Künstliche Intelligenz
Linux-Desktop Gnome: Zwischen Finanznöten und technischem Fortschritt
Es ist eine verzwickte Lage, in der sich das Gnome-Projekt befindet: Während der verbreitete Linux-Desktop technisch auf sicheren Beinen steht, sieht es finanziell weniger gut aus. In den vergangenen Jahren sind Spenden zurückgegangen, während die Kosten blieben. Trotz der angespannten finanziellen Lage stellte das Gnome-Projekt eine Hybrid-Konferenz auf die Beine. Beteiligte und Interessierte aus Übersee, Europa und weiteren Ländern trafen sich Ende Juli zur jährlichen Gnome-Konferenz GUADEC. Die fand auf Sparflamme in der Lombardei an der Universität in Brescia statt.
Die Vorträge präsentierten einerseits die Fortschritte der letzten Monate bei etwa beim Toolkit GTK, der Gnome-Shell und den für Flatpak wichtigen XDG-Desktop-Portals. Auch Themen wie Barrierefreiheit und Sicherheit sowie die Projektentwicklung, etwa um Maintainer-Burn-out zu verhindern, wurden verhandelt. Auf der während der GUADEC stattfindenden Jahreshauptversammlung der Gnome-Foundation zeigte sich, dass ein Konflikt aus dem vergangenen Jahr die Gnome-Mitglieder weiter beschäftigt.
Fortschritte bei der Barrierefreiheit
Red-Hat-Mitarbeiter Lukáš Tyrychtr präsentierte die jüngsten Fortschritte bei der Barrierefreiheit von Wayland und Gnome, insbesondere für Blinde. In der Vergangenheit gab es immer wieder Kritik in diesem Bereich. Zunächst erläuterte er den Anwesenden, wie ein Screenreader funktioniert und weshalb daraus spezielle Herausforderungen entstehen. Denn ein Screenreader beschränkt sich nicht auf Vorlesen von Text, sondern muss auch jegliche Keyboard-Events mitbekommen und manche sogar abfangen, sodass die weder beim Compositor, etwa „Mutter“ von der Gnome-Shell, noch bei der aktuell verwendeten Anwendung landen. Beispielsweise nutzen Blinde häufig eine Funktion, um den vorgelesenen Text abzubrechen.
Die beiden Red-Hat-Mitarbeiter Lukáš Tyrychtr und Vojtěch Polášek arbeiten daran, Gnome barrierefreier zu machen.
(Bild: heise online / Keywan Tonekaboni)
Änderungen beim Accessibility-Dienst AT-SPI2 und die Einführung von GTK 4 mit eigenem Accessibility-Bus hatten dazu geführt, dass GTK-4-Apps unter Wayland nicht mit dem Screenreader Orca zusammenarbeiteten. Dieses Problem blieb mehrere Jahre ungelöst. Gemeinsam mit weiteren Red-Hat-Mitarbeitern entwarf Tyrychtr, der selbst blind ist, einen neuen Ansatz, bei dem Tasten-Events nicht mehr in der App abgefangen werden, sondern schon im Compositor. Da vorher viel Verkehr auf dem Accessibility-Bus unterwegs war, wird jetzt nur noch ein Event gesendet, wenn ein Screenreader auch lauscht. Außerdem wird der DBus-Name gegen eine Allowlist geprüft, damit nicht ein beliebiger Prozess als Keylogger fungieren kann. Die Änderungen sind in AT-SPI2 core ab Version 2.56 sowie im Screenreader Orca 48, Gnome-Shell 48 und KDEs Fenstermanager Kwin 6.4 umgesetzt.
Unabhängig davon wurden die visuellen Warnungen in der Gnome-Shell angepasst, damit diese konform mit dem European Accessibility Act (EAA) sind. Zudem sind nun auf dem Anmeldebildschirm die Barrierefreiheitsoptionen prominenter platziert.
Aus Red Hats Accessibility Team gab es noch weitere Vorträge, etwa einen Barrierefreiheit-Workshop für App- und Shell-Entwickler. Da Blinde fast alles mit der Tastatur erledigen, appellierte Lukáš Tyrychtr an die Anwesenden, die Tastatur-User-Experience dürfe nicht schlechter werden. In einer Diskussionsrunde bezeichnete Gnome-Entwickler Emmanuelle Bassi Accessibility als Zwilling von Usability. Barrierefreiheit sei wichtig, damit auch wirklich alle Zugang zum Computer haben.
