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Datenschutz & Sicherheit

Degitalisierung: Werte statt Vibes


Die heutige Degitalisierung blickt zu Beginn auf Werte und das, wofür Unternehmen im Digitalbereich stehen wollen. In der sich selbst als offen, demokratisch sehenden westlichen Welt ist der Juni eigentlich immer noch Pride-Month – in Erinnerung an den Juni 1969, als von Stonewall aus die Pride-Umzüge und der Kampf für Gleichberechtigung ihren Ursprung fanden.

Also eigentlich. Zumindest war das mit dem Pride-Month in Zeiten noch einfacher, in denen die gesamtpolitische Stimmung, der gesamtpolitische Vibe, noch etwas freundlicher der LGBTQIA+-Community gegenüber war, speziell in den USA. Die zweite Amtszeit Donald Trumps begann bereits am 20. Januar mit einem Dekret, das Diversity-, Equality- und Inklusions-Programme in den USA in der letzten Zeit mehr oder weniger gegen null zurückfahren ließ. Dieser Vibe, der sich als vermeintliche „Anti-Wokeness“ positioniert, bleibt dabei aber nicht alleinig bei US-Unternehmen wie T-Mobile USA stehen. Auch deutsche oder europäische Unternehmen wie Roche, UBS oder Novartis ändern daraufhin ihre DEI-Ziele in Europa – aus Angst um gute Geschäftsbeziehungen mit den USA.

Hervorzuheben ist dabei aber das Beispiel von SAP, dem aktuell wertvollsten Unternehmen im Deutschen Aktienindex. Dort wurde klammheimlich mit dem Hinweis auf mögliche Nachteile auf dem US-Markt die bisher angestrebte Frauenquote von 40 Prozent im Konzern aufgegeben. SAP stehe im harten Wettbewerb mit US-Unternehmen, die sich alle an die rechtlichen Vorgaben in den USA halten würden, so SAP-CEO Christian Klein. Ohne großen Widerstand scheinen sich Unternehmen aus der Digitalwirtschaft trotz vermeintlicher Versprechen von „digitaler Souveränität“ mit der protofaschistischen Kleptokratie in den USA gemein zu machen.

Anlass genug, etwas genauer auf das zu schauen, was Unternehmen, speziell im Digitalbereich, meinen, wenn sie von „Werten“ ihres Unternehmens oder der jeweiligen Produkte sprechen. Auch weil uns das auch sehr viel darüber verrät, wie Unternehmen mit der Digitalisierung und ihren zukünftigen Folgen umgehen werden.

Werte und Zahlen

Zugegeben, die sich seit ein paar Jahren alljährlich wiederholenden Pride-Bekundungen von Unternehmen sind oftmals sehr scheinheilig gewesen. Allein schon aufgrund der Tatsache, dass Pride bei global agierenden Unternehmen immer nur dort stolz in der Unternehmenskommunikation offen gezeigt wurde, wo dies opportun war. Opportun ist das aber eher nicht im Mittleren Osten, also lieber niemanden dort verschrecken, zumal dort etwa Homosexualität strafbar ist. Also lieber weiter so tun, als wäre die Welt grau in grau.

Unternehmen, speziell solche mit Aktionärsauftrag, stehen zwar primär für finanzielle Werte, werden aber zugleich nicht müde zu betonen, für welche tollen immateriellen Werte sie stehen. Bei SAP etwa geht es um „langfristigen sozialen Impact“, darum, dass die Produkte und Dienstleistungen des Unternehmens die Welt besser machen, so zumindest die nach wie vor vollmundigen Versprechungen der Corporate Social Responsibility.

Speziell vor dem Hintergrund des allzu schnellen Aufgebens der DEI-Ziele muss aber wieder attestiert werden: (Aktien-)Unternehmen erzeugen lieber Zahlen, die auf hoffentlich gute finanzielle Werte hindeuten, aber keine gesellschaftlichen Werte im eigentlichen Sinne. Grundrechte aller, sei es von Frauen, der LGBTQIA*-Community, migrantischer Menschen und sonstiger Gruppen, die nicht leichtfertig als „Minderheiten“ geframt werden können, lassen sich nur durch eine konstante, langanhaltende Unterstützung auch der Unternehmen erkämpfen. Stonewall was a riot – und eben keine Marketingkampagne.

