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Datenschutz & Sicherheit

Frontex schickte jahrelang unrechtmäßig Daten an Europol


„Mein ganzes Leben war in dieser Polizeiakte: meine Verwandten, meine Anrufe bei meiner Mutter, sogar falsche Angaben über mein Sexualleben. Sie wollten mich als sexuell freizügige Lesbe darstellen und mich über Moralvorstellungen diskreditieren“, sagt Helena Maleno, eine prominente Menschenrechtsverteidigerin. Wenn Migrant:innen auf dem Weg nach Europa in Seenot geraten, informiert sie die Behörden. Durch ihre Arbeit ist sie ins Visier von Strafverfolgungsbehörden geraten. Aber ausgerechnet eine strafrechtliche Ermittlung, die vor mehr als einem Jahrzehnt begann, enthüllte das Netz, das um sie gespannt worden war.

Ihre Akte bei der spanischen Polizei enthielt drei Berichte der EU-Grenzschutzagentur Frontex über Befragungen von Migrant:innen, die 2015 und 2016 mit Booten in Spanien angekommen waren. In den Berichten, die das Recherche-Team eingesehen hat, trugen Frontex-Beamt:innen Informationen auch von ihrem Facebook-Account zusammen und rückten sie in die Nähe von Schleusernetzwerken. Die spanische Polizei erhielt diese Frontex-Berichte Ende 2016 aus der Strafverfolgungsdatenbank von Europol, der EU-Polizeibehörde.

Ein spanischer Staatsanwalt stellte das Verfahren im April 2017 ein, da er an Malenos Handlungen nichts Strafbares feststellen konnte. Dennoch gab die Polizei die Akte ohne ordnungsgemäßes Verfahren an marokkanische Behörden weiter. Dort wurden neue Ermittlungen gegen Maleno eingeleitet, wegen Schleusung und Beihilfe zur irregulären Migration.

Als Maleno später im selben Jahr vor Gericht in Tanger aussagen musste und sich der Richter direkt auf die Frontex-Berichte bezog, war sie fassungslos. „Ich war völlig perplex“, sagt Maleno. „Der Richter befragte mich gezielt zu den Informationen in den Dokumenten der spanischen Polizei und von Frontex. Es war surreal.“ 2019 sprach das marokkanische Gericht sie von allen Vorwürfen frei.

Portrait von Helena Maleno
Die Menschenrechtsverteidigerin Helena Maleno – Alle Rechte vorbehalten Fuente Caminando Fronteras

Doch Fragen bleiben.“Wie ist es möglich, dass Frontex Migrant:innen über mich befragt hat?“, fragt Maleno. „Ist es wirklich ihre Aufgabe, Menschenrechtsaktivist:innen auszuspionieren?“

Die juristischen Qualen für Maleno mögen beendet sein, aber ihr Fall zeigt erstmals, wie Frontex und Europol durch undurchsichtigen und rechtlich fragwürdigen Umgang mit Daten zur Kriminalisierung von Aktivist:innen beitragen können.

Tatsächlich ist Maleno ist nur eine von Tausenden Personen, deren personenbezogene Daten von Frontex durch „Debriefing Interviews“ gesammelt wurden. Das sind Befragungen von Geflüchteten nach ihrer Ankunft in Europa. Sie werden von Fachleuten als „verdeckte Verhöre“ bezeichnet und bieten keine grundlegenden rechtlichen Garantien. Auch die EU-Bürgerbeauftragte beschäftigte sich bereits mit dem Thema. 2023 forderte sie Frontex nach Beschwerden dazu auf, mehr zu tun, um die Grundrechte von Geflüchteten bei den Befragungen zu sichern.

Im Laufe von acht Jahren, zwischen 2016 und 2023, hat Frontex die Daten von mehr als 13.000 Menschen unrechtmäßig an Europol weitergeleitet, wo sie in Ermittlungsakten gespeichert und für Ermittlungen der Polizeibehörden der EU-Mitgliedstaaten verwendet wurden.

Seit Jahren warnen Menschenrechtsaktivisten vor einem beunruhigenden Trend: der Kriminalisierung von Geflüchteten sowie von EU-Bürgern, die an den europäischen Außengrenzen humanitäre Hilfe leisten. Die Kriminalisierung findet häufig auf wackeliger rechtlicher Grundlage und mit dürftigen Beweisen statt. Die undurchsichtige Rolle von Europol und Frontex – Behörden, die an vorderster Front der EU-Maßnahmen zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität stehen – ist jedoch weitgehend der Überprüfung durch die Öffentlichkeit entzogen.

Diese Recherche wird veröffentlicht von Le Monde, El País und Solomon. Sie basiert auf hunderten von Seiten interner Dokumente und Interviews mit Datenschutzfachleuten, Anwält:innen, Insidern und wichtigen Akteuren. Die Ergebnisse werfen ernsthafte Fragen über die Rolle von Frontex und Europol auf.

Im Netz

Einer, der nicht wusste, dass sowohl Frontex als auch Europol Informationen über seine Aktivitäten haben, ist Tommy Olsen. Der 52-jährige Erzieher aus Norwegen unterstützt seit vielen Jahren Menschen, die über die gefährliche Route von der Türkei nach Griechenland einreisen. Er dokumentiert gewaltsame Pushbacks von Schlauchbooten durch die griechische Küstenwache. Seit 2019 ermittelten griechische Behörden gegen Olsen. Sie werfen ihm vor, an der Schleusung von Geflüchteten beteiligt zu sein. Diesen Vorwurf weist er entschieden zurück.

