarische Polizei Gesichtserkennung bei der Pride einsetzen?
Bis vor Kurzem durfte die ungarische Polizei Gesichtserkennung nur bei Straftaten oder Delikten nutzen, die mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden können. Mit der im März verabschiedeten Gesetzesänderung gilt das nicht mehr. Nun darf die Polizei die Technologie bei allen Arten von Gesetzesverstößen anwenden. Das heißt, sie kann jetzt auch Personen damit identifizieren, die eine geringfügige Ordnungswidrigkeiten begehen – etwa bei Rot über die Straße gehen oder bei der verbotenen Pride-Parade mitlaufen.
3. Wie funktioniert die biometrische Gesichtserkennung in Ungarn?
Ermittlungsbehörden arbeiten für die Identifikation unbekannter Personen mit dem Ungarischen Institut für Forensische Wissenschaften zusammen, eine dem Innenministerium unterstellte Behörde. Das Institut betreibt eine Datenbank zur biometrischen Gesichtserkennung, in die Bilder aus verschiedenen staatlichen Quellen fließen.
Gespeichert werden nicht die Bilder selbst, sondern ihre biometrische Entsprechung. Dazu erfasst das Institut die einzigartigen Merkmale der Gesichter, etwa die Abstände von Augen, Nase und Kinn. Das Ergebnis wird in Form einer mathematischen Repräsentation gespeichert.
Bekommt das Institut über eine Schnittstelle von der Polizei ein Bild zur Identifizierung übermittelt, kommt es zu einem automatisierten Abgleich mit der Datenbank. Die Polizei bekommt daraufhin die Treffer mit der höchsten Übereinstimmung angezeigt.
4. Wer ist in Ungarns Gesichter-Datenbank gespeichert?
Gesichter-Suchmaschinen für die Strafverfolgung wie Clearview AI durchsuchen des gesamte öffentliche Internet und speichern die biometrischen Profile der dort gefundenen Gesichter.
Im Gegensatz dazu hat das Forensische Institut in seiner Datenbank nur biometrische Daten aus staatlichen ungarischen Quellen: Personalausweise oder Führerscheine, Aufnahmen aus dem Melderegister und Bilder aus Polizeidatenbanken, die bei der Strafverfolgung, Einreise oder Flucht erstellt wurden.
Gesichtserkennung in Ungarn verstößt gegen EU-Gesetze
5. Womit müssen Pride-Protestierende aus dem Ausland rechnen?
Bürger*innen anderer Staaten tauchen in der Datenbank der ungarischen Behörden nicht auf, solange sie keine Aufenthaltsgenehmigung oder andere ungarische Dokumente besitzen. Das erklärt die NGO Hungarian Helsinki Committee, sie sich mit Fragen der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn befasst. Laut ihrer Aussage kann die Polizei diese Personen daher nicht per Gesichtserkennung identifizieren.
Demonstrant*innen können jedoch sofort vor Ort mit einer Geldstrafe belegt werden. Das Hungarian Helsinki Committee weist darauf hin, dass Teilnehmer*innen das Recht haben, die sofortige Geldstrafe abzulehnen und nichts unterschreiben müssen. In diesem Fall leitet die Polizei ein Ordnungswidrigkeitsverfahren ein und die Betroffenen werden per Post über die Geldstrafe informiert. Sie können dann darauf bestehen, von der Polizei angehört zu werden und Widerspruch vor Gericht einlegen. Das Gericht kann die Rechtmäßigkeit der Strafe überprüfen, diese aufheben oder reduzieren.
6. Wie schnell kann die ungarische Polizei Protestierende identifizieren?
Schneller als etwa einen Bankräuber oder Steuerflüchtigen. Im Fall einer Straftat ist vorgesehen, dass zwei Fachleute des Forensischen Institutes die Ergebnisse des automatisierten Abgleichs unabhängig voneinander bestätigen müssen – erst damit gilt das Ergebnis als Treffer. Geht es dagegen nur um ein geringfügiges Vergehen wie die Teilnahme an der Pride, entfällt diese Kontrolle.
Die Polizei hat nun eine direkte Schnittstelle zur Datenbank und kann darüber einen automatisierten Abgleich beantragen. Die Hungarian Civil Liberties Union (HCLU), die sich für den Schutz von Grundrechten in Ungarn einsetzt, spricht von einer Identifikation in „Echtzeit oder annähernder Echtzeit“.
Wie schnell der Prozess genau abläuft, weiß allerdings auch die HCLU nicht. Das Forensische Institut hat auf ihre Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz nur ausweichend geantwortet: Der automatisierte Abgleich falle nicht in den Zuständigkeitsbereich des Institutes, heißt es dazu.
