Künstliche Intelligenz
Streaming-Dienste: Suchen bis zur „Scroll Fatigue“
Ein „riesiges, unübersichtliches Warenhaus, in dem jeder etwas findet – den Ramsch zuerst, die Raritäten muss man suchen“ – so beschreibt Oliver Kaever im Spiegel den Streaming-Anbieter Netflix zum Start der letzten Staffel von „Stranger Things”. Angesprochen fühlen dürfen sich alle, die bei Netflix an der Entwicklung des Empfehlungssystems und damit daran arbeiten, dass Zuschauer die Empfehlungen bekommen, die sie möglichst lange beim Streamer halten.
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Das gelingt natürlich nicht, wenn die Plattform hauptsächlich Ramsch präsentiert, der den Geschmack der Zuschauer nicht trifft. Viele Streaming-Abonnenten kennen das Gefühl, irgendwie schon alles gesehen zu haben. Sie durchforsten die endlosen Empfehlungen und finden einfach nichts Passendes. Während man früher ziemlich schnell durch die TV-Programme zappte, mündet das Zapping 2.0 bei den Streamern häufig in Frustration: Statt zu streamen, wählt der Nutzer entnervt ein anderes Unterhaltungsangebot.
Ein Drittel bricht nach 5 Minuten ab
Laut einer Nielsen-Umfrage aus dem Juni 2023 braucht ein Streaming-Nutzer durchschnittlich 10,5 Minuten, bis er einen Film oder eine Serie gefunden hat, die er sich anschauen will. In zehn Minuten dürfte jeder TV-Zuschauer die Senderliste einmal bis zum Programmplatz 50 durchgezappt haben, wenn er so weit hinten in der Liste überhaupt noch für ihn interessante Programme findet.
Fast jedem dritten Streaming-Nutzer platzt hingegen schon nach wenigen Minuten der Kragen. Eine Studie der der Königlichen Technischen Hochschule (KTH) in Stockholm aus dem Jahr 2022 gibt an, dass 30 Prozent die Suche nach maximal fünf Minuten abbrechen, wenn sie bei einem Streaming-Anbieter nichts Passendes finden.
Das Kuriose: Die Suchzeit ist angestiegen. Laut Nielsen belief sie sich 2019 nur auf 7,5 Minuten. Und das, obwohl die Empfehlungssysteme mit der Zeit immer besser wurden, heißt: immer individueller auf die Sehgewohnheiten des Nutzers reagieren.
Cold Start und Filterblasen
Die Zeiten reiner regelbasierter Systeme, die etwa nur die Top Ten der meistgesehenen Filme oder neu hinzugefügte Serien anzeigen, ist längst vorbei. Solche Rankings spielen aber immer noch eine große Rolle – vor allem bei neuen Nutzern, die für den Anbieter ein unbeschriebenes Blatt sind.
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Dieser sogenannte Cold Start dauert heutzutage aber nicht mehr lang. „Innerhalb weniger Sekunden kann das System erkennen, ob etwa eine Frau oder ein Mann vor dem Fernseher sitzt“, sagt Marco Hellberg, Geschäftsführer von Canal+ Germany. Das System trackt dafür zum Beispiel die Zeit, die ein Nutzer auf einem Titelcover bleibt.
Der Cold Start ist für Streaming-Anbieter wie Canal+, der in Österreich und der Schweiz einen Abo-Dienst und in Deutschland für Netzbetreiber die IPTV-Plattform „The Entertainment Hub“ anbietet, nicht das größte Problem. „Über kurz oder lang schlägt der Algorithmus eines Empfehlungssystems einem Nutzer mehr oder weniger ähnliche Inhalte vor“, erklärt Hellberg. Bestehende Nutzungsmuster werden verstärkt, es kommt zur Filterblase. Damit steigt die Gefahr, dass der Nutzer das Abo kündigt.
Jeder Zehnte kündigt wegen Überforderung
„In der aktuellen Marktsituation ist das Halten der Kunden das Nonplusultra“, sagt Lisa Jäger von der Strategieberatung Simon-Kucher. Jäger ist Autorin der „Global Streaming Study 2025“. Der Studie zufolge sind immer noch Preis und Content die entscheidenden Kaufkriterien für ein Streaming-Abo. Ob der Streamer auch passende Empfehlungen gibt, spielt beim Abo-Abschluss eine untergeordnete Rolle.
„In der Nutzungssituation bekommen die Empfehlungen aber eine ganz neue Dimension“, sagt Jäger. Die KTH-Studie kommt zu dem Schluss, dass insgesamt 80 Prozent der gestreamten Stunden durch Empfehlungen beeinflusst werden. „Content ist zwar King, aber Content, der nicht gefunden wird, ist kein King“, bringt Jäger die Bedeutung effektiver Empfehlungssysteme auf den Punkt.
So schlagen schlechte Empfehlungen auch bei den Kündigungsgründen durch. In der Simon-Kucher-Studie erklärt ein Viertel derjenigen, die weniger Zeit aufs Streaming verwenden wollen, es fehle neuer, spannender Content. Von denen, die ihr Abo gekündigt haben, begründen 24 Prozent diesen Schritt damit, dass es nicht genug Inhalte gäbe. Aber jeder Zehnte, der sein Abo gekündigt hat, fühlt sich vom Content-Angebot überfordert.
„Wenn ich als Nutzer nicht wahrnehme, welche Leistung in einem Produkt steckt, weil die Empfehlungen schlecht sind, wird der Preis sehr schnell als zu hoch empfunden“, sagt Jäger und stützt sich dabei auf die Ergebnisse der eigenen Studie. Die Hauptgründe für Kündigungen sind Geld sparen (49 Prozent) und ein zu hoher Preis für die gebotene Leistung (28 Prozent).