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Verfassungsschutzbericht: Alte Facebook-Linke statt junger TikTok-Nazis
Der Verfassungsschutzbericht bleibt in der Analyse rechtsextremer Strukturen und Strategien im Netz erstaunlich blass. Die Webauftritte der radikalen Linken werden hingegen umfassend rezensiert.
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hat getrickst: Bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts für 2024 zeigte er zwei ausgedruckte Infografiken zur Personalstärke der links- und rechtsextremen Bewegungen. Die Balken bei den Linksextremist*innen sind deutlich höher. Doch schaut man genauer hin, wird klar: Da hat jemand an der Skala herumgeschraubt. Denn während die linksextreme Szene laut Verfassungsschutz im vergangenen Jahr 38.000 Personen stark war, wurden bei den Rechtsradikalen 50.250 Anhänger*innen gezählt.
Dazu hatten die Nazis deutlich stärkere Wachstumsraten bei Mitgliedern und Straftaten. Die Zahl der Rechtsextremisten ist laut Verfassungsschutz von 2023 auf 2024 um rund 25 Prozent gestiegen. Etwa jede dritte dieser Personen sei „gewaltorientiert“. Entsprechend stieg die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten um 11,6 Prozent auf 1.281 Fälle.
Die Zahl der Linksextremisten erhöhte sich hingegen nur um rund drei Prozent. Die Zahl der Gewalttaten mit linksextremistischem Hintergrund sank sogar um 26,8 Prozent auf 532 Fälle. Die Rechtsextremist*innen begingen im Jahr 2024 mehr als viermal so viele politisch motivierte Straftaten wie ihre linksradikalen Gegenüber: 42.788 zu 9.971. Ein Viertel der linksextremistischen Straftaten richtete sich gegen die AfD.
Die Bedrohung durch die rechte Szene macht der Verfassungsschutz auch an deren Störaktionen zu CSDs und Pride-Paraden fest. Während Menschen aus der LSBTIQ*-Community vermehrt online angegangen würden, steige auch die „realweltliche“ Bedrohung. Diese gewaltorientierte Fokussierung sei „in ihrer Intensität eine besorgniserregende Entwicklung“, so der Bericht.
Die größte Bedrohung
Eigentlich sollte klar sein, von wem angesichts des gesellschaftlichen Rechtsrucks derzeit die größere Gefahr für die Demokratie ausgeht. Doch einen entsprechenden Satz seiner Vorgängerin hat Dobrindt aus dem Vorwort gestrichen. Nancy Faeser (SPD) konstatierte dort vor einem Jahr noch, dass die größte Bedrohung für die Demokratie der Rechtsextremismus sei. In Dobrindts Text sucht man diese wichtige Einschätzung vergebens.
Wenn es später im Bericht darum geht, wie verschiedene Extremist*innen das Internet nutzen, gibt es hingegen einen starken und detaillierten Fokus auf Linksradikale. Deren Internetnutzung ist den Verfassungsschützer*innen sogar ein eigenes Kapitel wert, mit expliziter Nennung verschiedener Seiten, Blogs und Podcasts, etwa indymedia.org oder „Ende Gelände – Der Podcast“.
Neben selbst betriebenen und von „Technikkollektiven“ unterstützten Internetplattformen misst der Verfassungsschutz weit verbreiteten Sozialen Medien eine große Bedeutung zu. Demnach stellt Instagram „aktuell das weitaus wichtigste soziale Netzwerk für die linksextremistische Szene dar“, heißt es im Bericht. Über kurze Filmsequenzen, sogenannte „Stories“, würden kurzfristige Mobilisierungsaufrufe verbreitet, die zudem nach 24 Stunden verschwinden würden. Linksradikale nutzten das Netz laut Verfassungsschutz auch zum Outing von politischen Gegnern.
Linksradikale auf X
Offenkundig genau beobachtet hat der Verfassungsschutz das Wechselverhalten der Linksextremen nach der Twitter-Übernahme durch den rechtsextremen US-Milliardär Elon Musk. „Nach zwischenzeitlichen Abwanderungstendenzen zu anderen Netzwerken wie Bluesky oder Mastodon, die sich nicht durchsetzen konnten, ist mittlerweile eine Rückkehr zu X zu beobachten“, bewertet der Verfassungsschutz die aktuelle Lage. Facebook hingegen sei noch nicht ganz verschwunden, würde aber „vorwiegend von lebensälteren Linksextremisten“ genutzt.
Geht es um Rechte im Netz, wird eher generell auf die Nutzung verschiedener Plattformen verwiesen. Auf einer dürren Seite wird das Thema behandelt. Bei der Radikalisierung der Rechtsextremen „spielt nicht nur der Konsum von Propaganda – auch auf Mainstream-Plattformen wie Instagram und TikTok – eine Rolle, sondern vor allem eine weitverzweigte, oft internationale Vernetzung mit Gleichgesinnten in Onlinemessengern, -kanälen und -foren wie Telegram oder Discord“, heißt es allgemeinplatzig. „Einschlägige Chatgruppen dienten dabei als „Katalysatoren“, in denen extreme Gewaltfantasien bis hin zu Mordaufrufen geteilt werden“, schreibt der Verfassungsschutz.