Farbenfrohe Gnome-Shell
Nicht nur die Barrierefreiheit hat sich in der Gnome-Shell seit Version 48 verbessert, sondern auch die Unterstützung für HDR hat Einzug erhalten. Nach jahrelanger Überarbeitung des Quellcodes vom Compositor Mutter und weiteren Komponenten lässt sich HDR jetzt systemweit nutzen. Läuft Gnome im Wayland-Modus und ist ein HDR-fähiger Bildschirm angeschlossen, erscheint in den Einstellungen ein entsprechender Schalter. Die Arbeiten sind damit nicht abgeschlossen. Auf der Agenda bleiben Tone-Mapping (HDR-Inhalte auf den vom Bildschirm unterstützten Bereich anpassen), Unterstützung für ICC-Profile, Farbmanagement auch ohne HDR, den Nachtmodus reparieren und die Darstellung von HDR-Inhalten im SDR-Modus.
Florian Müllner, Carlos Garnacho, Jonas Ådahl und Sebastian Wick (v.l.n.r) stellen die aktuellen Entwicklungen in der Gnome Shell vor.
(Bild: GNOME Foundation)
Das Gnome-Shell-Team hat zudem zahlreiche intern genutzte Wayland-Protokolle allgemein verfügbar gemacht (Upstreaming). Das betrifft Farbmanagement, Farb-Konversionen, besseres Timing bei der Aktualisierung von Bildschirminhalten, etwa um Sprünge und Ruckler zu vermeiden, sowie einen Workaround, um Memory Leaks in Mesa zu umschiffen. Aktuell laufen letzte Arbeiten an einem Session-Management-Protokoll, um Programme und deren Fenster nach einer Neuanmeldung wiederherzustellen. Der aktuelle Entwurf des vielfach gewünschten Features enthält noch zu viele Bugs. Das ist auch aufgrund der eingeschränkten Rechte von Wayland-Clients nicht einfach umzusetzen; Anwendungen haben keinen Zugriff auf die gesamte Bildschirmfläche. Der Compositor hingegen muss beim Start einer Anwendung eventuell lange warten, ob sie selbst die alten Fenster bereitstellt, etwa weil es dauert, ein großes Projekt zu öffnen, oder weil der Nutzer genehmigen muss, dass die vorherige Session wiederhergestellt wird.
Durch die weitgehende Entfernung von X11-Code aus der Gnome-Shell fällt auch deren Nested-Option weg, mit der eine Session in einem Fenster geöffnet werden konnte. Das war vorwiegend für Shell-Entwickler zum Testen interessant, eine Aufgabe, die jetzt vom Development Kit übernommen wird, einer eigenständigen GTK-4-Anwendung, welche als separater Prozess läuft. Die kleine Zielgruppe der Shell-Entwickler dürfte freuen, dass es nun einfacher ist, Entwicklungen zu testen. Da das Development Kit die gleiche API wie der Remote-Desktop verwendet, dürfte letzterer davon profitieren, dass jetzt mehr Gnome-Hacker diese API nutzen.
Mehr Sicherheit
Auch wenn es gern behauptet wird, sind Linux-Systeme per se nicht sicherer als andere Betriebssysteme. Allerdings macht die geringe Verbreitung auf Desktop-Systemen Linux für Anwender-Schadsoftware unattraktiv. Darauf wies auch die spanische Sicherheitsforscherin und Freie-Software-Aktivistin Paule de la Hoz hin. Grundsätzlich lauern unter Linux fast die gleichen Gefahren wie anderswo, etwa verdeckte Krypto-Miner, Ransomware und Phishing. Toolkits für Schadsoftware böten mittlerweile auch Payloads für Linux-Systeme an. Gegenüber c’t gab de la Hoz an, dass noch vor allem Server und IoT-Geräte Ziel der Angriffe seien. Sie warnte aber davor, das Risiko von Software aus fragwürdigen Quellen zu unterschätzen oder blindlings Befehle aus dem Internet per Copy & Paste auf dem eigenen System auszuführen.