Ganzkörperfoto von Tommy Olsen
Tommy Olsen von Aegean Boat Report

Informationsfreiheitsanfragen für diese Recherche haben gezeigt, dass Europols „Zentrum zur Bekämpfung der Migrantenschleusung“ über mindestens drei „Erkenntnisberichte“ verfügt, in denen Aegean Boat Report erwähnt wird – Olsens Ein-Mann-Organisation. Europol weigerte sich, den „hochsensiblen“ Inhalt offenzulegen, der über die Netzanwendung für sicheren Datenaustausch (SIENA) von Europol verbreitet wurde, da er angeblich „unmittelbar relevant für vergangene und laufende Ermittlungen“ der Strafverfolgungsbehörden sei.

Nur wenige Tage nach den beiden SIENA-Übertragungen von Europol im Mai 2024 erließ ein griechischer Staatsanwalt auf der Insel Kos einen neuen Haftbefehl gegen Olsen. Während sieben frühere Ermittlungen gegen Olsen eingestellt wurden, droht ihm nun eine Freiheitsstrafe von 20 Jahren.

„Ich hatte keine Ahnung, dass Europol Akten über mich hat. Warum sammeln und teilen sie Daten über meine Aktivitäten und meine Organisation, die lediglich versucht, die Rechte von Geflüchteten zu verteidigen?“

Auch Frontex hat sich geweigert, zwei Debriefing-Berichte freizugeben, die wahrscheinlich an Europol weitergeleitet wurden und in denen Olsens Organisation erwähnt wird. Als Begründung nannte Frontex die Vertraulichkeit des Vorgangs. Außerdem enthielten die Berichte Informationen über „Routen, Vorgehensweisen und die Beteiligung von Schleusern und Menschenhändlern“.

Olsen ist nicht der einzige bekannte Menschenrechtsverteidiger, von dem Informationen über seine Aktivitäten in der Datenbank von Europol gelandet sind.

Im Mai 2022 erfuhr die österreichische Aktivistin Natalie Gruber, dass Europol auch eine Akte über sie führt, nachdem sie einen Antrag auf Datenauskunft über sich gestellt hatte – eines der wenigen rechtlichen Mittel, mit denen Einzelpersonen überprüfen können, welche Daten EU-Behörden über sie gespeichert haben.

Gruber ist Mitbegründerin von Josoor, einer kleinen NGO, die Überlebende von Pushbacks aus Bulgarien und Griechenland in die Türkei unterstützt und diese dokumentiert. Sie geriet ins Visier der Europol-Ermittler, nachdem griechische Staatsanwälte mehrere Anklagen gegen sie erhoben hatten, darunter wegen Beihilfe zur illegalen Einreise von Migrant:innen. Ein Verfahren gegen sie auf Lesbos wurde letztes Jahr eingestellt, ein zweites läuft noch.

Foto von Gruber vor einem See
Natalie Gruber von der NGO josoor – Alle Rechte vorbehalten Fund for Global Human Rights

Europol hat sich geweigert, den Inhalt ihrer Akte offenzulegen, mit der Begründung, dies könne „Ermittlungen gefährden“ und seine Arbeit behindern. Gruber hat gegen diese Ablehnung schon 2022 Beschwerde beim Europäischen Datenschutzbeauftragten (EDSB) eingereicht, bisher ohne Ergebnis.

„Man steht diesem Bürokratiemonster gegenüber, das einem nie antwortet. Jedes Mal kann man nur einen neuen Antrag stellen und warten. Jahre vergehen. Das ist anstrengend – und es hat tiefgreifende Auswirkungen auf das eigene Leben“, sagt Gruber.

Wie genau Europol an Informationen über Gruber und Olsen gelangt ist und ob diese zur Einleitung der Strafverfahren gegen sie beigetragen haben, bleibt unklar. Olsen hat im April einen eigenen Antrag auf Datenauskunft bei Europol eingereicht.

Er hat große Sorgen, welche Folgen es für ihn haben könnte, dass er in der Datenbank von Europol gelandet ist. „Ich finde es sehr beunruhigend, wenn solche Informationen von EU-Behörden weitergegeben werden. Könnte das in Zukunft zu Problemen führen, wenn ich ein Visum beantrage? Es macht mir auf jeden Fall noch mehr Angst zu reisen“, sagte er.

Menschen werden zu „Verdächtigen“

Im Dezember letzten Jahres schickte Nayra Perez, die damalige Leiterin der Datenschutzabteilung von Frontex, eine E-Mail an den Exekutivdirektor Hans Leijtens, seinen Stellvertreter Uku Särekanno und den Vorsitzenden des Verwaltungsrats – dem wichtigsten Entscheidungsgremium von Frontex.

„Der Europäische Datenschutzbeauftragte hat festgestellt, dass Frontex vier Jahre lang unrechtmäßig personenbezogene Daten an Europol übermittelt hat“, schrieb Perez.

