Datenschutz & Sicherheit
Experten zerpflücken automatisierte Datenanalyse bei der Polizei Sachsen-Anhalt
Trotz vielfältiger Kritik greift die Idee, automatisierte Massendatenanalysen mit Palantir in der Polizeiarbeit zu nutzen, weiter um sich. Der jüngste Beschluss der Innenministerkonferenz liebäugelt zwar mit einem „neuen, europäisch beherrschten System“ statt der Palantir-Software, deren Anbieter aus den Vereinigten Staaten stammt. Aber bis irgendwann einmal Ersatz gefunden ist, muss man wohl mit dem vorliebnehmen, was bereits da ist.
Und das ist eben Palantir. Derzeit ist in Sachsen-Anhalt zu beobachten, wie darum gestritten wird. Dort hat die Landesregierung aus CDU, SPD und FDP im Januar einen Gesetzentwurf „zur Änderung des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt“ vorgelegt. Die automatisierte polizeiliche Datenanalyse würde damit erstmals erlaubt. Sie sei „erforderlich“, steht in der Gesetzesbegründung, und auch dem „stetigen Ansteigen der vorhandenen Daten, welche durch die Polizei ausgewertet werden müssen“, geschuldet.
Kritik an dem Entwurf war bereits in einer öffentlichen Anhörung im Innenausschuss des Magdeburger Landtags am 24. April 2025 geäußert geworden. Denn seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2023 müssen detaillierte Vorgaben für den Einsatz von Palantir oder vergleichbarer Software bei der Polizei erfüllt werden, zu deren Umsetzung Gesetzgeber verpflichtet wurden.
Zudem wirft die Trump-Regierung und der Schmusekurs der US-Tech-Konzerne seine Schatten: Es scheint sich in der politischen Bewertung US-amerikanischer Anbieter, insbesondere bei sensiblen Daten aus dem Innenleben der Polizei, die Haltung durchgesetzt zu haben, dass zu starke Abhängigkeiten bei polizeilicher Rasterfahndungssoftware zu vermeiden seien.
Stellungnahmen der Sachverständigen
Die Bewertungen der Experten in der Innenausschuss-Anhörung sind also von besonderem Interesse. Allerdings veröffentlicht der sachsen-anhaltinische Landtag die schriftlichen Stellungnahmen von Sachverständigen bei solchen Anhörungen nicht online. Das erscheint im Jahr 2025 nicht mehr zeitgemäß. Auf Nachfrage von netzpolitik.org, warum man zwar die Protokolle der öffentlichen Sitzungen der Ausschüsse, nicht aber die abgegebenen Stellungnahmen veröffentlicht, antwortet Sachsen-Anhalts Landtagsverwaltung nichts. Wegen „Absprachen im Hause“ und wegen Urlaubs könne man erst ab 21. Juli antworten.
Dankenswerterweise stellt die in den Ausschuss geladene Sachverständige Franziska Görlitz von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) ihre Stellungnahme (pdf) nun zur Verfügung. Die Stellungnahme von Jonas Botta (pdf) vom Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung hatte der Sachverständige bereits kurz nach der Anhörung öffentlich gestellt.
Nach der Stellungnahme von Maria Rost, der sachsen-anhaltinischen Landesbeauftragten für den Datenschutz, haben wir ihre Behörde schriftlich gefragt. Denn in der öffentlichen Ausschuss-Sitzung am 24. April gab die Datenschützerin an, ihre Stellungnahme im Nachgang der Sitzung an den Landtag zu senden. Rosts Behörde schickte auf die schriftliche Bitte von netzpolitik.org ein kurzes Schreiben, das als Stellungnahme an den Ausschuss gegangen war. Das Schreiben deckt sich mit den mündlichen Aussagen Rosts in der Anhörung.
Rost weist darauf hin, dass die Kategorien von Personen, die bei der Datenanalyse erfasst werden sollen, „zu weitgehend“ seien. Es würden „auch Personen erfasst, die für ihre Speicherung in den polizeilichen Systemen selbst keinen Anlass gegeben haben (Nichtstörer, Zeugen, Begleitpersonen)“.
Auf Nachfrage von netzpolitik.org macht auch die GFF-Juristin Görlitz deutlich, was fehlende Beschränkungen bei den Personenkategorien praktisch bedeuten: Dadurch können „auch Daten völlig unbeteiligter Personen, wie zum Beispiel Opfer einer Straftat oder anzeigeerstattende Personen, in die Analyse geraten“.
Welche Daten zusammengeführt werden
Niemand hatte in der Anhörung bestritten, dass mit dem Gesetzentwurf und dem Einsatz von Analysesoftware schwere Grundrechtseingriffe verbunden sind, insbesondere in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Jedoch gehen Botta und Görlitz deutlich härter und ausführlicher mit dem Gesetzentwurf ins Gericht als Rost, deren mündliche Auskünfte vielfach vage blieben.