Dieser scheinheilige, nur zu Marketingzwecken dienende Pseudowertekanon gilt freilich nicht nur für SAP, sondern auch für viele andere Unternehmen, die Support für Pride oder DEI eher als Feel-Good-Kommunikation nutzen. Guckt mal, wie offen und freundlich wir sind, da fällt es doch gleich viel leichter, unsere Produkte und Dienstleistungen zu kaufen, oder?

Am Ende ist der allzu schnelle Verrat der eigenen non-finanziellen Werte aber nur ein Beleg dafür, nie echte Werte gehabt zu haben. Tech-Unternehmen sind da in besonderer Weise anfällig für eine wertebasierte Flexibilität, die sich vor allem dann zeigt, wenn es um die Technikfolgen neuer Technologien und Dienste geht. Problematisch wird das aber besonders dann, wenn Unternehmen aus Wettbewerbsgründen auf die Abschaffung ganz anderer, bisher als unstrittig geltende Grundrechte hinarbeiten.

Voss will einpacken

Eine durchaus sehenswerte Unterhaltung fand auf der diesjährigen re:publica statt, und zwar zwischen dem ehemaligen Datenschutzbeauftragten und nun selbsternannten Aktivisten Ulrich Kelber und Axel Voss, seines Zeichens Mitglied im Europäischen Parlament für die konservative Europäische Volkspartei (EVP). Bekannter ist Voss vielleicht für digitalrechtliche Vorhaben wie die Uploadfilter, das Leistungsschutzrecht und andere Glanzleistungen der konservativen Digitalrechtsannihilation.

In der Diskussion zwischen Kelber und Voss kamen ein paar mögliche Rechtsanpassungen und -initiativen zur Sprache. Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) sollte etwa optimiert werden, aber natürlich nicht abgeschafft. Auch die Bürokratie sollte heruntergefahren werden. Anpassung an ein „technologisches Level“ nannte Voss das schelmisch schmunzelnd.

Ohne dringende Überarbeitung von anderen Grundrechten und Rechten wie etwa dem Urheberrecht in Hinblick auf sogenannte Künstliche Intelligenz sei es aber so, dass wir „einpacken“ können, würden wir hier nicht schnellstens rechtliche Anpassungen durchführen. Axel Voss’ Diktum „Ja, dann können wir einpacken“  stach in der Diskussion hervor. Würde das nicht passieren, „dann müssen wir uns nicht mehr überlegen, ob wir überhaupt noch im digitalen Rennen irgendwie mitmachen wollen“.

Eher nicht so überzeugend klang der Hinweis am Ende, dass der europäische Wertebezug nicht verhandelbar sei, wenn die Grundrechte im digitalen Raum wirtschaftsorientiert angepasst werden. Auch hier gilt: Grundrechte, die nicht verhandelbar sind, dürfen nicht dann zur Diskussion gestellt werden, wenn der wirtschaftlich getriebene Vibe gerade Schwierigkeiten mit Copyright und Rechten aus der DSGVO hat.


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Vielleicht ist das Problem dann eher, dass Techniken sogenannter künstlicher Intelligenz in der Form, wie sie heute betrieben werden, schlicht nicht mit Grundrechten harmonisierbar sind? Wer sich mit dem europäischen demokratischen Wertebezug schmücken will, darf diesen nicht je nach Stimmungslage zur Verhandlung stellen. Auch Grundrechte waren das Ergebnis von Aufständen – und eben keine politischen Marketingkampagnen zur Befriedigung von Wirtschaftsinteressen.

Werte sind keine Vibes

Der Aufstieg der sogenannten künstlichen Intelligenz und ihren gesamtgesellschaftlichen und scheinbar unausweichlichen, auch auf Grundrechte durchdringenden Veränderungen wurde seit Jahren begleitet von technokratischer Stimmungsmache, von der Furcht, etwas zu verpassen. Oftmals grandios übertrieben.

Betrieben wird sie auch von führenden Köpfen im Feld der KI-Forschung. Wie etwa von Geoffrey Hinton, der vor Jahren noch davor warnte, bloß keine neuen Radiolog*innen mehr auszubilden, die Technik würde sie bald schon obsolet machen. Eingetreten ist dieses Szenario in dieser Form nicht.