Sicherheitsforscherin Paule de la Hoz war online zugeschaltet und wies in ihrem Vortrag auf Bedrohungen für Linux-Systeme hin.
(Bild: Screenshot, heise online / Keywan Tonekaboni)
Der Gnome-Entwickler Michael Catanzaro rief in seinem Vortrag dazu auf, nicht weiter die Sandbox von Flatpak zu unterlaufen. Die sei essentiell, da es mit unsicheren Programmiersprachen wie C nie möglich sei, sicheren Code zu schreiben. Rust sei zwar vom Design her sicherer, aber hier lauern Risiken in den Abhängigkeiten (Supply Chain Security). „Unsere Rust-Anwendungen haben viel zu viele Abhängigkeiten“, warnte Catanzaro mit Verweis auf mehrere Hundert Abhängigkeiten einzelner Apps zu Rusts Cargo-Repository.
Er lobte hingegen die Flatpak-Sandbox, da diese eine abgeschottete Umgebung bereitstelle. Dies entbinde zwar nicht davon, Abhängigkeiten oder Code zu aktualisieren und sei auch nicht absolut sicher. Doch um aus der Sandbox heraus Schaden anzurichten, bräuchte ein Angreifer mindestens zwei Exploits, einen um den Programmcode der App auszutricksen und einen weiteren, um aus der Sandbox auszubrechen. In der Praxis würden allerdings viele Anwendungen zu weitreichende Berechtigungen anfordern, etwa den Zugriff auf das gesamte Dateisystem, und somit die Sandbox nichtig machen.
Die Schuld sieht Catanzaro nicht allein bei den App-Entwicklern, sondern prangerte auch fehlende oder unzureichende XDG-Desktop-Portals an. Diese Portals sind eine Schnittstellensammlung, die Apps dynamisch Zugriff auf Ressourcen einräumt, wenn Nutzer der Freigabe zustimmen, etwa auf eine Webcam oder eine bestimmte Datei. Man müsse mehr bei der Entwicklung der Portale zusammenarbeiten und brauche einen Plan, wie man die größten ausstehenden Fragen löst. Außerdem fehle es an einer Strategie, wie man mit Anwendungen umgeht, die legitimerweise nicht in einer Sandbox laufen könnten.
Angesichts solcher Anforderungen ist es wenig verwunderlich, dass die Keynote von Mirko Brombin, Entwickler der innovativen Linux-Distribution Vanilla OS und des WINE-Tools Bottles, nicht auf besonders fruchtbaren Boden fiel. Brombin stellte cpak vor, ein neuer Weg für Linux, um Kommandozeilentools, Dienste und Anwendungen zu paketieren. Dabei baut cpak auf Standards der Open Container Initiative (OCI) auf, also den von Docker genutzten Container-Images. Diese werden mit einer cpak.json-Datei kombiniert, welche unter anderem die benötigten Rechte und Ressourcen definiert. Laut Brombin ist cpak primär für Embedded-Geräte entwickelt worden und positioniert sich zwischen Docker und Flatpak beziehungsweise Snap. Im Unterschied zu diesen benötige cpak keine Hintergrunddienste, sondern bestehe nur aus einer einzigen eigenständigen Binary (cpak
), welche das jeweilige cpak-Bundle ausführe. Viele kritische Rückfragen aus dem Plenum bezogen sich auf Sicherheitsaspekte. Zwar sieht cpak eine Trennung zwischen cpak-Anwendungen und Host-System vor, aber mehrere Anwesende bemängelten, dass diese schon im Aufbau ungenügend sei oder man sie anderweitig unterlaufen könne.
Künstliche Intelligenz
Interface für die Welt: Forscher zeigen innovatives AR-Interaktionsmodell
AR-Brillen könnten eines Tages eine Bedienoberfläche für die Welt liefern: So ließe sich etwa vom Sofa aus das Licht ausknipsen, ein Buch im Regal markieren und als digitaler Text anzeigen oder der Saugroboter auswählen und gezielt in eine staubige Ecke schicken.
Die Frage ist, wie sich ein Interface dieser Art benutzerfreundlich gestalten ließe. Schließlich ist die Welt dreidimensional und deutlich komplexer aufgebaut als ein Computerdesktop oder Homescreen. Wie wählt man mühelos Gegenstände aus, die weit entfernt und daher im Sichtfeld winzig erscheinen, zwischen vielen anderen liegen oder teilweise von diesen verdeckt werden? Ob per Handzeig oder Blickfokus: diese Methoden sind fehleranfällig und nicht selten anstrengend.
