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Soziale Medien als Zerrspiegel der Gesellschaft
Ob TikTok-Feeds mit verstörender Sogwirkung oder rechtsradikale Empörungswellen auf Twitter-Nachfolger X: Auf sozialen Medien unterwegs zu sein, fühlt sich oftmals aufwühlender an als ein Spaziergang durch die Innenstadt. Dieses Phänomen haben auch Psycholog*innen der Universität New York beobachtet. In ihrem aktuellen Paper beschreiben sie, wie soziale Medien die Wahrnehmung gesellschaftlicher Normen verzerren. Um die Effekte anschaulich zu machen, vergleichen sie Plattformen mit einer Fabrik aus Zerrspiegeln („funhouse mirror factory“).
Zerrspiegel kennen viele wahrscheinlich von Jahrmärkten. Sie verändern die Proportionen von Dingen. Man sieht sich darin zum Beispiel mit riesigen, in die Länge gezogenen Füßen und einem winzigen Erbsenkopf – oder gestaucht, als wäre man ein Gartenzwerg. Das Team um den US-amerikansichen Psychologie- und Neurologie-Professor Jay Van Bavel nutzt Zerrspiegel als Vergleich, um die Wirkung durch soziale Medien zu verdeutlichen. Soziale Medien spiegeln demnach durchaus die Gesellschaft, erzeugen aber kein realistisches Abbild.
Polarisierung durch verzerrte Wahrnehmung
„Online-Diskussion werden von einer überraschend kleinen, extrem lauten und nicht-repräsentativen Minderheit dominiert“, schreiben die Forschenden. Sie verweisen etwa auf Ergebnisse einer Studie des US-amerikanischen Pew Research Center aus dem Jahr 2019, wonach die Mehrheit politischer Inhalte auf Twitter von einer Minderheit der Nutzer*innen stammt. Auch bei sogenannten Fake News sehen die Forschenden diese Verzerrung. Laut einer Studie der Northeastern University in Massachusetts aus dem Jahr 2016 hätten nur 0,1 Prozent der Twitter-Nutzer*innen insgesamt 80 Prozent der Fake-News-Inhalte verbreitet.
An dieser Stelle kommt die psychologische Ebene ins Spiel. „Durch wiederholte Auseinandersetzung mit den Meinungen der Allgemeinheit kann man Rückschlüsse darauf ziehen, welche Meinung als gesellschaftliche Norm gilt“, schreiben die Forschenden. Das heißt: Die Verzerrungen auf sozialen Medien können auf die Nutzer*innen zurückwirken; das verzerrte Abbild als neue Norm erscheinen. Das könne zu Polarisierung führen, zu Feindseligkeit zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder zur Unterstützung autoritärer Regime, so die Forschenden.
Den Grund für die beobachteten Effekte sehen die Forschenden in der Gestaltung der werbefinanzierten Plattformen. „Soziale Medien funktionieren nach dem Prinzip der Aufmerksamkeitsökonomie – sie sind so gestaltet, dass sie möglichst viel Aufmerksamkeit erzeugen und Nutzende dazu bringen, möglichst intensiv zu interagieren.“ Es gebe also starke Anreize für Nutzer*innen, Inhalte zu posten, die Aufmerksamkeit erregen und Interaktion maximieren.
Elon Musk als Antreiber für Verzerrung
Das Paper erschien bereits Ende 2024, also vor der Machtübernahme durch die rechtsradikale Trump-Regierung im Januar 2025. Wir haben deshalb Van Bavel gefragt, wie er das Modell der Zerrspiegelfabrik aus heutiger Sicht betrachtet. „Diese Dynamik scheint immer noch eine Rolle zu spielen“, antwortet er auf Englisch. „Eine kleine Anzahl an extremen Akteur*innen treibt den Großteil der politischen Diskussion online an.“
Ein Beispiel dafür sei X-Eigentümer Elon Musk selbst, führt Van Bavel in einem Gastbeitrag für den Guardian weiter aus. In seinen ersten 15 Tagen als Chef der Abteilung DOGE habe Musk 1.494 Mal gepostet. Damit hat er also besonders dazu beigetragen, den Eindruck zu vermitteln, dass extreme Meinungen vorherrschen.
Die Forschenden beziehen sich in ihrer Arbeit oftmals auf X und Twitter. Das wirft die Frage auf, welche Rolle andere Plattformen spielen. Gegenüber netzpolitik.org erklärt Van Bavel, dass er auch Facebook, Bluesky, Reddit und ähnliche Plattformen für besonders relevant halte. Entsprechende Effekte habe er auch im Karriere-Netzwerk LinkedIn beobachtet, jedoch würden für konkrete Schlüsse Daten fehlen.
Wege aus der Zerrspiegel-Fabrik
Während das Paper mit der ernüchternden Diagnose endet, geht Van Bavel im Guardian auf Auswege ein:
Der erste Schritt besteht darin, die Illusion zu durchschauen und zu erkennen, dass sich hinter jedem provokanten Beitrag oft eine stille Mehrheit verbirgt. Und wir als Nutzende können ein Stück Kontrolle zurückgewinnen – indem wir unsere Feeds bewusst gestalten, nicht auf Empörungsfallen hereinfallen und uns weigern, Unsinn weiterzuverbreiten. Man kann es sich vorstellen wie die Entscheidung für eine gesündere, weniger verarbeitete Ernährung.
Die Zerrspiegel sind also kein Irrgarten, aus dem man nicht mehr herauskommt. Um zu prüfen, ob der Ausstieg klappt, hat Van Bavel eine Reihe von Experimenten gestartet. So hat er jüngst Proband*innen dafür bezahlt, besonders polarisierenden Accounts auf X zu entfolgen. Das Ergebnis: „Nach einem Monat berichteten Teilnehmer*innen, sie fühlen 23 Prozent weniger Feindseligkeit gegenüber anderen politischen Gruppen. Tatsächlich war ihre Erfahrung so positiv, dass fast die Hälfte aller Teilnehmer*innen abgelehnt haben, den polarisierenden Accounts erneut zu folgen“.
Plattformen könnten auch selbst aktiv werden, wie Van Bavel darlegt. „Sie könnten ihre Algorithmen problemlos so umgestalten, dass nicht länger die schrillsten Stimmen bevorzugt werden, sondern ausgewogenere und repräsentativere Inhalte. Genau das wünschen sich die meisten Menschen.“ – Mit Blick auf das Finanzierungsmodell der größten Social-Media-Plattformen dürfte es jedoch unwahrscheinlich sein, dass Konzerne das freiwillig tun.
Zumindest in der EU gibt es politische Werkzeuge, um den wirtschaftlichen Interessen der Konzerne etwas entgegenzusetzen. Das Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act) verpflichtet sehr große Plattformen dazu, systemische Risiken zu erkennen und Maßnahmen dagegen zu ergreifen. Ein solches Risiko sind laut Gesetz „Auswirkungen auf die gesellschaftliche Debatte“ – und eine mögliche Gegenmaßnahme ist die Anpassung der Empfehlungssysteme.