Ebenso ist das Narrativ von mehr Daten, mehr Rechenleistung, bessere Modelle wiederholt nicht eingetreten, trotz vermeintlich „nachdenkender“ Reasoningmodelle. Probleme wie Halluzinationen aber sind geblieben, sie sind sogar noch schlimmer als zuvor.

Speziell im Kontext der sogenannten künstlichen Intelligenz muss der Vibe, die Stimmung, dass der verheißene technologische wundersame Fortschritt jetzt ganz bald kommen werde, aber immer neu am Leben gehalten werden. Waren es erst große Sprachmodelle, brauchte es dann Reasoning-Modelle und jetzt eben KI-Agenten, die das nächste große Ding sein werden. Vorangetrieben wird all das von einer Kaste von Manager*innen, die das nächste große Tech-Ding in ihren Produkten haben müssen, ohne Rücksicht darauf, dass dies Sinnhaftigkeit ihres Kernproduktnutzens zerstört. Aber auch die Erstellung dieser sinnentleerten Digitalprodukte selbst ist nur noch Vibe Coding – ganz egal, ob das irgendwie besser ist.

Am Ende gibt es nur selten Neuerungen, die der Gesellschaft zugutekommen. Stattdessen erleben wir die weitere Aushöhlung von Grundrechten. Ganz egal, ob das einhergeht mit schon länger offensichtlichen großen Problemen wie Bias, digitalem Kolonialismus, immensem Ressourcen- und Energieverbrauch, hoher Machtkonzentration, ungehemmtem Datenkonsum, Wegbereitung des Faschismus, Plagiarismus und Desinformation. Für vermeintlich verheißungsvolle market opportunites einer sehr kleinen Gruppe an Tech-Unternehmern sollen immer wieder die Grundrechte und die Grundlagen einer gemeinsamen, lebenswerten Zukunft geopfert werden.

Das ist leider kein Vibe mehr, das ist die harte Realität.



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„Passwort“ Folge 34: Lokale Sauereien von Meta und Yandex


Die Internetriesen Meta und Yandex sind beim Tracken ihrer Nutzer erwischt worden. Das klingt kaum nach einer Neuigkeit, doch der Knackpunkt ist die Art und Weise dieses Trackings: Facebook, Instagram, Yandex Maps und einige andere Yandex-Apps haben Nutzer auch dort verfolgt, wo es weder vertretbar noch technisch möglich erscheint: im Browser außerhalb der App.

Dabei haben Meta und Yandex nicht nur die expliziten Wünsche ihrer Nutzer ignoriert – gängige Anti-Tracking-Maßnahmen wie der Inkognito-Modus, sich auszuloggen oder Cookies zu löschen waren wirkungslos – sondern auch Sicherheitskonzepte von Android absichtlich ausgehebelt. Die Podcast-Hosts sehen sich an, wie skrupellos und trickreich die Firmen dabei vorgingen, gestützt auf die Analyse „Local Mess“. Unter diesem Titel dokumentierten die ursprünglichen Entdecker des Verhaltens ihre Ergebnisse.

Christopher und Sylvester ringen dabei immer wieder um Worte, denn das Vorgehen von Meta und Yandex ist so perfide, nutzerfeindlich und offensichtlich absichtlich, dass die Hosts kaum noch Unterschiede zu typischer Malware sehen. Im Podcast zeichnen die beiden nach, wie das Tracking technisch umgesetzt wurde – auch diese Tricks erinnern an klassische bösartige (und illegale) Software, was sie wenigstens interessant macht.

Außerdem diskutieren die Hosts, wie Meta und Yandex reagierten, als sie auf das Verhalten ihrer Apps angesprochen wurden, was eigentlich Google, die Hüterin der Play-Store- und Android-Richtlinien dazu sagt, und woran es liegen könnte, dass iOS offenbar nicht betroffen war. Zuletzt reden die beiden darüber, wie man sich vor solchen Methoden schützen kann und welche Vorschläge es gibt, dergleichen in Zukunft zu unterbinden. Denn eigentlich sollte niemand die Isolationsschichten zwischen Apps überwinden können, wenn Nutzer das nicht wollen – ganz gleich, ob die Apps von Hackern mit kriminellen Absichten oder von Firmen ohne moralischen Kompass stammen.