Im Mittelpunkt der Untersuchung des EDSB standen die Debriefing-Befragungen von Frontex an den Außengrenzen Europas. Von den Anlegestellen in Lampedusa und Spanien bis zu den Lagern auf den griechischen Inseln haben die „Debriefer“ von Frontex zusammen mit den nationalen Polizeibehörden jedes Jahr Tausende solcher Befragungen durchgeführt.

Die Frontex-Beamt:innen wurden von der Agentur angewiesen, Migrant:innen trotz ihrer prekären Lage so schnell wie möglich nach ihrem Aufgreifen oder ihrer Ankunft zu befragen. Die Fragen der Frontex-Beamt:innen beziehen sich auf die Gründe für die Flucht aus ihrem Heimatland, ihre Reisewege sowie die Vorgehensweise von Schleusernetzwerken.

Während Frontex die Befragungen als völlig freiwillig darstellt und nicht aktiv personenbezogene Daten der Befragten erfasst, argumentieren Rechtsfachleute, dass die für polizeiliche Vernehmungen üblichen rechtlichen Garantien fehlen, wodurch laut EDSB „die Unschuldsvermutung, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf Schweigen“ der Befragten gefährdet sind.

Frontex hat keinen gesetzlichen Auftrag, proaktiv Straftaten zu untersuchen. Die Einschätzung des EDSB ist eindeutig: „Frontex darf nicht systematisch, proaktiv und eigenständig Informationen über Verdächtige grenzüberschreitender Straftaten sammeln.“

Genau das hat Frontex jedoch getan. Ein vorläufiger Bericht der Untersuchung des EDSB vom Mai 2023 ergab, dass Frontex routinemäßig alle Personen, die während einer Nachbesprechung erwähnt wurden, als „Verdächtige“ einstufte und diese Informationen an Europol weiterleitete.

Darunter befanden sich auch „Daten von Personen, von denen die befragte Person gehört oder die sie gesehen hat, deren Namen sie jedoch nicht überprüfen konnte, sowie Daten von Personen, die sie aus Angst oder in der Hoffnung auf Vorteile erwähnt hat“.

Der Anwalt Daniel Arencibia vertritt Migrant:innen, gegen die auf den Kanarischen Inseln wegen Schleusung ermittelt wird. Dutzende Geflüchtete wurden dort gerichtlich verurteilt, weil sie Boote gesteuert hatten. „Was Frontex während dieser Befragungen tut, findet in einer Black Box statt, ohne reguläre Strafverfahren oder rechtliche Garantien, die schutzbedürftige Migrant:innen vor Kriminalisierung schützen könnten.“

Es ist keineswegs harmlos, wenn Frontex-Beamt:innen Geflüchtete nach Personen fragen, die ihnen die Reise ermöglicht haben – also mutmaßliche Schleuser:innen. 2024 setzte Frontex mehr als 800 Beamt:innen für die Befragungen ein, sie sind die „größte operative Erhebung personenbezogener Daten bei Frontex“ der fast eine Milliarde Euro schweren EU-Agentur mit Sitz in Warschau.

„Diese Befragungen sind Teil eines Systems, das Menschen ins Gefängnis bringt. Aber es ist extrem schwierig zu überprüfen, wie genau Frontex Daten mit anderen Akteuren austauscht, weil wir Anwält:innen im Unklaren gelassen werden“, sagt Arencibia.

Diese Intransparenz behindert nicht nur die rechtliche Kontrolle, sondern verstärkt auch eine zutiefst problematische Sichtweise auf Schleusung, die die Art und Weise prägt, wie Daten erhoben und verwendet werden.

Gabriella Sanchez, Wissenschaftlerin an der Georgetown University und ehemalige Ermittlerin mit Schwerpunkt auf Schleusung, erklärt: „Die Vorstellung von Schleuserkriminalität, von der Frontex und Europol ausgehen, ist unglaublich simpel, aber mächtig. Sie geht davon aus, dass alle Schleuser Männer sind, die in Netzwerken organisiert sind, und basiert auf zutiefst rassistischen Vorstellungen. Tatsächlich werden Migrant:innen systematisch beschuldigt, ihre eigene Schleusung durchzuführen, was die Kriminalisierung verstärkt. In anderen Worten: Tausende von Menschen in der EU – insbesondere junge Männer und Kinder, die aufgrund ihres Aussehens diskriminiert werden – geraten in die Fänge der Datenerfassung.“

Auszug aus dem Bericht des Europäischen Datenschutzbeauftragten
Auszug aus dem Bericht des Europäischen Datenschutzbeauftragten – Screenshot

Unrechtmäßige Übermittlungen an Europol

Nach dem aktuellen gesetzlichen Auftrag von Frontex aus dem Jahr 2019 darf die Agentur Daten nur nach einer strengen Einzelfallprüfung an Europol weitergeben. Der abschließende Untersuchungsbericht des EDSB, der sich auf Datenübermittlungen zwischen 2019 und Mitte 2023 konzentriert, bestätigte jedoch, dass Frontex „automatisch“ jeden einzelnen Bericht an seine Kolleg:innen in Den Haag weiterleitete.

