Datenschutz & Sicherheit

Streik der TikTok-Moderator*innen: „Sie sind Vorkämpfer“


Anna* hat schlechte Laune. „Ich bin traurig und wütend, aber vor allem enttäuscht“, sagt sie. Anna soll gekündigt werden. Seit drei Jahren arbeitet die 34-Jährige für TikTok. Sie moderiert vom Standort Berlin aus Beiträge, die als anstößig markiert werden. Heute aber ist sie im Streik. Es ist bereits der zweite Warnstreiktag der Berliner TikTok-Beschäftigten, nach der Erstauflage am 23. Juli.

Etwa 50 Mitarbeitende haben sich zum Streik eingefunden. Sie tragen Warnwesten, Basecaps und Fahnen der Gewerkschaft ver.di. Auf ihren Bannern steht etwa: „TikTok, was ist dir Sicherheit wert?“ Die Mitarbeitenden rufen Slogans wie „We trained your machines. Pay us what we deserve.“ Übersetzt heißt das: „Wir haben eure Maschinen trainiert. Zahlt uns, was wir verdienen.“ Trillerpfeifen ertönen. Die Demonstrierenden wirken kämpferisch – und zornig.

TikTok will die Moderation von Beiträgen an Subunternehmen und eine KI auslagern. Diese KI wurde mithilfe von Entscheidungen trainiert, die die Mitarbeitenden trafen, die nun entlassen werden sollen.

TikTok geht gerichtlich gegen den Betriebsrat vor

Die geplanten Kündigungen betreffen laut ver.di rund 150 Beschäftigte der Abteilung „Trust and Safety“ (Vertrauen und Sicherheit), die bislang Inhalte in dem Netzwerk überprüfen, sowie 15 Beschäftigte aus dem Bereich TikTok-Live, die für den Kontakt mit Content-Produzent*innen zuständig sind. Derzeit arbeiten in Berlin etwa 400 Menschen für TikTok, das vom chinesischen Unternehmen ByteDance betrieben wird. Der Konzern hat auf eine netzpolitik.org-Anfrage nicht reagiert.

Für die Angestellten, die TikTok entlassen will, verlangt ver.di eine Abfindung von drei Jahresgehältern und eine Verlängerung der Kündigungsfrist um zwölf Monate. TikTok geht derweil gegen den Betriebsrat vor. Der Prozess beginnt heute vor dem Arbeitsgericht Berlin, dort findet auch der Protest statt. ver.di vermutet, dass das Verfahren dazu dient, die Kündigungen möglichst schnell vollziehen zu können. Verhandlungen mit dem Betriebsrat habe TikTok bislang verweigert, so ver.di.

Zudem habe die TikTok-Geschäftsführung angekündigt, die Teilnehmer*innen des ersten Warnstreiktages einzeln zu Gesprächen vorzuladen. Sie hätten gegen rechtliche Pflichten verstoßen, weil sie den Arbeitgeber nicht über ihre geplante Streikteilnahme informiert hätten. ver.di sieht darin einen Einschüchterungsversuch gegen die Streikenden.

Sexuelle Inhalte, Fake News, Blut und Gewalt

Anna sagt, sie sei stolz, dass sie mit ihrer Arbeit Menschen schütze. Dazu schaut und bewertet sie pro Schicht rund 700 Videos. Sie sieht sexuelle Inhalte, Fake-News, Blut und Gewalt. Potenziell traumatisierendes Material. „Es gibt Clips, die ich nicht vergessen kann“, sagt Anna. Sie sei abgestumpft, könne sich zudem kaum mehr länger als 30 Sekunden konzentrieren, weil sich ihr Gehirn an die kurzen Videos gewöhnt habe. Content-Moderation ist ein Job, der tiefe Spuren hinterlässt.

Anna moderiert Videos, die polnische User*innen erstellt haben. Neben dem polnischen betreut das Berliner Team auch den deutschen und den niederländischen Markt.

