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„Fatales Zeichen, wenn Protest verhindert werden soll“


Am kommenden Wochenende hat die AfD-Jugend vor, sich auf dem privaten Messegelände der hessischen Stadt Gießen neu zu gründen. Dazu hat die Nachfolgeorganisation der als rechtsextrem eingestuften „Jungen Alternative“ auch zahlreiche Vertreter aus parteinahen rechtsextremen Netzwerken eingeladen.

Gegen die Gründungsveranstaltung gibt es antifaschistische Proteste, zu denen aus dem gesamten Bundesgebiet mobilisiert wird. Tausende Menschen werden erwartet, breite politische Bündnisse bis ins bürgerliche Lager rufen zum Widerstand auf. Mehr als 200 Busse mit Demonstrierenden sollen aus dem ganzen Land in die hessische Universitätsstadt fahren, auch Blockaden der Anfahrtswege der Rechtsradikalen sind angekündigt.

Faktische Demonstrationsverbotszone geplant

Bislang war geplant, dass die Proteste auf der Westseite der Stadt in der Nähe des Messegeländes stattfinden. Die Versammlungsorte hatte die Stadt Gießen laut einem Bericht der dpa selbst den Anmeldern vorgeschlagen. Laut dem Bericht hat der Deutsche Gewerkschaftsbund dort zwei Kundgebungen und die Partei die Linke eine Kundgebung angemeldet.

Doch die Stadt Gießen hat nun die gesamte Westseite der Stadt zur demonstrationsfreien Zone erklärt – aus angeblichen Sicherheitsgründen. Sie beteuert gleichzeitig, dass es sich nicht um Versammlungsverbote oder eine allgemeine Verfügung handele. Jeder einzelne Anmelder erhalte eine individuelle Bearbeitung und Verfügung, so die Pressesprecherin der Stadt gegenüber netzpolitik.org. Faktisch bedeuten diese Verfügungen aber, dass in der Nähe der rechtsradikalen Veranstaltung keine Gegenproteste stattfinden können.

Sowohl die Linke wie auch der DGB wehren sich vor dem Verwaltungsgericht Gießen gegen die Verlegung der Kundgebungen in weite Ferne der Messehallen. Wann die Eilanträge entschieden werden, ist laut der dpa noch nicht bekannt.

„Fatales Zeichen, wenn der Protest verhindert werden soll“

„Unsere Versammlung wird gezielt weg von der Hessenhalle verlegt – also weg aus Sicht- und Hörweite der AfD-Jugend“, sagt Natalie Maurer, Kreisvorsitzende der Linken in Gießen, gegenüber netzpolitik.org. „Das ist ein schwerer Eingriff in ein zentrales Grundrecht.“ Weil die Stadt keine tragfähige Gefahrenprognose geliefert habe, sowie mit falschen Behauptungen und formellen Fehlern agiere, habe die Linke einen Eilantrag gegen diese Verfügung eingereicht. „Wir als Linke Gießen verteidigen damit nicht nur unsere eigene Versammlung, sondern das Recht aller Menschen, sichtbar und wirksam gegen Faschismus und die extreme Rechte zu demonstrieren“, so Maurer weiter.

Desiree Becker, Landesvorsitzende der Linkspartei in Hessen, hält es für ein fatales Zeichen, wenn jetzt Kundgebungen vor Ort untersagt würden durch unbegründete Eingriffe. Sie fordert: „Die Beschränkungsverfügungen müssen zurückgenommen werden.“

Die Versammlungsfreiheit darf nicht der Polizeitaktik geopfert werden

Ein ominöser Aufruf und Fluchtwege

Die Stadt beruft sich auf eine Gefahrenanalyse der Polizei, wonach durch die Demos in der Nähe der rechtsradikalen Veranstaltung eine „Gefahr für die Unversehrtheit der Teilnehmer“ bestünde. Davor hatte Hessens Innenminister Roman Poseck in Medien auf einen dubiosen anonymen Aufruf auf einer schweizerischen Webseite verwiesen. Darin ist von einem „brennenden Gießen“ die Rede. Laut einem weiteren Medienbericht rechnet die Polizei mit Gewalt am Wochenende, rechtsradikale Accounts in sozialen Medien befeuern ein Gewaltszenario und schüren Angst.

In der 23 Seiten langen Verfügung des Ordnungsamtes, die netzpolitik.org einsehen konnte, erlässt die Behörde Einschränkungen auf Grundlage des § 14 Abs. 1 des Hessischen Versammlungsfreiheitsgesetzes (HVersFG), also wegen einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.

