Künstliche Intelligenz

Patientenakten: Arzt-Patientenverhältnis wegen Abrechnungsdilemma unter Druck


Seit Patienten in ihrer elektronischen Patientenakte lesen können, welche Diagnosen Ärzte bei ihnen verschlüsselt haben, hagelt es Kritik. Häufig heißt es: Viele dieser Diagnosen seien übertrieben oder frei erfunden. Ärzte würden bestimmte Diagnosen aus Abrechnungsgründen eintragen. Dieser Vorwurf wiegt schwer. Wie kann ich einem Arzt noch vertrauen, der mir Krankheiten andichtet, die ich gar nicht habe? Es geht häufig um sogenannte F‑Diagnosen, das sind psychische Zustände und Krankheiten. Wer eine solche F‑Diagnose bekommt, muss mit Nachteilen rechnen, beispielsweise bei einer Verbeamtung oder beim Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung.

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Dr. Karen v. Mücke, Fachärztin für Innere Medizin, niedergelassene Hausärztin und Diabetologin in München.

(Bild: 

Photogenika

)

Wenn ein Arzt die Zusatzbezeichnung „psychosomatische Grundversorgung“ erworben hat, darf er bei psychosomatischen Krankheitsbildern zum Beispiel für ein 15‑minütiges Gespräch die Ziffer 35100 abrechnen, aktuell für 32,92 Euro gemäß Abrechnungsgrundlage für Vertragsärzte, dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab.

Mindestens 20 Prozent der Patienten in einer Hausarztpraxis leiden an körperlichen Beschwerden, für die es keine ausreichende organische Erklärung gibt. Typische Beispiele sind Reizdarm, Erschöpfung oder unspezifische Rückenschmerzen. In vielen Fällen finden diagnostische oder therapeutische Gespräche statt, die entsprechend abgerechnet werden. Damit eine solche Abrechnung möglich ist, muss eine passende – häufig psychosomatische – Diagnose verschlüsselt werden. Das ist dann keine Erfindung von Diagnosen, sondern eine systembedingte Voraussetzung für die Leistungsabrechnung.

Eine junge Patientin wollte in die private Krankenkasse wechseln und ließ sich ihre Abrechnungsdaten von der gesetzlichen Krankenkasse schicken. Sie kam verärgert zu mir, weil dort die Diagnose „somatoforme Störung“ zu finden war. Wegen Zähneknirschen hatte sie in einer herausfordernden beruflichen Situation eine Aufbiss-Schiene bekommen. Ich hatte „Zähneknirschen“ als Diagnose verschlüsselt, bei der Kasse kam „somatoforme Störung“ an. In meiner Arztsoftware werden bei der Diagnoseverschlüsselung Kurztexte angezeigt. Tatsächlich können bei bestimmten ICD-Codes unterschiedliche Diagnosen hinterlegt sein.

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Mir ist es schon passiert, dass ich eine psychosomatische Störung nicht als Akutdiagnose, sondern versehentlich als Dauerdiagnose verschlüsselt habe. Die wird dann automatisch in die Folgequartale übernommen. Ich habe in dem Fall die gesetzliche Krankenkasse angeschrieben und um Löschung der fehlerhaften Dauerdiagnose gebeten, damit die Patientin keine Nachteile erleidet. Von der Kasse habe ich darauf niemals eine Rückmeldung bekommen.

Vor einigen Jahren kam eine Mitarbeiterin einer Krankenkasse zu mir in die Praxis. Sie bot Unterstützung bei der Diagnoseverschlüsselung an und hatte gleich passende Listen dabei. Je kränker der Patient ist, desto mehr Geld erhält die Kasse durch den sogenannten Risikostrukturausgleich (Morbi‑RSA), der die Ausgaben zwischen den Krankenkassen nach der Krankheitslast ihrer Versicherten verteilt (§ 266 SGB V). Der Morbi-RSA wurde laut Ärzteblatt auch von den Krankenkassen kritisiert. Aufgrund des Morbi-RSA haben Kassen ein Interesse daran, dass möglichst alle Krankheiten des Patienten erfasst werden – was in der Praxis leicht zum sogenannten „Upcoding“ führen kann. Solche Vorfälle sind dokumentiert und wurden in Aufsichtsprüfungen (PDF) als Einzelfälle erkannt, systematische Manipulationen ließen sich jedoch nicht nachweisen.

Auch die Arztsoftware schlägt ergänzende Diagnosen vor. Wenn man diese bestätigt, ohne sie genau zu prüfen, macht man Patienten möglicherweise kränker, als sie sind.