Forscher der New York University, der University of Minnesota und Google schlagen nun einen ungewöhnlichen Ansatz für die Interaktion mit solchen Objekten vor: Ihr „Reality Proxy“ genanntes Interaktionsmodell blendet in Reichweite der Nutzer ein Interface ein, über das sich Objekte mithilfe digitaler Stellvertreter („Proxies“) derselben auswählen lassen. Dabei wird von individuellen Eigenschaften der Objekte wie Position, Größe und Entfernung abstrahiert, die eine Auswahl oder Manipulation erschweren würden. Mithilfe der eingeblendeten Stellvertreter können Anwender schnell von Objekt zu Objekt springen, mehrere Objekte gleichzeitig auswählen, diese gruppieren, nach Attributen filtern und mehr.
Mit Apple Vision Pro getestet
In einem Video zeigen die Forschenden teils ausgefallene Einsatzszenarien: von der Steuerung mehrerer Drohnen bis zu räumlichen Navigationshilfen für Gebäude.
Das System setzt voraus, dass die auswählbaren Objekte vorab von einer KI korrekt segmentiert und semantisch identifiziert werden. Das KI-Modell muss demnach einzelne Objekte voneinander trennen und sie logischen Gruppen (Lichtschalter, Buch, Saugroboter) zuordnen können. Eine Aufgabe, die für sich genommen bereits sehr anspruchsvoll sein kann.
Die Forschenden testeten Reality Proxy mit einer Apple Vision Pro. Prinzipiell könnte das System aber auch auf AR-Brillen zum Einsatz kommen und als Grundfunktion direkt im Betriebssystem implementiert werden.
Die Forschungsarbeit ist frei im Internet zugänglich.
(tobe)
Künstliche Intelligenz
Missing Link: Zehn Jahre Landesverrat – Blogger im Zentrum einer Staatsaffäre
Die E-Mail kam ohne echte Vorwarnung: „Es liegt ein Anfangsverdacht des Landesverrats vor.“ Mit diesen Worten begann für Markus Beckedahl und Andre Meister vom Portal Netzpolitik.org vor zehn Jahren ein Albtraum, der die Grundpfeiler der Pressefreiheit in Deutschland erschütterte. Die beiden Journalisten hatten offengelegt, wie das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) die Anonymisierungsmöglichkeiten von Bürgern im Internet aushebeln wollte. Was folgte, war eine Art Hetzjagd der Justiz und von Regierungsstellen auf die zwei Blogger, die das Recht der Öffentlichkeit auf Information verteidigten.
Manchmal genügt ein Mausklick, um eine Staatsaffäre auszulösen. Vor einer Dekade geschah genau das: Beckedahl, damals Chefredakteur von Netzpolitik.org, und sein Mitstreiter veröffentlichten ein Dokument, das belegte, wie der Inlandsgeheimdienst die digitale Privatsphäre von Millionen Menschen bedrohte. Wenige Monate später, am 30. Juli 2015, führte das zur überraschenden Anklage des Duos wegen Landesverrats.
Der Fall wurde zum Lehrstück darüber, wie schnell der Staat versucht, seine Macht zu verteidigen – und wie wichtig unabhängiger Journalismus für eine funktionierende Demokratie ist. Wie konnte ein Staatsgeheimnis in die Hände von Bloggern gelangen, und welche Narben hat diese Affäre in der deutschen Presselandschaft hinterlassen? Eine Reminiszenz an einen Skandal, der fast zu einer Katastrophe für den investigativen Journalismus geführt hätte.
Anonymisierung im Netz aushebeln
Den geheimen BfV-Plan, der eine massive Ausweitung der Online-Überwachung vorsah, stellte Netzpolitik.org im April 2015 online. Das Grundsatzpapier enthüllte, wie die Behörde plante, einen weltweit auch von Journalisten, Whistleblowern und Aktivisten genutzten Anonymisierungsdienst auszuhebeln. Die Publikation sorgte in Teilen der Netzgemeinde für Aufsehen und weckte die Befürchtung, dass der Staat die digitale Sicherheit seiner Bürger aktiv untergraben wolle.
