Künstliche Intelligenz

Niedersachsen: Polizei soll schon im Vorfeld von Straftaten überwachen dürfen


Die niedersächsische Landesregierung will mit ihrem Entwurf zur Novelle des Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes (NPOG) den Strafverfolgern des Landes umfassende neue Befugnisse im digitalen Raum und bei der präventiven Gefahrenabwehr verschaffen. Die Reform soll es den Ordnungshütern ermöglichen, auf neue Bedrohungsformen – insbesondere im Bereich Cyberkriminalität und Terrorismus – effektiver reagieren zu können.

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Doch es hagelt Kritik: In deren Zentrum stehen die Herabsetzung der Eingriffsschwelle und die geplanten technologischen Überwachungsinstrumente, die erhebliche Grundrechtseingriffe zur Folge haben könnten.

Die wohl einschneidendste Neuerung ist die Einführung des Konzepts der „Vorfeldstraftat“ in Paragraf 2, das die Eingriffsschwelle polizeilicher Maßnahmen senkt und an die Precrime-Dystopie aus dem Film „Minority Report“ erinnert. Mit dem vom Bundesverfassungsgericht im Urteil zum BKA-Gesetz behandelten Ansatz sollen Überwachungsbefugnisse schon in einem sehr frühen Stadium zur Anwendung kommen, sofern eine strafbewehrte Vorbereitungshandlung von erheblicher Bedeutung vorliegt.

Zu den zentralen Überwachungsmaßnahmen, die bereits im Vorfeld zulässig sein sollen, gehört der nachträgliche biometrische Abgleich mit öffentlich zugänglichen Daten aus dem Internet (Paragraf 32 c). Dies würde es Ermittlern erlauben, biometrische Merkmale, etwa aus Fotos oder aus der Videoüberwachung von Personen, die mit einer einschlägigen Vorfeldstraftat in Verbindung stehen, mit öffentlich zugänglichen Informationen abzugleichen. So könnten sie etwa mit automatisierter Gesichtserkennung die Identität feststellen.

Gegner werten dies als rechtliche Grundlage für ein weitreichendes, anlassloses Internet-Crawling durch die Polizei. Ebenfalls ist der Einsatz der automatisierten Datenanalyse (Paragraf 45 a) zur Abwehr von Gefahren im Zusammenhang mit einer Vorfeldstraftat von erheblicher Bedeutung vorgesehen.

Die Novelle sieht generell eine Reihe neuer Befugnisnormen zur Nutzung moderner Technologien vor, die tief in die informationelle Selbstbestimmung der Bürger eingreifen. Der Entwurf regelt etwa den Einsatz sogenannter intelligenter Videoüberwachung. Dabei unterscheidet die rot-grüne Landesregierung zwischen zwei den Hauptformen Verhaltenserkennung und biometrischer Echtzeit-Fernidentifizierung.

Bei ersterer werden automatisierte Systeme zur Erkennung und Auswertung von Mustern bezogen auf Personen eingesetzt. Die Anwendung soll auf die Feststellung von Verhaltensmustern beschränkt werden, die auf eine geplante Straftat oder einen Unglücksfall hindeuten. Eine pauschale Zulassung zur biometrischen Erkennung wird zwar ausgeschlossen, eine automatisierte Vorhersage potenzieller Gefahrenlagen aber nicht.

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Auch eine Kompetenz zur besonders umkämpften Live-Gesichtserkennung im öffentlichen Raum soll neu geschaffen werden. Sie ist dem Plan nach nur zulässig, um eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben abzuwehren oder zur Verhinderung einer terroristischen Straftat, und unterliegt einem strengen Richtervorbehalt mit hohen Eingriffshürden. Die KI-Verordnung der EU setzt hier enge Grenzen, deren Einhaltung voraussichtlich gerichtlich überprüft werden dürfte.

Mit der Einführung der automatisierten Datenanalyse soll die Polizei KI-gestützte Anwendungen nutzen dürfen, um große Mengen von rechtmäßig erhobenen, internen Fall-, Personen- und Sachdaten zu verknüpfen und auszuwerten. Ziel ist es, durch die Erkennung von verborgenen Mustern und Beziehungen in komplexen Datensätzen Gefahren frühzeitig zu erkennen und abzuwehren.

Obwohl die Regierung betont, keine Software der umstrittenen US-Firma Palantir einsetzen zu wollen, sollen damit potenziell ähnlich weitreichende Big-Data-Analysen zulässig werden. Die Kontrolle will sie durch den vagen Grundsatz „Human-in-the-Loop“ gewährleistet wissen, bei dem die finale Entscheidung über polizeiliche Schritte beim Beamten verbleiben würde.

Auch weitere Bereiche sollen eine deutliche rechtliche Ausweitung erfahren: Der Entwurf schafft Rechtsgrundlagen für den Einsatz unbemannter Fahrzeugsysteme (Drohnen). Dieser soll grundsätzlich offen erfolgen. Zudem geht es um die Detektion und Abwehr solcher Flugobjekte, die eine unberechtigte Gefahr darstellen.

Ferner soll die Nutzung von mobilen Bild- und Tonaufzeichnungsgeräten räumlich und technisch erweitert werden. Künftig könnten Bodycams unter strengen Voraussetzungen – zur Abwehr einer dringenden Gefahr für Leib oder Leben – auch in Wohnungen genutzt werden. Technisch ermöglicht wird zudem die automatisierte Auslösung der Aufzeichnung, beispielsweise über eine Holster-Signalvorrichtung beim Ziehen der Dienstwaffe, um das Deeskalationspotenzial und die Beweissicherung in Stresssituationen zu erhöhen.

Im Rahmen der Anpassung an europäische Vorgaben sollen zudem die Regeln zur Datenübermittlung an öffentliche und private Stellen auch in Drittstaaten überarbeitet werden. Das nährt Sorgen für die Privatsphäre bei Weitergaben in Länder mit potenziell geringerem Datenschutzniveau.

Bürgerrechtler vom Freiheitsfoo monieren, dass das Vorhaben einen Paradigmenwechsel in der niedersächsischen Sicherheitspolitik einleite. Der Staat verlagere damit seinen Fokus von der konkreten Gefahrenabwehr hin zur Vorhersage. Die Bevölkerung werde unter Generalverdacht gestellt. Punkte wie Transparenz insbesondere zur Funktionsweise der KI-Systeme und die Gefahr der Diskriminierung durch algorithmische Voreingenommenheit blieben unterbelichtet.

Die 1. Lesung im Landtag ist für Mittwoch geplant. Auch Länder wie Berlin oder Baden-Württemberg stricken aktuell an Novellen ihrer Polizeigesetze, wobei ebenfalls KI-Analysen im Vordergrund stehen. Bei der Bundesregierung ist ein ähnliches „Sicherheitspaket“ in der Mache.


(wpl)



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