Das Chrome-Entwicklerteam hat zwischenzeitlich seine Pläne konkretisiert, lokale Netzwerkzugriffe aus dem Google-Browser heraus an die Erlaubnis des Nutzers zu knüpfen. Bereits mit Chrome 138 können Desktop-Nutzer den „Local Network Access“ testen, Android wird später folgen.

Die neueste Folge von „Passwort – der heise security Podcast“ steht seit Mittwochmorgen auf allen Podcast-Plattformen zum Anhören bereit.


(syt)



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Achtstellige Passwörter unzureichend: Datenschutzstrafe für Genfirma 23andme


„23andme hat dabei versagt, grundlegende Maßnahmen zum Schutz personenbezogener Daten zu setzen“, zeiht John Edwards, Chef der britischen Datenschutzbehörde, das US-Unternehmen für Genanalysen, „Ihre Sicherheitssysteme waren inadäquat, die Warnsignale waren da und die Firma hat langsam reagiert.“ Das Ergebnis ist bekannt: Fast sieben Millionen Datensätze von Kunden 23andmes gelangten 2023 in falsche Hände und im Darknet zum Verkauf. Edwards Behörde verhängt nun eine Strafe von umgerechnet gut 2,7 Millionen Euro über die Genfirma.

Die der Strafe zugrundeliegende Untersuchung war gemeinsame Arbeit der britischen und der kanadischen Bundesdatenschutzbehörde. Letztere darf, sehr zum anhaltenden Ärger ihres Chefs Philippe Dufresne, keine Strafen verhängen, sondern muss sich auf die Feststellung beschränken, dass 23andme kanadisches Datenschutzrecht verletzt hat. Von der illegalen Offenlegung dürften etwa 320.000 Kanadier und rund 150.000 Briten betroffen sein.

Die Methode des Angreifers war banal: Credential Stuffing. Dabei werden Logins und Passwörter, die bei Einbrüchen in andere Dienste offengelegt worden sind, ausprobiert. Hat der User die gleiche Kombination eingesetzt, und gibt es keine Multifaktor-Authentifizierung, kann sich der Angreifer einloggen. Das ist bei 23andme im Jahr 2023 bei über 18.000 Konten gelungen. Viele 23andme-Kunden haben in ihren Konten die Option aktiviert, ihre Daten mit Verwandten zu teilen. Daher konnte der Angreifer über gut 18.000 Konten die Daten von fast sieben Millionen Menschen abgreifen.

Fünf Monate lang, ab Ende April 2023, konnte der Täter ungestört ein Passwort nach dem anderen ausprobieren. Denn, so die kanadische und die britische Behörde, 23andme hatte ineffektive Erkennungssysteme sowie unzulängliches Logging und Monitoring. Zudem sei die Untersuchung von Anomalien inadäquat gewesen, sonst hätte 23andme die Vorgänge Monate früher als erst im Oktober 2023 erkannt.

Hinzu kommt unzureichende Vorbeugung. Die beiden Behörden kritisieren, dass 23andme keine verpflichtende Multifaktor-Authentifizierung (MFA) hatte, dass es nicht überprüft hat, ob Kunden anderswo kompromittierte Passwörter wiederverwenden, dass es keine zusätzliche Überprüfung bei der Anforderung der Gen-Rohdaten gab, und dass die Passwortregeln zu lasch waren: 23andme schrieb mindestens achtstellige Passwörter mit „minimalen Komplexitätsregeln“ vor; eine Richtlinie der britischen Datenschutzbehörde ICO (Information Commissioner’s Office) empfiehlt mindestens zehnstellige Passwörter ohne Zwang der Verwendung von Sonderzeichen und ohne Längenbeschränkung.

Selbst als 23andme die unberechtigten Zugriffe erkannt hatte, reagierte es nicht so, wie sich die Datenschutzbehörden das vorstellen. Es dauerte vier Tage, bis die Firma alle Passwörter zurücksetzte und laufende Sitzungen schloss. Bis zur Einführung verpflichtender MFA und zusätzlicher Absicherung der Rohdaten verging gar ein Monat. Zu allem Überdruss waren die rechtlich vorgeschriebenen Mitteilungen der Firma an die britische und die kanadische Datenschutzbehörde auch noch unvollständig.