Die Reaktion der Bundesregierung übertraf derlei Ängste noch. Anstatt die Geheimdienstpläne zu verteidigen oder in die Tonne zu treten, ließ sie es zu, dass auf oberster Stufe ein Ermittlungsverfahren gegen die beiden verantwortlichen Journalisten eingeleitet wurde. Der Vorwurf: Landesverrat – ein Vergehen, das in der deutschen Rechtsgeschichte fast ausschließlich mit Spionagefällen aus dem Kalten Krieg in Verbindung gebracht wurde. Plötzlich standen Beckedahl und Meister nach offizieller Lesart nicht mehr als Rechercheure da, sondern als Bedrohung für die nationale Sicherheit. Der Fall eskalierte schnell und stellte die Frage in den Raum, ob in Deutschland überhaupt noch frei über die Arbeit von Sicherheitsbehörden berichtet werden darf.
Dazu kam: Strafverfolger ermittelten auch gegen die potenziellen Quellen der Berichterstatter. Diese wurden aber nie gefunden.
Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.
Maaßen war für „Massendatenerfassung“
Die Nachricht vom 30. Juli 2015 schlug hohe Wellen: Der damalige Generalbundesanwalt Harald Range hatte ein Strafverfahren wegen Verdacht des Landesverrats gegen das Duo eingeleitet. Auslöser war ein als geheim eingestufter Budgetentwurf für das BfV, den Netzpolitik.org in voller Länge öffentlich gemacht und Details davon in zwei „Enthüllungsartikeln“ näher beleuchtet hatte. Aus dem vertraulichen Dokument ging hervor, dass den Staatsschützern 2,75 Millionen Euro für die „Massendatenerfassung“ etwa in sozialen Netzwerken zur Verfügung standen. Der einstige BfV-Chef Hans-Georg Maaßen, der damals in Regierungskreisen noch angesehen war, stellte nach der Publikation Strafanzeige beim Landeskriminalamt Berlin. Dieses leitete den Fall an die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe weiter.
Der Vorwurf des Landesverrats ist ein scharfes Schwert: auf diese Tat steht Freiheitsstrafe von „nicht unter einem Jahr“. Zudem gehen damit umfangreiche Überwachungsbefugnisse einher. Die Justiz hätte den Verdächtigen aber nachweisen müssen, dass sie ein Staatsgeheimnis öffentlich bekannt gemacht haben, „um die Bundesrepublik Deutschland zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen“. Dadurch hätten sie „die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit“ des Staates herbeiführen müssen.
Zuletzt hatten Ermittler diese Keule gegen Journalisten 1962 in der „Spiegel“-Affäre geschwungen. Auch darin sahen weite Teile der Öffentlichkeit einen kaum verhüllten Versuch des Staates, eine unerwünschte Publikation zum Schweigen zu bringen.
Einschüchterung von Journalisten
„Jetzt kommt der Angriff auf uns“, beklagte Beckedahl umgehend in einem Interview mit heise online. Die Bundesregierung dürfte ihm zufolge eingebunden gewesen sein. „Wir sehen das als Einschüchterungsversuch gegen unsere Arbeit an“, monierte der Gründer des Portals. Der eigentliche Skandal sei, dass die Exekutive zwei Jahre nach den Snowden-Enthüllungen die Massenüberwachung der Geheimdienste nicht zügeln, sondern ausbauen wolle. Nötig sei auf jeden Fall ein besserer Schutz für Whistleblower. Positiver Nebeneffekt: Die gesellschaftliche Debatte über den Themenbereich, die der Originalartikel noch nicht ausgelöst habe, werde nun nachgeholt von einem größeren Kreis.
Gleichzeitig war viel von einer Justizposse die Rede. Das Vorgehen des Generalbundesanwalts sei „völlig überzogen“ und stelle einen Angriff auf die Pressefreiheit dar, kritisierte etwa der Deutsche Journalisten-Verband (DJV). Der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz empfand das Vorgehen der Bundesanwaltschaft als „ziemlich ungeheuerlich“. Es scheine „einiges aus dem Lot geraten“ zu sein, wenn beim massenhaften illegalen Abhören normaler Bürger und des gesamten Politikbetriebs juristisch nichts passiere. Journalisten, die zu Überwachungsmaßnahmen berichteten, würden dagegen massiv verfolgt.