Ein Knackpunkt sind die in die Analyse einfließenden Daten. In der Stellungnahme von Jonas Botta wird die Art der verschiedenen Daten konkretisiert, die durch die Software zusammengeführt werden: Es handelt sich zum einen um eine Fülle an sogenannten Vorgangsdaten wie Anzeigen, Ermittlungsberichte, Hinweise, Zeugenaussagen und Vermerke aus dem Polizeialltag und zusätzlich um die polizeilichen Falldaten. Zum anderen kommen Daten aus den Informations- und Austauschsystemen der Polizei und dem bundesweiten polizeilichen Informationssystem (INPOL-neu) hinzu, dazu noch Telekommunikationsverkehrsdaten aus Funkzellenabfragen sowie weitere Telekommunikationsdaten und Daten aus Asservaten, also beschlagnahmten Geräten. Die Liste ist also nicht nur lang, sondern vor allem vielfältig.
Botta, Verfassungs- und Datenschutzjurist beim Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung, weist darauf hin, dass keine herkunftsbezogene Beschränkung im Gesetzentwurf enthalten ist. So können beispielsweise auch Daten hineingerührt werden, die gar nicht durch inländische Polizeibehörden erhoben worden sind. Das betrifft auch Geheimdienstdaten: Personenbezogene Daten, die von Geheimdiensten wie Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst oder Militärischem Abschirmdienst an Polizeibehörden übermittelt wurden, können so ebenfalls bei Palantir landen. Es sei nach dem Gesetzentwurf zulässig, solche Geheimdienstinformationen, die sich „in den polizeilichen Datenbeständen befinden, in eine Analyseplattform einzuspeisen“, so Botta.
Palantir
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Die Sachverständige Franziska Görlitz von der GFF erinnert in ihrer Stellungnahme (pdf) den Gesetzgeber daran, „dass ausreichende Regelungen zu Art und Umfang der Daten und zur Beschränkung der Datenverarbeitungsmethoden im Gesetz geregelt“ werden müssen. Genau das fordert nämlich das Palantir-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2023. Sachsen-Anhalt missachtet dies, stellt Görlitz fest, denn die entsprechende Regelung des Entwurfs „genügt diesen Anforderungen nicht“. Es gäbe „keine ausreichenden Begrenzungen von Art und Umfang der verwendeten Daten sowie der Analysemethoden“.
Ihre Bewertung des Gesetzentwurfs fällt unzweideutig aus: „Die im Entwurf geplanten gesetzlichen Grundlagen für automatisierte Datenanalysen durch die Polizei in Sachsen-Anhalt genügen den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht. Sowohl die geplante operative als auch die strategische Datenanalyse ermöglichen weitreichende und komplexe automatisierte Datenanalysen und Predictive Policing.“ Mit dem Begriff „Predicitive Policing“ wird eine polizeiliche Software-Analyse umschrieben, die auch Vorhersagen und Wahrscheinlichkeiten für zukünftige Ereignisse berechnen soll.
Görlitz bemängelt noch mehr Grundsätzliches: „Es fehlen Vorschriften zum Schutz vor diskriminierenden Algorithmen. Auch sind die Voraussetzungen, unter denen die Analysen stattfinden dürfen, zu gering, gerade für die strategische Datenanalyse. So sind Analysen schon weit im Vorfeld tatsächlicher Gefahren möglich. Zudem überlässt der Gesetzgeber zu viele grundrechtswesentliche Fragen, die er selbst im Gesetz entscheiden müsste, der Verwaltung zur eigenen Regelung durch Verordnung.“
Auch der Sachverständige Jonas Botta macht gegenüber netzpolitik.org deutlich, wie kritisch er das geplante Gesetz sieht: „Das Bundesverfassungsgericht hat 2023 klare Maßstäbe für eine verfassungskonforme Datenanalyse durch die Polizei formuliert. Diese Anforderungen hat die Landesregierung bei der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs nur unzureichend beachtet.“
Botta sieht zudem die Kontrolle unzureichend geregelt: Es mangele „an einem wirksamen Kontrollkonzept – sowohl durch interne als auch durch externe Datenschutzbeauftragte“. Er betont, dass eine technologisch besser aufgestellte Polizei für eine effektive Gefahrenabwehr bedeutsam sei. Aber umso entscheidender sei es, „ihre neuen Befugnisse klar grundrechtlich zu begrenzen“.
Bayern testet rechtswidrig Palantir-Software
Zwischenlösung Palantir?