Einige Monate nach dem Vorfall stellte 23andme Insolvenzantrag. Daher ist nicht gesichert, dass die britische Strafe in der festgesetzten Höhe bezahlt wird. Das Unternehmen könnte auch noch Rechtsmittel ergreifen.

23andme wurde 2006 gegründet, ist 2021 an die Börse gegangen, hat aber nie Gewinn geschrieben. Nach einigem Hin und Her im Insolvenzverfahren dürfte Mitgründern Anne Wojcicki über ihre Forschungsfirma TTAM die Konkursmasse 23andmes aus dem Konkursverfahren erwerben. TTAM hat dafür 305 Millionen US-Dollar geboten, mehr als die Pharmafirma Regeneron. Wojcicki war bis 2015 mit Google-Mitgründer Sergey Brin verheiratet und ist die jüngste Schwester der im August an Lungenkrebs verstorbenen Susan Wojcicki, der ersten Marketingleiterin Googles und langjährigen Chefin Youtubes.


(ds)



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Trump setzt auf „strategisches Chaos“


Die politische Lage in den USA spitzt sich zu. Vergangene Woche hat der autoritär auftretende Präsident Donald Trump Militärtruppen nach Kalifornien entsandt, um Proteste gegen die Einwanderungsbehörde ICE zu ersticken. Erschreckende Bilder wie die Abführung des demokratischen Senators von Kalifornien, Alex Padilla, gingen um die Welt.

Am Wochenende nahm Trump an seinem Geburtstag eine Militärparade in der Hauptstadt Washington ab – höchst ungewöhnlich für die USA, selbst wenn die Armee am gleichen Tag ihren 250. Geburtstag hatte. Zugleich regt sich immer mehr Widerstand in der Bevölkerung, nicht nur in Los Angeles. Landesweit kam es am Samstag zu massiven Protesten unter dem Motto „No King“ – „Kein König“ in mehr als 2.000 Städten.

Sind die USA noch vor der autoritären Komplettübernahme durch Trump und seine Bewegung zu retten? Wir haben den Verfassungsrechtler Anthony Michael Kreis gefragt, was gerade passiert und worauf es jetzt ankommt. Kreis ist Professor an der Georgia State University und begleitet die Umwälzungen kritisch unter anderem auf Bluesky.

Man in suit with mustache
Anthony Michael Kreis. – Alle Rechte vorbehalten private

Das Interview wurde auf Englisch geführt und lässt sich hier im Original nachlesen.

„Strategisches Chaos“ der Trump-Regierung

netzpolitik.org: Hierzulande beobachten viele Menschen ungläubig, was mit einem der wichtigsten Verbündeten Deutschlands und einem Land geschieht, das sie immer als stabile Demokratie wahrgenommen haben. Wie würden Sie die Ereignisse der vergangenen Monate in Ihrem Land beschreiben?

Anthony Kreis: Das Beste, was ich dazu sagen kann, ist „strategisches Chaos“. Die Trump-Regierung arbeitet mit Hochdruck daran, Institutionen zu zerstören und die Handlungsfähigkeit des Staates zu schwächen, oft unter Missachtung des Rechts. Und sie vertritt Positionen, die die Verfassung zutiefst verletzen. Leider gab es so viele Angriffe auf die Verfassung und die amerikanische Demokratie, dass es schwer ist, den Überblick zu behalten.

netzpolitik.org: Wie wir in den zurückliegenden Wochen gesehen haben, hat Donald Trump Nationalgarde und Marines in Kalifornien eingesetzt, um Proteste niederzuschlagen. Gibt es dafür einen Präzedenzfall, und was sagt das Gesetz über den Einsatz von Streitkräften im Inland?