Eine Kopie dieses Untersuchungsberichts, der durch eine Informationsfreiheitsanfrage bekannt wurde, offenbart das Ausmaß der rechtswidrigen Datenübermittlungen von Frontex. Allein zwischen 2020 und 2022 übermittelte Frontex 4.397 Debriefing-Berichte inklusive Namen, Telefonnummern und Facebook-IDs an das Zentrum zur Bekämpfung der Migrantenschleusung von Europol.

Auf der Grundlage dieser Berichte verarbeitete Europol die personenbezogenen Daten von 937 Verdächtigen und gab 875 „Erkenntnisberichte“ heraus, die die nationalen Polizeibehörden für ihre Ermittlungen zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität informierten.

Dies ist nur ein Bruchteil der Tausenden Personen und Hunderten Organisationen, die seit Beginn der groß angelegten Datenübermittlungen durch Frontex im Jahr 2016 im Rahmen des sogenannten „PeDRA“-Programms in die Datenbanken von Europol gelangt sind, wie aus Zahlen von Frontex hervorgeht.

Der Rechenschaft entzogen

Im November 2022 führte der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten des EU-Parlaments seine erste Anhörung zu PeDRA durch – dem wenig bekannten Programm von Frontex zur Übermittlung personenbezogener Daten an Europol.

Der stellvertretende Exekutivdirektor von Frontex, Uku Särekanno, teilte den Abgeordneten mit, dass Frontex bis zu diesem Zeitpunkt Daten zu etwa 13.000 „möglichen Verdächtigen“ an Europol weitergegeben habe. Särekanno erschien bei der Anhörung zusammen mit zwei weiteren hochrangigen Beamten, die an PeDRA beteiligt sind: Jürgen Ebner, stellvertretender Direktor von Europol, und Mathias Oel, damals leitender Beamter in der Generaldirektion Migration und Inneres der Europäischen Kommission.

Screenshot von Mails vor der Anhörung im LIBE-Ausschuss
Mails zur Abstimmung vor der Anhörung im LIBE-Ausschuss – Screenshot

In sorgfältig abgestimmten Erklärungen versicherten alle drei Beamte den Abgeordneten, dass die Datenübermittlung nicht automatisch erfolge und auf einer soliden Rechtsgrundlage basiere.

„Wir sprechen hier nicht von einer massenhaften Datenübermittlung, sondern von einer Einzelfallprüfung“, erklärte Särekanno dem LIBE-Ausschuss. „Wir erhalten keine Massendaten von Frontex; dies geschieht auf Einzelfallbasis“, bekräftigte Ebner von Europol. Die Übermittlung personenbezogener Daten erfolge ausschließlich „auf Ad-hoc-Basis“; PeDRA sei „kein systematischer Datenaustausch“, sagte Oel und fügte hinzu, dass die „über Verdächtige grenzüberschreitender Straftaten gesammelten Informationen für strafrechtliche Ermittlungen von großem Wert“ seien.

Nicht nur der EDSB-Bericht ein paar Monate später offenbarte, dass das nicht stimmt. Das Recherche-Team konnte durch Informationsfreiheitsanfragen interne Kommunikation einsehen. Die zeigt, dass die drei Behörden ihre Positionen abgesprochen und Briefings sowie Sprechzettel ausgetauscht hatten. In einer der Korrespondenzen sprechen Vertreter:innen von Frontex und der Kommission davon, dass man sich koordinieren müsse, um die Botschaften an die Parlamentarier:innen „abzustimmen“, bei einem „Treffen, das nicht einfach wird“.

Frontex-Sprecher Chris Borowski erklärte, dass die Aussage von Särekanno „in gutem Glauben und auf der Grundlage der damals geltenden internen Vereinbarungen und Rahmenbedingungen“ gemacht worden sei. Matthias Oel erklärte gegenüber dem Recherche-Team, dass „die Angaben auf den von Frontex bereitgestellten Informationen beruhten“. Ebner reagierte nicht auf eine Bitte um Stellungnahme.

Obwohl dies im Parlament aufgedeckt wurde, wurden die automatischen Übermittlungen weitere sieben Monate lang unvermindert fortgesetzt, bis der EDSB im Mai 2023 intervenierte.

Die grüne Europaabgeordnete Saskia Bricmont, die die Sitzung damals verfolgt hatte, sagte, die Enthüllungen über die Datenübermittlungen seien sehr besorgniserregend: „Die wahllose und massive Übermittlung von Daten von Frontex an Europol ist nach EU-Recht verboten, und jede Übermittlung muss sehr strenge Bedingungen erfüllen. Die Kriminalisierung von Migranten ist ein besorgniserregender Trend, dem die EU-Behörden nicht folgen sollten. EU-Behörden müssen sich an die Grundsätze der Transparenz und Rechenschaftspflicht halten. Wenn Vertreter von Frontex und Europol das Europäische Parlament belogen oder Informationen vor ihm verschwiegen haben, würde dies das gegenseitige Vertrauen stark beeinträchtigen und die Vorfälle müssen schnell aufgeklärt werden.“

Niovi Vavoula, Expertin für Datenschutzrecht an der Universität Luxemburg, weist darauf hin, dass „automatische Datenübermittlungen von Anfang an nicht rechtmäßig waren“, worauf auch der EDSB vor Beginn der Übermittlungen hingewiesen hatte.