Dass Ärztinnen und Ärzte massenhaft bewusst falsche Diagnosen angeben, um sich zu bereichern, ist unwahrscheinlich. Häufig wird jedoch systembedingt kodiert: Um bestimmte Medikamente oder Therapien verordnen zu können, ist eine spezifische Diagnose Voraussetzung. So darf eine große Packung Säureblocker nur „auf Kasse“ verschrieben werden, wenn die Diagnose „Refluxkrankheit“ gestellt wird – nicht aber bei bloßem „Sodbrennen“. Und ein Antidepressivum darf nur bei entsprechender F‑Diagnose verordnet werden. Dieses Vorgehen verfälscht die Daten, ist medizinisch aber oft sinnvoll und legitim.

Ein finanzieller Vorteil entsteht bei der Abrechnung psychosomatischer Gespräche, weil diese besser vergütet werden. Das ist ein Dilemma: Psychische Erkrankungen und psychosomatische Beschwerden sind häufig. Die Verschlüsselung der entsprechenden Diagnosen ist nötig, um die psychosomatische Gesprächsziffer abrechnen zu können. Der Patient erleidet dadurch aber möglicherweise Nachteile.

Ein besonderer Fall sind Patienten mit ME/CFS, einer schweren, chronischen neuroimmunologischen Multisystemerkrankung, die oft durch Infektionen wie Covid-19 ausgelöst wird. In schweren Fällen werden junge Menschen bettlägerig, sind licht- und geräuschempfindlich und nicht mehr belastbar. Die oft vergebenen psychosomatischen Diagnosen werden ihnen nicht gerecht, auch wenn die Krankheit die Psyche beeinflussen kann. Erst seit Kurzem gibt es für diese Patienten spezielle Diagnose- und Abrechnungsziffern.

Diagnose- und Abrechnungsdaten aus Praxen sind nicht als reine Forschungsdaten geeignet, weil sie starken Verzerrungen unterliegen. Manchmal gibt es gar keine passende Diagnose, manchmal wird eine schwächere verwendet – zum Beispiel bekommt die junge Lehrerin mit einer depressiven Episode nur die Diagnose „Erschöpfung“, um ihre Verbeamtung nicht zu gefährden. Andererseits sind Ärztinnen gezwungen, bei ausgeprägten Schlafstörungen eine „depressive Episode“ zu verschlüsseln, weil sonst kein schlafanstoßendes Antidepressivum verordnet werden darf.

Die Kassen erhoffen sich, dass Patienten durch Einsicht in ihre elektronische Patientenakte falsche Abrechnungen entdecken und melden. Sie möchten dadurch leichter Abrechnungsbetrug von Ärzten aufdecken. Patienten sind in der Regel jedoch nicht in der Lage, komplizierte Abrechnungen zu prüfen, und es ist auch nicht ihre Aufgabe. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist nachhaltig zerstört, sobald der Patient seinen Arzt bei der Kasse meldet, weil er vermeintlich falsche Diagnosen oder eine falsche Abrechnung gefunden hat – auch wenn der Vorwurf vielleicht gar nicht zutrifft.

Das Problem ist nicht die Abrechnung der entsprechenden Diagnosen und Gesprächsziffern, sondern das gesellschaftliche Stigma: Patienten erleiden noch immer Nachteile durch psychosomatische oder psychiatrische Diagnosen. Diese Beschwerden müssen aus der Tabuzone herausgeführt werden. Sie sollten weder bei der Verbeamtung noch beim Wechsel in die private Krankenversicherung oder beim Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung zu Nachteilen führen.

Bestimmte Diagnose- und Abrechnungsziffern werden in Arztpraxen also vergeben, weil es medizinisch oder abrechnungstechnisch erforderlich ist – etwa, um ein Medikament verschreiben oder eine Leistung abrechnen zu können. Das führt zu systembedingten Verzerrungen, die nichts mit absichtlicher Falschdiagnostik zu tun haben.

Diagnosen und Abrechnungsdaten werden quartalsweise von den Ärzten an die Kassenärztliche Vereinigung übermittelt, von dort an die gesetzlichen Krankenkassen weitergegeben und in das Forschungsdatenzentrum (FDZ) eingespeist, wo sie pseudonymisiert vorliegen. Daten aus der elektronischen Patientenakte (ePA) sollen künftig ebenfalls einfließen. Damit soll eine bessere Nutzbarkeit der Daten zu Forschungszwecken und statistischen Auswertungen geschaffen werden. Unter anderem die Daten sämtlicher Privatpatienten fehlen im FDZ. Dadurch sind die Daten strukturell selektiv. Sie eignen sich für bestimmte Versorgungs- oder Trendanalysen, aber nicht für sozial-epidemiologische Gesamtbewertungen.


(mack)



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