Laut der neuen KI-Verordnung der EU wäre eine Identifikation in Echtzeit nur bei Verdacht auf eine Straftat erlaubt; in keinem Fall dürfte Ungarn sie für die Ermittlung der Identität bei einer Ordnungswidrigkeit einsetzen.
7. Wäre die Gesichtserkennung nicht von den Menschenmassen überfordert?
Wahrscheinlich ja. „Das System ist nicht für die Massenüberwachung von Zehntausenden von Menschen konzipiert“, sagt der Jurist Ádám Remport, der sich für die HCLU mit dem Fall beschäftigt.
Das liegt an den Verfahren: Um eine Person identifizieren zu lassen, muss die Polizei händisch einen Fall im System anlegen. Bei mehreren Zehntausend Teilnehmenden würde das sehr viel Zeit erfordern. Zwar könnten auch mehrere Personen im System zu einem Fall zusammengezogen werden, rechtlich wäre das kein Problem. Aber ob das auch in einer Größenordnung von mehreren Zehntausend Personen funktioniert, da ist sich auch Ádám Remport nicht sicher. Bisher sei so ein Fall nicht vorgekommen.
Sollte die Polizei die zu identifizierenden Personen hingegen einzeln im System bearbeiten müssen, würde das sehr lange dauern, sagt Remport. Und: „Wenn die Behörden versuchen würden, alle Teilnehmer einer so großen Demonstration zu identifizieren, könnte das möglicherweise die Gesichtserkennungssysteme Ungarns überlasten.“

Der Jurist sieht noch ein weiteres Nadelöhr im System: Verdächtige hätten das Recht auf eine polizeiliche Anhörung, wenn sie wegen einer Ordnungswidrigkeit mit einer Geldstrafe belegt werden. Wenn die Polizei das Verfahren nicht einstellt oder die Geldstrafe nicht herabsetzt, können sie sich an ein Gericht wenden. „Bei einem massiven Einsatz der Gesichtserkennung könnte die schiere Menge der Verfahren die Polizei und die Justiz überfordern.“
Eine Entwarnung ist das jedoch nicht: Teilnehmer*innen müssten auch Wochen später noch damit rechnen, verfolgt zu werden. Aktuell dürfen Aufnahmen aus Überwachungskameras in Ungarn 30 Tage lang gespeichert werden.
8. Wie gefährlich sind falsche Treffer bei der Gesichtserkennung?
Mit dem Wegfall der menschlichen Kontrollen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass falsche Treffer bei der Polizei landen, warnt Ádám Remport. Das heißt, die Polizei verdächtigt Personen, die nicht in der Aufnahme zu sehen waren. „Rechtlich gibt es so gut wie keine Sicherheitsvorkehrungen“, so Remport. Einzelne Beamt*innen werden dann entscheiden müssen, ob ein Treffer tatsächlich die gesuchte Person zeigt.
„Bei Tausenden solcher Anfragen, wird der Druck groß sein, so schnell wie möglich zu arbeiten“, erklärt Remport. Auch würden viele ausländische Teilnehmende auf der Demonstration sein, die nicht in der ungarischen Datenbank erfasst sind. Das System könne für sie aber womöglich ähnliche Gesichter in der Datenbank finden. So könne es zu vielen falschen Entscheidungen kommen.
Hier werden Protestierende mit Gesichtserkennung verfolgt
9. Welche Software nutzt Ungarn zur Gesichtserkennung?
Bislang ist nicht bekannt, welche Software das Forensische Institut und damit die Polizei für die Gesichtserkennung einsetzt. Auf eine Frage des HCLU nach Marke und Typ antwortete das Institut, es nutze die verwendete Software nur als Klient und machte darüber hinaus keine Angaben.
Mehrere Tech-Konzerne und Unternehmen bieten Gesichtserkennungssoftware als Dienstleistung für Strafverfolgungsbehörden an, darunter US-Konzerne wie Microsoft und Amazon, aber auch chinesische Unternehmen für Überwachungstechnologien wie Dahua.
10. Wo wird der öffentliche Raum in Budapest bereits per Kamera überwacht?
Für die Identifikation von Teilnehmer*innen kann die Polizei auf Bilder aus Tausenden Überwachungskameras zurückgreifen. Laut einer Datenvisualisierung des Investigativmediums Atlo waren bereits 2019 mindestens 2.500 Kameras im Budapester Stadtgebiet installiert, betrieben von der Polizei, den Verkehrsbetrieben und den einzelnen Bezirken. Die höchste Überwachungsdichte haben dabei die Bezirke der Innenstadt – und damit auch die von den Veranstalter*innen gewünschte Route der Pride, die entlang der Prachtstraße Andrássy út führen soll.
Zusätzlich zu den fest installierten Kameras kann die Polizei außerdem mobile Kameras einsetzen, um die Demonstration zu filmen – und tut das auch regelmäßig, schreibt etwa das Hungarian Helsinki Committee.