Es steht viel auf dem Spiel. Der EDSB warnt vor „tiefgreifenden Folgen“ für unschuldige Menschen, die von diesen Datenübermittlungen betroffen sind. Sie laufen „Gefahr, zu Unrecht EU-weit mit einer Straftat in Verbindung gebracht zu werden – mit allen daraus folgenden möglichen Schäden für ihr Privat- und Familienleben, ihre Bewegungsfreiheit und ihren Beruf“.

Im Januar hat Frontex-Direktor Hans Leijtens seine Europol-Amtskollegin Catherine De Bolle offiziell über die rechtswidrigen Übermittlungen informiert. Laut dem Europäischen Datenschutzbeauftragten Wiewiórowski ist Europol durch diese Mitteilung verpflichtet, „zu prüfen, welche personenbezogenen Daten von der Übermittlung betroffen sind, und diese zu löschen oder zu beschränken“.

Auf Nachfrage distanzierte sich Europol-Sprecher Jan Op Gen Oorth von den Ergebnissen des EDSB. Die sorgfältig formulierte Antwort umgeht die Kernfrage: Wird Europol die von Frontex unrechtmäßig übermittelten Daten löschen? Die Tatsache, dass der EDSB Frontex wegen Nichteinhaltung des EU-Rechts gerügt habe, „bedeutet nicht, dass die Datenverarbeitung der von Frontex erhaltenen Informationen durch Europol nicht rechtmäßig war“, so Oorth.

Niovi Vavoula sagt jedoch, dass vermeintliche Vorteile Europol nicht davon entbinden, Vorschriften einhalten zu müssen. „Die Verantwortung von Europol, die von Frontex unrechtmäßig erhaltenen Daten zu löschen, darf nicht vergessen werden. Europols Weiterverarbeitung der Daten kann den ‚Makel‘ der Daten als ‚Samen verbotener Früchte‘ nicht beseitigen.“

Beide Behörden beharren darauf, dass die Sammlung großer Datenmengen bei der Analyse der Vorgehensweise von Schleusernetzwerken helfen und zur Strafverfolgung von Schleusern beitragen kann.

Die Annahme hinter diesen groß angelegten Datenerfassungen ist jedoch fehlerhaft, argumentiert die Expertin Gabriella Sanchez: „EU-Behörden rechtfertigen die Erhebung von Daten von Migranten damit, dass sie notwendig sei, um komplexe, länderübergreifende Schleusernetzwerke zu bekämpfen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Daten tatsächlich verlässlich oder nützlich sind. Wir wissen aber, dass dies nicht der Fall ist.“

Probleme bleiben

Nur wenige Tage nachdem der EDSB im Mai 2023 erstmals auf schwerwiegende Probleme hingewiesen hatte, setzte Frontex die automatische Datenübermittlung an Europol aus.

Seitdem hat Frontex seine Verfahren überarbeitet: Personenbezogene Daten werden nun nur noch auf „konkrete und begründete“ Anfrage hin an Europol weitergegeben. Von 18 solcher Anfragen, die bis Mai 2025 eingereicht wurden, genehmigte Frontex’ Datenschutzbeauftragter nur vier. „Frontex hat aus dieser Erfahrung klare Lehren gezogen und entwickelt seine internen Praktiken entsprechend weiter“, erklärte Frontex-Sprecher Chris Borowski gegenüber dem Rechercheteam.

Zwar hat Frontex noch nicht alle Vorgaben des EDSB zur Angleichung seiner Debriefing-Praktiken an die Grundrechtsverpflichtungen vollständig umgesetzt, doch sollen die Menschenrechtsbeobachter von Frontex nun Zugang zu einigen der Befragungen erhalten haben, und im vergangenen Jahr hat Leijtens neue – wenn auch nicht verbindliche – Richtlinien zur Stärkung der Schutzmaßnahmen verabschiedet.

Diese Bemühungen stoßen in einigen EU-Mitgliedstaaten auf Widerstand. Im März 2025 alarmierte die Grundrechteabteilung von Frontex den Verwaltungsrat der Agentur über Fälle, in denen Informationen aus Debriefings „für strafrechtliche Ermittlungen gegen die befragten Migranten und andere Personen verwendet wurden“. Die Abteilung äußerte auch Bedenken „hinsichtlich des Zugriffs und Sammlung von Informationen auf den Mobiltelefonen der Geflüchteten während der Debriefings“.

Internen Berichten zufolge sind die Probleme in Spanien am akutesten. Dort setzen die Behörden Frontex-Beamt:innen unter Druck, so viele Informationen wie möglich von neu angekommenen Migrant:innen zu erhalten. Das widerspricht genau den Schutzmaßnahmen, die die Agentur angeblich eingeführt hat. Unterdessen besteht Europol darauf, einen umfassenderen Zugang zu den Debriefing-Daten von Frontex zu behalten.

Diese Recherche wurde durch den IJ4EU-Fund gefördert. Luděk Stavinoha ist Dozent für Medien und globale Entwicklung an der University of East Anglia. Er forscht zu EU-Transparenz und Migrationsmanagement. Apostolis Fotiadis ist Journalist und recherchiert zu EU-Politik in den Bereichen Technologie, Überwachung und digitale Rechte. Lola Hierro ist Journalistin in der Auslandsredaktion von El País und beschäftigt sich mit Migration, Menschenrechten und nachhaltiger Entwicklung.