In der Begründung schreibt das Amt sinngemäß, dass es rund um die Veranstaltungshalle nicht genug Platz gäbe und dass Einsatzfahrzeuge behindert werden könnten. „Eine Verlegung der Versammlungsfläche zur Freihaltung dieser Wege ist aus diesem Grund zwingend erforderlich und verhältnismäßig, da sie der Wahrung überragender Schutzgüter, sprich Leben und Gesundheit, dient“, heißt es im Schreiben.

Weitere harte Auflagen

Zudem argumentiert die Stadt mit angeblichen Straftaten anderer in Gießen aufrufender Organisationen und postuliert eine „Durchmischung des erwarteten friedlichen (Massen-) Protestes mit Personen, die dem gewaltbereiten Spektrum zuzuordnen sind“.

Durch die Verlegung der Versammlungsflächen auf die andere Seite der Stadt bleibe die anzustrebende Hör- und Sichtweite in einem angemessenen Umfang weiterhin bestehen, behauptet das Ordnungsamt.

Die Verfügung verlegt nicht nur die Versammlung auf die andere Seite der Stadt, sondern erteilt auch weitere ungewöhnlich harte Auflagen. Unter anderem enthält sie eine Lautstärkebegrenzung auf 65 Dezibel für die Kundgebung, die Auflage pro 25 Demonstrierenden einen Ordner zu stellen sowie zahlreiche weitere Einschränkungen.

Polizeitaktik vs. Versammlungsfreiheit

Für die Polizei bedeutet eine faktische Verbotszone auf der Westseite der Stadt einen taktischen Vorteil. Sie kann durch die natürliche Grenze des Flusses Lahn und mit wenigen kontrollierbaren Brücken die Demonstrierenden davon abhalten, in der Nähe des Messegeländes zu protestieren und so einfacher dafür sorgen, dass das Rechtsradikalen-Treffen ohne Störung stattfindet.

Die durch Gießen fließende Lahn würde genutzt, damit Gegenproteste nicht in Hör- und Sichtweite stattfinden können. CC-BY-SA 4.0 ab2211 / Wikimedia

Gleichzeitig hätte die Polizei im Umgang mit dann unangemeldet demonstrierenden Personen deutlich mehr Befugnisse als wenn diese den Schutz einer Versammlung genießen würden.

Auf einer Informationsseite hat die Stadt verkündet, dass die Brücken gesperrt sind und Anwohner:innen einen Ausweis dabei haben sollen, um zu beweisen, dass sie in der Weststadt wohnen.

Proteste müssen in Hör- und Sichtweite stattfinden können

Dass die Maßnahme dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit widersprechen, sagen nicht nur die Anmelder, sondern auch David Werdermann von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF): „Die Versammlungsfreiheit umfasst auch die freie Wahl des Ortes, dem insbesondere bei Gegenprotesten eine besondere Bedeutung zukommt.“

Der kommunikative Zweck würde nur erreicht, wenn die Proteste in Sicht- und Hörweite ihres Gegenstandes – hier die Gründungsversammlung der AfD-Jugend – stattfinden könnten, so Werdermann. „Versammlungsfreie Zonen mögen zwar aus polizeitaktischer Sicht praktisch sein, sind aber unter Berücksichtigung der Versammlungsfreiheit unverhältnismäßig.“

Auch Muraj Mailitafi vom Bündnis Widersetzen, das zu Blockaden aufruft, kritisiert die Einschränkungen gegenüber dem ND: „Die Stadt Gießen muss sich entscheiden: Ist sie für Demokratie und Weltoffenheit – oder rollt sie dem Faschismus den roten Teppich aus. Beides zusammen geht nicht. Aber wir lassen uns nicht aufhalten: Wir werden uns der Gründung der AfD-Jugend widersetzen“.

Aufhalten lassen hat sich auch nicht das Zentrum für politische Schönheit (ZPS). Die Aktionskünstler haben in der „Verbotszone“ direkt an der Messehalle ein Privatgelände gemietet und dort schon am Montag eine Versammlung angemeldet, die noch bis Sonntag laufen soll. Auf dem Gelände steht seit Montag der bundesweit bekannte Adenauer-Protestbus. Diese Kundgebung ist bislang noch nicht verboten, wie ein Sprecher des ZPS berichtet.



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