11. Wie können sich Pride-Protestierende vor Gesichtserkennung schützen?
Das ist schwer zu sagen, weil nicht bekannt ist, welches System die ungarische Polizei zur Erkennung einsetzt. Leitfäden der Polizei zur Beschaffenheit der einzureichenden Bilder deuten aber darauf hin, dass maskierte Gesichter vom System nicht oder schlechter erkannt werden.
Das Hungarian Helsinki Committee rät allerdings davon ab, eine Maske zu tragen, sei es auch nicht eine medizinische. Denn auch in Ungarn gilt ein Vermummungsverbot auf Demonstrationen: Wer eine Maske trägt, begeht damit eine Straftat – während der Besuch der Pride nur eine Ordnungswidrigkeit wäre. Auch könnte die Maskierung eher dazu führen, dass man von der Polizei aufgefordert wird, sich auszuweisen. Und ja: Demonstrant*innen müssen einen Ausweis bei sich tragen und auf Aufforderung vorzeigen können.
12. Müssen Protestierende in Budapest mit Festnahmen oder Polizeigewalt rechnen?
Wer sich in Ungarn auf Aufforderung der Polizei nicht ausweist und sich anderen Anweisungen widersetzt, kann auch mit auf die Wache genommen und dort bis zu 12 Stunden lang festgehalten werden. Auch physische Gewalt darf die Polizei bei Widerstand einsetzen. Das gilt für die gesamte Demonstration, sollte diese aufgelöst werden und nicht freiwillig den Platz verlassen. Wie man sich in solche riskanten Situationen verhalten sollte, dazu informiert das Hungarian Helsinki Committee in einem ausführlichen FAQ. Die NGO hat zudem angekündigt, Betroffene rechtlich zu unterstützen.
Datenschutz & Sicherheit
„Passwort“ Folge 34: Lokale Sauereien von Meta und Yandex
Die Internetriesen Meta und Yandex sind beim Tracken ihrer Nutzer erwischt worden. Das klingt kaum nach einer Neuigkeit, doch der Knackpunkt ist die Art und Weise dieses Trackings: Facebook, Instagram, Yandex Maps und einige andere Yandex-Apps haben Nutzer auch dort verfolgt, wo es weder vertretbar noch technisch möglich erscheint: im Browser außerhalb der App.
Dabei haben Meta und Yandex nicht nur die expliziten Wünsche ihrer Nutzer ignoriert – gängige Anti-Tracking-Maßnahmen wie der Inkognito-Modus, sich auszuloggen oder Cookies zu löschen waren wirkungslos – sondern auch Sicherheitskonzepte von Android absichtlich ausgehebelt. Die Podcast-Hosts sehen sich an, wie skrupellos und trickreich die Firmen dabei vorgingen, gestützt auf die Analyse „Local Mess“. Unter diesem Titel dokumentierten die ursprünglichen Entdecker des Verhaltens ihre Ergebnisse.
Christopher und Sylvester ringen dabei immer wieder um Worte, denn das Vorgehen von Meta und Yandex ist so perfide, nutzerfeindlich und offensichtlich absichtlich, dass die Hosts kaum noch Unterschiede zu typischer Malware sehen. Im Podcast zeichnen die beiden nach, wie das Tracking technisch umgesetzt wurde – auch diese Tricks erinnern an klassische bösartige (und illegale) Software, was sie wenigstens interessant macht.
Außerdem diskutieren die Hosts, wie Meta und Yandex reagierten, als sie auf das Verhalten ihrer Apps angesprochen wurden, was eigentlich Google, die Hüterin der Play-Store- und Android-Richtlinien dazu sagt, und woran es liegen könnte, dass iOS offenbar nicht betroffen war. Zuletzt reden die beiden darüber, wie man sich vor solchen Methoden schützen kann und welche Vorschläge es gibt, dergleichen in Zukunft zu unterbinden. Denn eigentlich sollte niemand die Isolationsschichten zwischen Apps überwinden können, wenn Nutzer das nicht wollen – ganz gleich, ob die Apps von Hackern mit kriminellen Absichten oder von Firmen ohne moralischen Kompass stammen.
Das Chrome-Entwicklerteam hat zwischenzeitlich seine Pläne konkretisiert, lokale Netzwerkzugriffe aus dem Google-Browser heraus an die Erlaubnis des Nutzers zu knüpfen. Bereits mit Chrome 138 können Desktop-Nutzer den „Local Network Access“ testen, Android wird später folgen.
Die neueste Folge von „Passwort – der heise security Podcast“ steht seit Mittwochmorgen auf allen Podcast-Plattformen zum Anhören bereit.