Anthony Kreis: Der Einsatz von Bundestruppen oder der Nationalgarde ist äußerst selten – insbesondere, weil die lokalen Behörden nicht um Unterstützung gebeten haben. Nach amerikanischem Recht ist es unzulässig, Bundestruppen zur Durchsetzung ziviler Gesetze einzusetzen. Sie können Bundesgebäude und Beamte schützen, aber in der Regel ist dies eine Maßnahme der letzten Instanz. Die Tatsache, dass der Präsident so leichtfertig Truppen auf amerikanischen Straßen einsetzt, lässt mich vermuten, dass es hier um eine Machtdemonstration geht – und nicht um die Durchsetzung des Gesetzes und die Aufrechterhaltung der Ordnung. Angesichts der relativ isolierten Natur des Problems inmitten überwiegend friedlicher Demonstrierender hätte das alles auch von nichtmilitärischem Personal geleistet werden können.

Demokratie am Tiefpunkt

netzpolitik.org: Wenn das Ziel darin bestand, die Zivilgesellschaft von Protest abzuschrecken, scheint es gescheitert zu sein: Am vergangenen Wochenende gab es im ganzen Land massive „No King”-Proteste, selbst angesichts der politisch motivierten Ermordung einer demokratischen Abgeordneten in Minnesota. Wie gesund ist die US-Zivilgesellschaft derzeit, und wie mächtig können Proteste sein, um Veränderungen zu bewirken?

Anthony Kreis: Die amerikanische Demokratie befindet sich derzeit an einem Tiefpunkt. Die Drohungen mit politischer Gewalt, die Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und die Versuche, demokratische Institutionen auszuhöhlen, zeigen, wie ernst die Lage ist. Proteste können natürlich dazu beitragen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren und die Menschen zu ermutigen, sich am politischen Prozess zu beteiligen. Letztendlich müssen die Menschen jedoch protestieren – und wählen gehen. Es wird ein langfristiges, ernsthaftes Engagement von Millionen von Amerikanern erfordern, um dieses jüngste Kapitel des demokratischen Rückschritts in den USA zu beenden.

netzpolitik.org: Wahlen funktionieren nur, wenn sie Konsequenzen haben. Aber es scheint, dass der Kongress keinen nennenswerten Druck auf Trump ausübt. Ist das ein Problem, das durch das US-Verfassungssystem verursacht wird? Oder ist ein politisches Problem?

Anthony Kreis: Wir sprechen oft davon, dass die drei Gewalten sich gegenseitig kontrollieren und ausgleichen. Historisch gesehen geht es jedoch eher um die Trennung der Parteien als um die Trennung der Gewalten. Solange die Republikaner den Kongress und den Verfassungsgerichtshof kontrollieren, wird es weniger institutionellen Widerstand seitens der Legislative und der Judikative geben. Damit dies geschieht, müsste sich die Lage grundlegend ändern und Trump an Popularität unter den Republikanern verlieren. Ansonsten hängt für die Demokraten viel von den Wahlen im Jahr 2026 ab. Das ist dann ihre einzige echte Chance, den Abwärtstrend zu stoppen.

USA in der Verfassungskrise

netzpolitik.org: Haben die Demokraten bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt oder haben sie noch Optionen?

Anthony Kreis: Sie haben kaum andere Möglichkeiten, als die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Bislang haben sie das nicht besonders gut gemacht.

netzpolitik.org: Bis zu den Wahlen 2026 wird also der Supreme Court in den meisten dieser Fragen das letzte Wort haben. Bislang waren seine Entscheidungen für die Trump-Regierung eher durchwachsen. Aber Trump versucht weiterhin, offensichtlich illegale Anordnungen durchzusetzen, sei es der Einsatz des Militärs im Inland oder die Abschaffung des verfassungsmäßig garantierten Geburtsortsprinzips. Wir haben bereits gesehen, dass Trump Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs ignoriert hat. Befinden sich die USA bereits in einer Verfassungskrise?

Anthony Kreis: Jeder wird „Verfassungskrise” anders definieren. Für mich ist es ein Moment, in dem die Rechtsstaatlichkeit bedroht ist und die Machthaber versuchen, Regeln und Institutionen außerhalb eines legitimen Prozesses zu ändern – mit anderen Worten: willkürliche und instabile Regierungsführung („Governance“). Das ist seit Januar der Zustand in Amerika. Ich würde sagen, wir befinden uns in einer Verfassungskrise.



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