Nur 48 Stunden nach der ersten Nachricht von der Affäre #landesverrat demonstrierten mehrere tausend Menschen in Berlin gegen einen übergriffigen Staat. Teilnehmer forderten lautstark den Rücktritt von Range. Dieser setzte mögliche Exekutivmaßnahmen wie Hausdurchsuchungen im Rahmen der Ermittlungen wenige Stunden nach Bekanntwerden aus, mit Blick „auf das hohe Gut der Presse- und Meinungsfreiheit“.
Generalbundesanwalt als Bauernopfer
Der Unmut blieb trotzdem groß: Auf Plakaten bei der Demo war beispielsweise zu lesen: „Maaßen nach Moskau, Snowden nach Berlin.“ Selbst die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) befürchtete einen Einschüchterungseffekt und beschwerte sich beim damaligen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD): Das Verfahren könne der journalistischen Arbeit zum Wohle der Öffentlichkeit schaden.
Erst nach anderthalb Wochen war der Spuk größtenteils vorbei. Die Bundesanwaltschaft erklärte am 10. August 2015, die Untersuchungen wegen des Vorwurfs insgesamt eingestellt zu haben. Bereits zuvor hatte sich der damalige Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) gegen Range gestellt, nachdem dieser einen unerträglichen Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz bemängelt hatte. Der Generalbundesanwalt musste daraufhin als Bauernopfer seinen Hut nehmen und in den einstweiligen Ruhestand gehen. Der Geschasste behauptete weiter, nur seine Pflicht getan zu haben. Weitgehend unklar blieb, ob und inwiefern Beckedahl und Meister in den vergangenen Monaten Ziel von Überwachungsmaßnahmen geworden waren.
Fünf Jahre später warf Netzpolitik.org einen vertieften Blick auf die Akteure der Affäre. Maaßen sei zwar die treibende Kraft gewesen und habe den Skandal maßgeblich verursacht, befand die Redaktion in einem Podcast. Der einstige CDU-Mann sei auf die irrwitzige Idee gekommen, „dass es bei unseren beiden Artikeln um Landesverrat und um Staatsgeheimnisse gehen könnte“. Das haltlose „Gutachten“ seines Geheimdienstes für die Bundesanwaltschaft habe er aber nicht selbst geschrieben. Abgenickt worden sei das Ganze „politisch im Bundesinnenministerium“, dem damals Thomas de Maizière (CDU) vorstand.
Was wusste Innenminister de Maizière?
Es gab demnach Hinweise darauf, dass hochrangige Beamte im Innenressort, einschließlich einer Staatssekretärin, über das Vorhaben Maaßens zum Stellen einer Strafanzeige informiert waren und dieses billigten. De Maizière behauptete, erst sehr spät von den Ermittlungen erfahren zu haben. Der Ressortchef versuchte, die Verantwortung primär aufs BfV und auf Heiko Maas abzuladen. Er geriet unter Druck und musste dem Vorwurf trotzen, sich wegzuducken und keine volle Aufklärung zu betreiben.
Zudem leisteten Mitarbeiter des Innenministeriums Widerstand gegen die Einstellung des Verfahrens, die Heiko Maas anstrebte. Die unterschiedlichen Positionen zwischen dem SPD-geführten Justizressort und dem CDU-geführten Innenministerium trugen zur Eskalation des Skandals bei.
„Heute vor zehn Jahren stand ich für zehn Tage im Zentrum einer Staatsaffäre“, erinnerte sich Beckedahl in einer Mail an Abonnenten seiner Newsletter-Liste Digitalpolitik.de am 30. Juni 2025. Der „heutige Rechtsaußen-Verschwörungsideologe Maaßen“ habe sich damals an dem Bericht zum „geheimen Ausbau der Internetüberwachung“ gestört. Der 49-Jährige bedauert nach wie vor: Die Bundesregierung habe diese Enthüllungen „leider als Machbarkeitsstudie“ gesehen.