(syt)
Datenschutz & Sicherheit
Achtstellige Passwörter unzureichend: Datenschutzstrafe für Genfirma 23andme
„23andme hat dabei versagt, grundlegende Maßnahmen zum Schutz personenbezogener Daten zu setzen“, zeiht John Edwards, Chef der britischen Datenschutzbehörde, das US-Unternehmen für Genanalysen, „Ihre Sicherheitssysteme waren inadäquat, die Warnsignale waren da und die Firma hat langsam reagiert.“ Das Ergebnis ist bekannt: Fast sieben Millionen Datensätze von Kunden 23andmes gelangten 2023 in falsche Hände und im Darknet zum Verkauf. Edwards Behörde verhängt nun eine Strafe von umgerechnet gut 2,7 Millionen Euro über die Genfirma.
Die der Strafe zugrundeliegende Untersuchung war gemeinsame Arbeit der britischen und der kanadischen Bundesdatenschutzbehörde. Letztere darf, sehr zum anhaltenden Ärger ihres Chefs Philippe Dufresne, keine Strafen verhängen, sondern muss sich auf die Feststellung beschränken, dass 23andme kanadisches Datenschutzrecht verletzt hat. Von der illegalen Offenlegung dürften etwa 320.000 Kanadier und rund 150.000 Briten betroffen sein.
Die Methode des Angreifers war banal: Credential Stuffing. Dabei werden Logins und Passwörter, die bei Einbrüchen in andere Dienste offengelegt worden sind, ausprobiert. Hat der User die gleiche Kombination eingesetzt, und gibt es keine Multifaktor-Authentifizierung, kann sich der Angreifer einloggen. Das ist bei 23andme im Jahr 2023 bei über 18.000 Konten gelungen. Viele 23andme-Kunden haben in ihren Konten die Option aktiviert, ihre Daten mit Verwandten zu teilen. Daher konnte der Angreifer über gut 18.000 Konten die Daten von fast sieben Millionen Menschen abgreifen.
Fünf Monate nichts mitbekommen
Fünf Monate lang, ab Ende April 2023, konnte der Täter ungestört ein Passwort nach dem anderen ausprobieren. Denn, so die kanadische und die britische Behörde, 23andme hatte ineffektive Erkennungssysteme sowie unzulängliches Logging und Monitoring. Zudem sei die Untersuchung von Anomalien inadäquat gewesen, sonst hätte 23andme die Vorgänge Monate früher als erst im Oktober 2023 erkannt.
Hinzu kommt unzureichende Vorbeugung. Die beiden Behörden kritisieren, dass 23andme keine verpflichtende Multifaktor-Authentifizierung (MFA) hatte, dass es nicht überprüft hat, ob Kunden anderswo kompromittierte Passwörter wiederverwenden, dass es keine zusätzliche Überprüfung bei der Anforderung der Gen-Rohdaten gab, und dass die Passwortregeln zu lasch waren: 23andme schrieb mindestens achtstellige Passwörter mit „minimalen Komplexitätsregeln“ vor; eine Richtlinie der britischen Datenschutzbehörde ICO (Information Commissioner’s Office) empfiehlt mindestens zehnstellige Passwörter ohne Zwang der Verwendung von Sonderzeichen und ohne Längenbeschränkung.
Selbst als 23andme die unberechtigten Zugriffe erkannt hatte, reagierte es nicht so, wie sich die Datenschutzbehörden das vorstellen. Es dauerte vier Tage, bis die Firma alle Passwörter zurücksetzte und laufende Sitzungen schloss. Bis zur Einführung verpflichtender MFA und zusätzlicher Absicherung der Rohdaten verging gar ein Monat. Zu allem Überdruss waren die rechtlich vorgeschriebenen Mitteilungen der Firma an die britische und die kanadische Datenschutzbehörde auch noch unvollständig.
Nach Insolvenz kommt Wojcicki wieder ans Ruder
Einige Monate nach dem Vorfall stellte 23andme Insolvenzantrag. Daher ist nicht gesichert, dass die britische Strafe in der festgesetzten Höhe bezahlt wird. Das Unternehmen könnte auch noch Rechtsmittel ergreifen.
23andme wurde 2006 gegründet, ist 2021 an die Börse gegangen, hat aber nie Gewinn geschrieben. Nach einigem Hin und Her im Insolvenzverfahren dürfte Mitgründern Anne Wojcicki über ihre Forschungsfirma TTAM die Konkursmasse 23andmes aus dem Konkursverfahren erwerben. TTAM hat dafür 305 Millionen US-Dollar geboten, mehr als die Pharmafirma Regeneron. Wojcicki war bis 2015 mit Google-Mitgründer Sergey Brin verheiratet und ist die jüngste Schwester der im August an Lungenkrebs verstorbenen Susan Wojcicki, der ersten Marketingleiterin Googles und langjährigen Chefin Youtubes.
(ds)
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