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Datenschutz & Sicherheit

Die Woche, als ein Zombie auf die große Bühne trat


Liebe Leser*innen,

gelegentlich beschreiben wir jahrelang vorgebrachte staatliche Überwachungsvorhaben als Zombies. Wie untote Fantasiewesen kehren sie immer wieder auf die Bildfläche zurück. Egal, wie oft man ihnen den Garaus macht.

Einer der ältesten netzpolitischen Zombies ist die Vorratsdatenspeicherung. Sie wurde schon argumentativ erledigt, als ich noch zur Schule gegangen bin und für irgendwelche Vokabeltests lernen musste. Entlarvt als grundrechtlich fragliche Scheinlösung; als unter fadenscheinigen Vorwänden vorgebrachte Überwachungsfantasie. Aber egal, wie oft sie scheinbar erledigt wurde, die Forderung kehrt immer wieder zurück. (Siehe Donnerstag.)

Ein anderer Zombie sind Alterskontrollen. Ich war gerade drauf und dran zu behaupten, dieser Zombie sei noch recht jung. Dann habe ich gesehen: Der älteste Artikel mit dem Begriff „Altersverifikation“ in unserem Archiv stammt aus dem Jahr 2007. Also halte ich mich lieber zurück mit der Zombie-Altersbestimmung.

Frappierende Ähnlichkeiten

14 Jahre später, 2021, habe ich erstmals über Alterskontrollen geschrieben. Damals fühlte mich recht allein mit dem Thema. 2023 dann rumorte es in meinem netzpolitischen Umfeld, dass Alterskontrollen bald das nächste große Ding werden. Jetzt ist es so weit. Das Thema ist auf höchster politischer Bühne angekommen, etwa bei der EU-Kommission und Bundesregierung, aber auch im Ausland wie in Großbritannien und Australien.

Die Ähnlichkeiten zwischen Alterskontrollen und der Vorratsdatenspeicherung sind frappierend: Wieder haben wir es zu tun mit einer grundrechtlich fraglichen Scheinlösung, einer unter fadenscheinigen Vorwänden vorgebrachten Überwachungsfantasie. Dieses Bild zeichnet sich zunehmend ab, je mehr ich darüber lese und berichte. Zuletzt etwa diese Woche, als ich mich in ein Diskussionspapier der Leopoldina vertieft habe.

Ein Zitat, bei dem mich jede Aussage stört

Wie es sich für einen Zombie gehört, wird auch die Forderung nach Alterskontrollen immer wieder ans Tageslicht zurückkehren. Jüngst diese Woche durch Kerstin Claus, Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Anlass war das neue Lagebild mit Zahlen zu erfassten Sexualdelikten gegen Minderjährige. Claus sagte auf der dazugehörigen Pressekonferenz:

Wir brauchen eine umfassende Altersverifikation, weil wir nur so Safe Spaces, sichere Räume, für Kinder und Jugendliche auch digital schaffen können. Und dafür brauchen wir rechtliche Vorgaben und eine verlässliche technische Umsetzung.

An diesem Zitat stört mich jede einzelne Aussage.

  • Erstens: Es gibt doch längst rechtliche Vorgaben. Zum Beispiel, frisch verhandelt und Kraft getreten, das Gesetz über digitale Dienste auf EU-Ebene. Die Vorgaben sehen nach grundrechtlicher Abwägung keine „umfassende“ Altersverifikation vor, lassen aber Raum für Alterskontrollen je nach Risiko.
  • Zweitens: Es gibt keine „verlässliche technische Umsetzung“ für Alterskontrollen. Das ist reines Wunschdenken.
  • Drittens: Altersverifikation allein schafft keine sicheren Räume für Kinder. Das betonen Fachleute durch die Bank weg. Zur Diskussion steht allenfalls, in welcher Form sie ein Baustein sein kann.

Ich weiß ja nicht, wie es euch geht mit diesem Zitat, aber mich hat das wütend gemacht. Eine Weile lang wusste ich nicht, wie ich diesen Wochenrückblick jetzt beenden soll. Vielleicht mit einem Tableflip-Emoticon?

(╯°□°)╯︵ ┻━┻

Das hat jedenfalls gutgetan.

Mich würde es freuen, mehr Zeit mit seriösen Lösungsideen verbringen zu können, als mit dem stumpfen Kampf gegen Überwachungszombies.

Bis die Tage und schönes Wochenende
Sebastian

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Datenschutz & Sicherheit

BSI: Etwas mehr E-Mail-Sicherheit – und weiter Luft nach oben


Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und Anbieter von E-Mail-Diensten melden erste Erfolge bei einer gemeinsamen Aktion für mehr E-Mail-Sicherheit. Vor allem zwei technische Richtlinien des BSI sollen für eine bessere Absicherung sorgen, ohne dass die Endnutzer selbst etwas tun müssten.

Auch über 40 Jahre nach der ersten E-Mail in Deutschland ist Mail „nach wie vor der wichtigste Kanal“, sagte BSI-Chefin Claudia Plattner am Freitag in Berlin. „Es ist aber leider auch das wichtigste Einfallstor für Cyberangriffe.“

Von Phishing über Fake News bis hin zu Sabotageaktionen spiele E-Mail eine wichtige Rolle, sagte die BSI-Präsidentin. Die in vielen Organisationen gelebte Sensibilisierung der Nutzer sei zwar wichtig, allein aber nicht ausreichend. Genau da setze die Kampagne des BSI zur Erhöhung der E-Mail-Sicherheit an.