Eine sogenannte „Attentäter-Fanszene“, die sich oftmals in Foren vernetze, wird zwar im Zusammenhang mit rechtsextremistischen Terroristen wie jenem von Christchurch in Neuseeland genannt. Dennoch seien die ideologischen Anknüpfungspunkte zum Rechtsextremismus in dieser Szene „oft marginal“, urteilen die Verfassungschützer*innen. Vielmehr stünden „meist gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und brutale Gewaltfantasien“ im Zentrum der Motivation. Die für reaktionäre Ideologien zentrale Frauenfeindlichkeit wird mit einem kurzen Verweis auf die „Incel-Bewegung“ abgespeist, außerdem könnten „Elemente des Satanismus eine Rolle“ spielen. Die rechtsextreme Verschwörungsideologie QAnon ist dem Verfassungsschutz im wahrsten Sinne des Wortes lediglich eine Fußnote im Zusammenhang mit Reichsbürgern wert.
Kein Wort von rechten Influencern
Vergeblich sucht man im Verfassungsschutzbericht detailliertere Informationen zu rechten Strategien im Netz, wie sie von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Cemas ausführlich beschrieben und untersucht wurden. Kaum ein Wort zu rechten Influencern und alternativen Medienstrategien, zu Fake-Accounts auf TikTok, zur Stärke der AfD auf dieser chinesischen Plattform oder rechtsradikalen Strategien in sozialen Medien. Hinweise auf rechte Podcasts und Youtuber, die junge Menschen radikalisieren können, finden sich bestenfalls in Zitatform, etwa mit Verweisen auf den YouTube-Kanal „Junge Freiheit“ oder „AfD TV“.
Auch der Islamische Staat (IS) nutzt laut Verfassungsschutz das Netz für seine Propaganda. Neben speziell ausgebildeten Tätern, die als Gruppe agieren, setze der IS „auf Einzeltäter, die im Internet kontaktiert und rekrutiert werden oder auch nur seine Propaganda konsumieren und die mit überall und leicht verfügbaren Mitteln (Messer, Fahrzeug) ‚einfache‘ Anschläge verüben“.
Eine reale Anbindung an die salafistische Szene sei nur noch selten festzustellen. „Die Radikalisierung zum Jihadismus erfolgt demnach ganz überwiegend eigeninitiativ im Internet“, schreibt der Verfassungsschutz. Neben Telegram und Instagram sei TikTok auch 2024 eine der wichtigsten jugendaffinen Plattformen gewesen, auf der deutschsprachige jihadistische Propaganda verbreitet wurde.
Jihadisten treffen sich bei Discord
„Zunehmend war zu beobachten, dass jihadistische Inhalte auch im Kontext von gewaltverherrlichenden Onlinespielen und auf dem serverbasierten Onlinedienst Discord verbreitet wurden.“ Plattformen wie YouTube, Facebook oder Twitter, die früher stark genutzt wurden, würden im deutschsprachigen Bereich hingegen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen.
Plattformbetreiber würden inzwischen die eigenen Richtlinien strikter durchsetzen und jihadistische Propaganda häufiger löschen. „Die Verunsicherung der Nutzerinnen und Nutzer, die aus der konsequenteren Löschung und Sperrung von Kanälen und Profilen mit jihadistischen Inhalten resultiert, sowie die strikte Verfolgung strafrechtlich relevanter Internetpropaganda führen zu einer sowohl inhaltlichen als auch quantitativen Zurückhaltung beim Veröffentlichen von Beiträgen“, schreibt der Verfassungsschutz.
Der Verfassungsschutzbericht beschäftigt sich zudem mit möglichen Einflüssen fremder Nationen. „Unser Land ist zunehmend Spionage und Sabotage sowie Cyberangriffen und Desinformation ausgesetzt“, schreibt Dobrindt im Vorwort. So würde beispielsweise Russland erheblich investieren, um die öffentliche Meinung und den politischen Diskurs beeinflussen zu können.
Doppelgänger
„Vor allem Kanäle in sozialen Medien werden von staatlichen oder staatsnahen Akteuren genutzt, um dort ihre Inhalte und Narrative möglichst weit zu verbreiten. Hier ist insbesondere die Plattform Telegram als Alternative zu anderen sozialen Netzwerken zu nennen“, heißt es.
Zudem verbreite ein Netzwerk russischen Ursprungs seit mindestens Anfang 2022 Propaganda und Desinformation durch die Nachahmung von Internetauftritten etablierter Medien sowie die Erstellung scheinbar eigenständiger Onlinemedien. Und mutmaßlich russische Cybercrime-Akteure nutzten für ihre kriminellen Handlungen vor allem Ransomware-Angriffe gegen deutsche Stellen und Unternehmen. Zudem setzten vor allem China, Iran und die Türkei geheimdienstliche Instrumente in Deutschland ein, so der Verfassungsschutz.
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