„TikTok geht es ums Geld“, sagt Oliver Marsh von AlgorithmWatch. „Aber es kann auch ein Experiment sein. Im Fall des Erfolgs könnte auch in anderen Ländern und Bereichen Jobs an Software übergeben werden.“

“KI macht Fehler“

Es ist ein weltweiter Trend: Unter anderem weil menschliche Arbeitskräfte teuer sind, krank werden – und sogar streiken können –, wird für immer mehr Aufgaben KI eingesetzt. So würden sich Unternehmen als „modern“ gerieren, sagt Oliver Marsh. Doch das bringt Probleme mit sich. „KI macht Fehler“, sagt Marsh. Mal könne zu viel Content entsorgt werden – ein anderes Mal nicht genug. „KI kann Graubereiche und schwierige Problemfälle nicht lösen. Da braucht es Menschen, um den Kontext einzuordnen“, sagt er.

Marsh nennt eine Reihe von Feldern, auf denen KI immer wieder Fehlentscheidungen trifft. LGBTQIA*-Inhalte beispielsweise würde oft als „Hassrede“ fehlgedeutet, Nackheit im künstlerischen Kontext schnell als sexueller Content abgestempelt. Zudem würden Beiträge mit dem arabischen Wort Shaheed regelmäßig als terrorismusverherrlichender Content entfernt. Shaheed bedeutet Märtyrer, das Wort wird auch in harmlosen Zusammenhängen verwendet.


2025-07-14
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– für digitale Freiheitsrechte!



Euro für digitale Freiheitsrechte!

 

Die Berliner TikTok-Beschäftigten kämpfen schon länger gegen ihre miesen Arbeitsbedingungen. 2022 haben sie einen Betriebsrat gegründet. Inzwischen sind etwa 70 Prozent der Mitarbeitenden gewerkschaftlich organisiert. „Wir haben ihnen gezeigt, dass sie Rechte haben und die auch in Anspruch nehmen können“, sagt ein Mitglied des Betriebsrats, das anonym bleiben will. So habe man beispielsweise verhindert, dass der Konzern trackt, wer wann wie lange an seinem Arbeitsplatz sitzt.

Eine weltweite Bewegung

Die Berliner TikTok-Angestellten sind Teil einer weltweiten Bewegung. In Nairobi wurde 2023 eine eigene Gewerkschaft für Content-Moderator*innen gegründet, die African Content Moderators Union. Viele Moderationsjobs wurden auf den Kontinent ausgelagert und werden dort von Subunternehmern vergeben. Die Arbeitnehmer*innen möchten mit der Gewerkschaft die brutalen Arbeitsbedingungen etwas entschärfen.

Doch obwohl sich auch andernorts Mitarbeitende von Social-Media-Plattformen organisieren, ist der Berliner Streik wohl der erste seiner Art. Weder Oliver Marsh noch Kathlen Eggerling, die für die Gewerkschaft ver.di die TikTok-Mitarbeiter*innen betreut, wissen von ähnlichen Arbeitsniederlegungen von Social-Media-Mitarbeiter*innen anderswo in der Welt. „Die TikToker trauen sich ihre Rechte wahrzunehmen, das ist etwas Großes“, sagt Eggerling. „Sie haben keine Vorkämpfer in ihrer Branche. Sie sind selber welche.“

Für Social-Media-Plattformen steht bislang der Gewinn über den Interessen der Mitarbeitenden, sagt Eggerling. Betriebsratsgründungen würden, wenn sie mal angestrebt würden, häufig auf großen Widerstand stoßen. Auch bei der Gründung des Berliner TikTok-Betriebsrates gab es starken Gegenwind aus der Chefetage.

Doch inzwischen haben sich die TikTok-Mitarbeiter*innen an ihre Rechte gewöhnt. Mit ihrem Warnstreik treten sie selbstbewusst auf. „Die TikToker sind richtige Gewerkschafter geworden“, sagt Eggerling. „Sie haben ein gutes Gespür für Gerechtigkeit.“

*Name auf Wunsch der Betroffenen geändert.



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