Deren Zwischenstand präsentierte Plattner am Freitag zusammen mit den Branchenverbänden und Bitkom. Für den Eco betont Norbert Pohlmann die Relevanz von E-Mail. Trotz aller Alternativen von Slack über Teams und Messenger sei Mail nach wie vor das Mittel der Wahl, da sie ein globaler Akteur ohne dominierende Akteure sei.

Doch bei der Sicherheit sieht Pohlmann viel Luft nach oben: „Wir haben ein echtes Problem mit unserer E-Mail-Infrastruktur.“ Pohlmann, der auch Inhaber einer Professur für IT-Sicherheit ist, sieht dabei auch die Unternehmen in der Pflicht, deutlich mehr zu tun.

Ähnlich sieht es auch Susanne Dehmel, Vorstandsmitglied beim Bitkom: Die Verantwortung dürfe nicht länger ausschließlich bei Empfängerinnen und Empfängern der E-Mails gesehen werden. Korrekt implementierte Standards würden dabei helfen, die Risiken etwa durch Phishing und Spoofing deutlich zu reduzieren.

150 Unternehmen, vor allem E-Mail-Anbieter, aber auch Hoster, hätten sich freiwillig bereit erklärt, hieran mitzuwirken, sagte Plattner. Auch ohne gesetzliche Regelung sei es also möglich, Wirkung in der Praxis zu erzielen.

Das BSI hat ab Februar 2025 eine Bestandsaufnahme durchgeführt, inwiefern Anbieter die empfohlenen Maßnahmen der technischen Richtlinien 03108 und 03182 umsetzen.

Nur 20 Prozent der Unternehmen haben demnach etwa DNSSEC korrekt eingesetzt; die DNS-basierte Authentisierung von Namen (DANE) sogar nur 11 Prozent. Das BSI habe daraufhin die Unternehmen aktiv angesprochen – und im Juni seien die Zahlen bereits deutlich besser gewesen. Hinzugekommen seien zudem zahlreiche Unternehmen, die sich von sich aus gemeldet hätten.

Während das BSI auf der einen Seite Unternehmen öffentlich lobt, die sich der Initiative angeschlossen haben, nutzt es an anderer Stelle seine gesetzlichen Befugnisse: eine öffentliche Liste von E-Mail-Anbietern und ihrer Entsprechung der BSI-Kriterien. Apples mac.com und me.com etwa erfüllen nur fünf der derzeit sieben BSI-Kriterien – etwa weil alte TLS-Versionen weiter zugelassen würden. Auf gleichem Niveau sieht die Bonner IT-Sicherheitsbehörde auch gmail.com, outlook.com und msn.com.

Was E-Mail auch nach über 40 Jahren nicht flächendeckend leisten kann, ist die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Geht es nach Pohlmann, sollte sich das jedoch ändern. Derzeit aber sind hier Messenger wie Signal, Threema oder Wire gängig – und zugleich politisch unter Beschuss. Unklar ist derzeit, wie sich künftig Bundesinnenminister Alexander Dobrindt bei den Debatten um ein mögliches Brechen von Verschlüsselung positionieren wird.

„Wir sollten erstmal schauen, dass wir uns absichern, Prozesse absichern, Unternehmen absichern“, sagte Pohlmann. „Wir können nicht auf die Wahrscheinlichkeit, dass wir ein Prozent der Kriminellen identifizieren können, unsere ganze Gesellschaft unsicherer machen.“ Auch für den Bitkom gelte, dass Verschlüsselung das wichtigste Instrument für sichere Kommunikation sei, und das solle auch nicht angetastet werden, betonte Susanne Dehmel.

Für BSI-Präsidentin Plattner, deren Behörde in weiten Teilen dem Bundesinnenministerium unterstellt ist, gibt es technologisch hierbei eine klare Sicht: „Wir müssen immer dafür sorgen, dass wir sichere Infrastrukturen haben.“ Ende-zu-Ende-Verschlüsselung sei dafür ein wichtiges Mittel. Plattner warnte vor den möglichen Folgen künstlich eingebauter Abhörschnittstellen: Salt Typhoon habe gezeigt, welche Risiken mit solchen Herangehensweisen verbunden seien.


(vbr)



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Datenschutz & Sicherheit

Dobrindt kündigt Gesetzentwurf „in den nächsten Wochen“ an


Das aktuelle „Bundeslagebild Sexualdelikte zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen 2024“ (PDF) ist nun öffentlich. Teil der Pressekonferenz waren neben BKA-Präsident Holger Münch auch Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) und die Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus.

Laut dem Bericht ging die Zahl der Betroffenen im Zusammenhang mit Sexualdelikten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen für das Jahr 2024 im Vergleich zum Vorjahr leicht zurück.

Dobrindt und Münch nutzten die gestrige Pressekonferenz dazu, einmal mehr die rasche Einführung der sogenannten Vorratsdatenspeicherung zu fordern. Die Verständigung auf einen Gesetzestext zwischen dem Justiz- und Innenministerium erfolge laut Dobrindt bereits „in den nächsten Wochen“.