Streisand-Effekt in Aktion
„Was folgte waren die ereignisreichsten zehn Tage meines Lebens“, blickt der Aktivist zurück. Kamerateams von Tagesschau und Co. seien „teilweise vormittags und nochmal nachmittags bei uns im Büro“ gewesen, „weil es ständig neue Entwicklungen gab“. 2500 Personen seien für die Pressefreiheit auf die Straße gegangen. „Unsere Spenden-IBAN war Trending Topic auf Twitter“, dem heutigen X, „weil unsere Webseite und damit auch unsere Spendeninformationen den Anfragen aus aller Welt damals nicht Stand halten konnte“, kann Beckedahl auch eine gewisse Freude über den ausgelösten „Streisand-Effekt“ nicht verbergen. „Wir bekamen in den zehn Tagen so viel Geld an Spenden, dass wir unsere Redaktion im Anschluss ausbauen konnten.“
„Und ich musste meine Mutter beruhigen, dass sie sich keine Sorgen machen muss“, heißt es in der Rückschau weiter. „Sie hatte im Videotext gelesen, dass darauf ein Jahr bis lebenslänglich stehen. Wir hatten doch nur unsere Arbeit gemacht.“
Anderthalb Wochen später endeten die Ermittlungen, welche schon im Mai gestartet worden waren. Damit habe die Redaktion zwar doch noch Sommerferien bekommen, führt Beckedahl aus. Zugleich sei aber mit der Entlassung Ranges die Chance vertan gewesen, „vor Gericht unsere Unschuld zu beweisen“. Denn die Sache sei konstruiert gewesen als gezielte Attacke „von Rechtsaußen-Akteuren in verantwortlicher Position“ auf die freien Medien.
Aus der Schlinge gezogen
Er habe viel gelernt „über mediale und politische Mechanismen und wie sich politisch Verantwortliche aus der Schlinge ziehen können“, lautet das Fazit des Journalisten. In der parlamentarischen Aufarbeitung seien zwar „zahlreiche Ungereimtheiten“ zutage gekommen. „Das interessierte aber dann niemand mehr, denn es wurde der Herbst 2015 und die Zeit von ‚Wir schaffen das'“. Er selbst und Meister bekämen „leider erst in frühestens 20 Jahren Zugriff auf Akten“.
Beckedahl hat nach eigenen Angaben „trotzdem den Glauben an den Rechtsstaat nicht verloren“, sondern eher eine „Jetzt erst recht“-Haltung entwickelt. Sein Leben und seine Schwerpunktthemen hätten sich mit dem Ausstieg bei Netzpolitik.org nach 20 Jahren geändert. Er sehe mittlerweile jenseits von staatlicher Überwachung die viel größere Gefahr darin, „demnächst keine funktionierenden demokratischen Öffentlichkeiten mehr zu haben“. Daher sei es erforderlich, „die Macht von Big Tech und den Tech-Oligarchen“ effektiv zu begrenzen sowie demokratische Alternativen zu fördern, „damit wir morgen Wahlfreiheit bekommen“.
Die Revolution frisst ihre Kinder? Zumindest etwas staatstragender klingt der einstige Medienrevoluzzer inzwischen. Als Kurator der Internetkonferenz re:publica stellt Beckedahl aber einmal im Jahr noch die Frage: „In welcher digitalen Gesellschaft wollen wir leben?“ Zugleich baut er das Zentrum für Digitalrechte und Demokratie auf, um Öffentlichkeit für sein Anliegen zu schaffen und „den notwendigen Druck auf die Politik auszuüben“. Mit an Bord: Die Kampagnen-Organisation Campact, die für progressive Politik eintritt. Als Kolumnist will Beckedahl auch dem Journalismus erhalten bleiben.
„Der eigentlich Verantwortliche“
Quintessenz der Affäre war der Konflikt zwischen Pressefreiheit und staatlicher Geheimhaltung. Die Auseinandersetzung entpuppte sich aber auch als heftiger politischer Konflikt zwischen den beiden damaligen – und heutigen – Koalitionspartnern CDU/CSU und SPD. Sie beleuchtete zugleich die Rolle der Geheimdienste im Staatswesen. Letztlich zeigte sich, dass die Hürden für eine Anklage wegen Landesverrats in einer demokratischen Gesellschaft sehr hoch sind – gerade wenn es um die Aufdeckung von Informationen im öffentlichen Interesse geht.