Wir haben das Innenministerium von Sachsen-Anhalt wie in bisher jeder schriftlichen Anfrage von netzpolitik.org gefragt, ob und welche Alternativen zu Palantir bei polizeilicher Analysesoftware dort bekannt sind oder in Erwägung gezogen werden. Auf die Frage antwortet das Ministerium nur ausweichend und nennt keine alternativen Anbieter.
Innenministerin Tamara Zieschang (CDU) hatte im April in der Innenausschuss-Anhörung erklärt, dass es „binnen der nächsten ein, zwei Jahre“ keine bundesweite Lösung geben werde. Sie hätte sich tags zuvor erst „mit einem Anbieter einer weiteren Software darüber unterhalten, ob diese das überhaupt bewerkstelligen kann“. Es hätte sich „um einen deutschen Software-Hersteller“ gehandelt. Der Anbieter blieb wie immer namenlos.
Auf die Frage von netzpolitik.org danach, ob die Software von Palantir für ein Vergabeverfahren noch in Frage kommen kann, wenn nach dem Beschluss der Innenministerkonferenz (IMK) „zuverlässige Beherrschbarkeit und die Rechtskonformität zu gewährleisten sowie die strukturellen Einflussmöglichkeiten außereuropäischer Staaten auszuschließen“ sein sollen, bleibt das Ministerium die Antwort schuldig. Man könne „zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Angaben zu Anbietern spezifischer Softwareprodukte“ machen. Ansonsten verweist das Innenministerium auf eine parlamentarische Antwort, die zu den Fortschritten bei einem gemeinsamen polizeilichen „Datenhausökosystem“ informiert. Demnach werden seit Ende 2024 „initiale Services durch erste Teilnehmer in den Wirkbetrieb genommen“, darunter die Polizei Sachsen-Anhalts.
Auch ob das Innenministerium als mögliche Zwischenlösung überhaupt die Software von Palantir in Erwägung zieht, bleibt unbeantwortet. Man unterstütze den IMK-Beschluss für ein europäisch beherrschtes System, teilt eine Sprecherin mit. Das mag wohlfeil sein, aber dieses System liegt bekanntermaßen schlicht nicht vor.
In der mündlichen Anhörung im sachsen-anhaltinischen Innenausschuss gab die Landesdatenschutzbeauftragte Rost zu der Frage nach Alternativen die Angabe zu Protokoll, dass sie nicht wüsste, „ob es noch andere Angebote gibt, ob dazu eine Markterkundung gemacht“ worden sei.
Jurist Botta schätzt die „faktische Monopolstellung von Palantir“ als „besorgniserregend“ ein. Soweit bekannt, würde „für die deutschen Polizeibehörden bislang keine ernstzunehmende Alternative“ erwogen: „Das widerspricht grundlegenden Prinzipien digitaler Souveränität.“ Botta erklärt gegenüber netzpolitik.org, dass es endlich den politischen Willen brauche, digitale Abhängigkeiten zu überwinden und „rechtsstaatliche Leitplanken nicht nur anzumahnen, sondern auch konsequent umzusetzen“.
Trump geleckt
Probleme nicht nur in Sachsen-Anhalt
Die automatisierte polizeiliche Datenanalyse ist kein Spezialproblem Sachsen-Anhalts. Die GFF hatte bereits das Palantir-Urteil in Karlsruhe erstritten und danach neuerliche Verfassungsbeschwerden eingereicht sowie weitere angekündigt. Denn aus Sicht der GFF missachten die gesetzlichen Neuregelungen in den derzeitigen Palantir-Nutzerländern Nordrhein-Westfalen und Hessen verfassungsrechtliche Vorgaben. Seit Oktober 2022, also schon vor dem Palantir-Urteil eingereicht, liegt eine Verfassungsbeschwerde gegen das NRW-Polizeigesetz in Karlsruhe. Auch die gesetzliche Regelung zur automatisierten Datenanalyse im Freistaat Bayern, die nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil ergangen ist, betrachtet die GFF kritisch.
Für Sachsen-Anhalt sieht es offenbar nicht besser aus. Jurist Botta formuliert es gegenüber netzpolitik.org in aller Deutlichkeit: „Unabhängig von einer möglichen Nutzung von Palantir verstößt die landesrechtliche Regelung zum polizeilichen Data Mining gegen das Grundgesetz – insbesondere gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.“
Ob also der milliardenschwere US-Anbieter auch in Sachsen-Anhalt zum Zuge kommt, ist nur ein Teil des Problems. Das andere liegt darin, dass die Landesregierung ihre verfassungsrechtlichen Hausaufgaben nicht gemacht hat. Man könnte meinen, das Palantir-Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird im Innenministerium Sachsen-Anhalts mehr als zwangloser Vorschlag denn als das gesehen, was es ist: eine verpflichtende Vorgabe.