Zahl der Betroffenen leicht rückläufig

Dem Bundeslagebild zufolge ist die Zahl der polizeilich registrierten Straftaten des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen 2024 im Vergleich zum Vorjahr nahezu konstant geblieben. Die Zahl der registrierten Opfer beim Verdacht des sexuellen Kindesmissbrauchs sank dagegen im gleichen Zeitraum um 2,2 Prozent. Beim sexuellen Missbrauch von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren ging sie um 1,4 Prozent zurück.

Auch wenn damit ein Rückgang zu verzeichnen ist, liegen diese Zahlen über dem Schnitt der vergangenen fünf Jahre, betont das BKA.

Die Bundeslagebilder des BKA basieren auf einer Auswertung der Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Sie erfasst alle Fälle, die der Polizei bekannt sind und von ihr bearbeitet werden. Die Zahlen sind daher auch vom Anzeigeverhalten beeinflusst.

Aufgehelltes Dunkelfeld durch mehr Personal

Dass die Zahl der erfassten Straftaten insgesamt weiterhin hoch ausfällt, hängt laut BKA auch mit einem wachsenden Fahndungs- und Ermittlungsdruck zusammen. So sei „die Anzahl der Mitarbeitenden, die sich in den Polizeibehörden von Bund und Ländern mit Fällen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen befassen, in den vergangenen Jahren merklich erhöht worden“.

Die zusätzlichen Kapazitäten hätten dazu beigetragen, die polizeiliche Arbeit zu intensivieren und das sogenannte Dunkelfeld etwa im familiären Umfeld aufzuhellen. „Der weiterhin starke Fokus der Strafverfolgungsbehörden in diesem Bereich kann daher mit ein Grund für die nach wie vor hohen Fallzahlen sein“, schreibt das BKA. Laut Bundeskriminalamt bestand in knapp 57 Prozent der Fälle zwischen der betroffenen Person und den jeweiligen Tatverdächtigen nachweislich eine Vorbeziehung.

Hinzu kommt, dass 14- bis 17-Jährige bei sogenannten jugend­pornografischen Inhalten fast die Hälfte der Tatverdächtigen ausmachen. In diesen Fällen dürfte es sich vornehmlich um selbsterstellte Aufnahmen handeln, die sich Minderjährige untereinander zuschicken. „Straffällige Kinder und Jugendliche sind häufig dem Phänomen der ‚Selbst­filmenden‘ zuzurechnen“, schreibt das BKA und ergänzt: „Solche Motive können Teil einer normalen jugendlichen Entwicklung sein.“

Forderung nach Vorratsdatenspeicherung

Ungeachtet dessen forderte Dobrindt gestern erneut, die Speicherung für IP-Adressen einzuführen – „als zentrales Werkzeug, um Kinder besser zu schützen und Täter vor Gericht zu bringen“.

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Bereits in ihrem Koalitionsvertrag haben CDU, CSU und SPD vereinbart, eine Vorratsdatenspeicherung für Telekommunikationsdaten einzuführen. Demnach sollen Internetanbieter für einen Zeitraum von drei Monaten protokollieren, welche IP-Adresse und Portnummer zu einem bestimmten Zeitpunkt einzelnen Kund:innen zugewiesen war. Die Kombination aus IP-Adresse und Portnummer ermöglicht es, Internetzugriffe individuellen Anschlussnutzer:innen zuzuordnen, auch wenn mehrere Kund:innen über sogenannte „Shared IPs“ (geteilte IP-Adressen) eine gemeinsame öffentliche Adresse nutzen.

Die allgemeine und wahllose Speicherung von Verkehrsdaten ist juristisch hoch umstritten. Das Bundesverfassungsgericht erklärte sie erstmals im Jahr 2010 für verfassungswidrig; hohe europäische Gerichte haben ihr enge Grenzen gesetzt. Auch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2024 hält im Grundsatz an der Position fest, dass eine allgemeine, anlasslose Vorratsdatenspeicherung europarechtswidrig ist.

Lagebild stützt Forderung nach Massenüberwachung nicht

Die Zahlen des aktuellen Bundeslagebildes rechtfertigen die Einführung der Vorratsdatenspeicherung nicht. So gibt es beim „sexuellen Missbrauch zum Nachteil von Kindern“ in mehr als drei Viertel aller Fälle einen Tatverdächtigen. Bei anderen Deliktfeldern liegt die Zahl sogar weit über 80 Prozent. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Aufklärungsquote aller Straftaten in Deutschland liegt laut PKS bei etwa 58 Prozent.

Auf Nachfrage zeigte sich der Bundesinnenminister gestern optimistisch, dass die im Koalitionsvertrag vereinbarte Vorratsdatenspeicherung bald umgesetzt werde. Federführend für das Thema ist hier das Bundesjustizministerium, die Gespräche zwischen Innen- und Justizministerium verliefen „sehr positiv“, so Dobrindt.

Justizministerin Stefanie Hubig (SPD) äußert sich derweil zurückhaltender als ihr Kabinettskollege. Laut Medienberichten ist sie zuversichtlich, „dass wir beim Schutz von Kindern und Jugendlichen in dieser Wahlperiode Wichtiges erreichen können“.



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