Maaßen kam damals noch weitgehend ungeschoren davon. „Der eigentlich Verantwortliche“ sei der Ex-Inlandsgeheimdienstchef, der im Generalbundesanwalt einen willfährigen Mittäter gefunden habe, wetterte Beckedahl zwar schon vor einem Jahrzehnt. Stephan Mayer, zu diesem Zeitpunkt Innenexperte der CDU/CSU-Fraktion, hob dagegen hervor, Maaßen habe lediglich auf die Tatsache reagiert, dass immer wieder vertrauliche Dokumente durchsickerten. De Maizière ließ mitteilen, der Behördenleiter habe sich „völlig korrekt“ verhalten.
Maaßen fiel erst im Herbst 2018 in Ungnade, hauptsächlich wegen seiner umstrittenen Äußerungen zu Ausschreitungen gegen Migranten in Chemnitz. Während die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) von „Hetzjagden“ sprach, zweifelte der BfV-Chef die Echtheit eines entsprechenden Videos an. Mayer wiederum stolperte nach einigen Affären 2022 über den Vorwurf, er habe einen „Bunte“-Journalisten massiv mit Vernichtung bedroht und erpresst. Der CSU-Politiker bestritt dies zwar, trat aber – offiziell aus gesundheitlichen Gründen – von seinem Amt als Generalsekretär der Partei zurück.
(nen)
Künstliche Intelligenz
Trotz Apple-Milliarden: Trumps Traum vom US-iPhone bleibt wohl eine Illusion
600 Milliarden US-Dollar will Apple in den kommenden vier Jahren in seinem Heimatmarkt investieren, 100 Milliarden davon wurden erst in dieser Woche angekündigt – mit großem Tamtam, einem goldenen Geschenk für US-Präsident Donald Trump sowie einer Art neuer Marke, dem „Apple American Manufacturing Program“. Allein eine Sache wollte Apple-CEO Tim Cook nicht ankündigen: die von der amerikanischen Regierung so sehr erhoffte lokale Herstellung von iPhones.
iPhone mit großem US-Inhalt
Cook scheint gelungen zu sein, Trump davon zu überzeugen, dass das keine einfache Aufgabe ist. Der gab sich vor Medienvertretern erstaunlich zurückgenommen. Statt Apple erneut mit Zöllen für in China und Indien produzierte Smartphones zu drohen, gab es viel Lob für Apple – und Verständnis. Die iPhone-Produktion sei „für eine lange Zeit an anderen Orten“ gewesen, mit dem entsprechenden Kostenmodell, so Trump. „Ich denke aber, wir können [Cook] eines Tages ausreichend Anreize geben, [das iPhone] hierherzubringen.“
Trump lobte die Komponentenfertigung in den USA. Apple investiere nirgendwo so viel wie hier. „Nicht einmal annähernd.“ Apple komme „zurück nach Amerika“. Cook hatte zuvor betont, wie wichtig ihm die iPhone-Komponenten seien, die man bereits in den USA herstelle: „Viele Halbleiter, das Glas, das Face-ID-Modul.“ Die Herstellung erfolge auch für Produkte, die in anderen Ländern verkauft werden. „Der [iPhone-]Inhalt aus den Vereinigten Staaten ist groß.“
Endmontage der iPhones bleibt in China und Indien
Es ist also nicht damit zu rechnen, dass Apple das iPhone – das dort bislang nie produziert wurde – in absehbarer Zeit zurück in die USA holt. Stattdessen setzt der Konzern weiter darauf, die Herstellung in Indien auszubauen, auch wenn dort vor allem Komponenten, die aus China angeliefert wurden, zusammengeschraubt werden. Beobachtern zufolge könnte es viele Jahre dauern, bis die Lieferkette, die in der Volksrepublik existiert, auf dem Subkontinent aufgebaut ist.
Cook hatte sich mit dem Milliardeninvestment ein Stück weit freigekauft. Denn Unternehmen, die wie Apple viel in den Vereinigten Staaten investieren, sollen Zollausnahmen erhalten. So sollen etwa Chipimporte mit 100 Prozent Einfuhrgebühren belegt werden. Apple wird diese nicht zahlen müssen. Auch beim aktuellen Konflikt zwischen den USA und Indien um russisches Erdöl dürfte – so zumindest der aktuelle Stand – Apple nicht zum Zollopfer werden.
(bsc)
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