Datenschutz & Sicherheit
Weniger Berichtspflichten beim Abhören und bei Staatstrojanern
Das Bundesjustizministerium bekam mit der schwarz-schwarz-roten Koalition eine neue Chefin: Stefanie Hubig von der SPD. Kaum im Amt, treten ihre Länderkollegen mit einem Anliegen an sie heran: Die Justizministerinnen und Justizminister würden gern die gesetzlichen Berichtspflichten bei der Telekommunikationsüberwachung reduzieren. Hubig möge das prüfen.
Das Bundesland Hessen legt der Justizministerkonferenz (JuMiKo) dazu eine Empfehlung vor. Laut dieser soll die Strafprozessordnung (StPO) geändert werden, in der die statistischen Berichtspflichten zur Telekommunikationsüberwachung stehen. Momentan sieht das Gesetz vor, dass Länder und der Generalbundesanwalt dem Bundesamt für Justiz jährlich mitteilen, wie oft sie bestimmte Überwachungsmaßnahmen anordnen. Wir veröffentlichen den Beschlussvorschlag Hessens.
Bundesjustizamt erfasst einmal im Jahr statistische Daten
Jeweils im Frühjahr und im Herbst kommen die Ministerinnen und Minister und Senatorinnen und Senatoren der Justizressorts zu ihrer Tagung zusammen und begrüßen dabei erstmals die neue Bundesministerin der Justiz. Die Behördenchefs der Länder beraten sich diesmal vom 4. bis 6. Juni in Bad Schandau.
Beschlüsse der JuMiKo sind Ideen oder Forderungen, die aber keine unmittelbaren Folgen haben und schon gar keine praktische Rechtssetzung sind. Wirkungslos sind sie deswegen aber nicht, denn sie können kontroverse Ideen breittreten, Diskussionen anstoßen und die rechtspolitische Meinungsbildung beeinflussen.
Ein Beschlussvorschlag Hessens will die Berichtspflichten bei der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) reduzieren. Diese Überwachungsmaßnahmen dürfen beim Verdacht einer schweren Straftat angeordnet werden, in der Regel durch ein Gericht. Eine TKÜ ist dabei auf maximal drei Monate zu befristen, kann aber jeweils um drei Monate verlängert werden.
Die Landesjustizverwaltungen und auch der Generalbundesanwalt sind gesetzlich verpflichtet, Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen statistisch anzugeben, die im Rahmen der Strafverfolgung nach StPO (vor allem nach § 100a) angeordnet werden. Einmal im Jahr, nämlich bis zum 30. Juni, berichten sie dazu dem Bundesamt für Justiz. Das wiederum erstellt mit erheblicher zeitlicher Verzögerung Jahresübersichten, die zeigen, wie viele Überwachungen pro Jahr für welche der sogenannten Katalogstraftaten angeordnet wurden. Wie viele Überwachungsansinnen abgelehnt werden, wird nicht erfasst.
Wegen der Umbenennung von einer Variante des Staatstrojaners in „Quellen-TKÜ“ könnte von einer Reduzierung der Berichtspflichten auch das staatliche Hacken betroffen sein. Denn wird mit Hilfe eines Staatstrojaners laufende Kommunikation abgehört, fällt er formal unter TKÜ, obwohl technisch ein ganz anderes Vorgehen stattfindet.
Eine TKÜ wird im Regelfall mit Hilfe der Telekommunikationsanbieter vollzogen. Sie sind gesetzlich verpflichtet, bei der Strafverfolgung auszuhelfen und nach Anordnung die Kommunikation an die Ermittlungsbehörden auszuleiten. Bei der „Quellen-TKÜ“ hingegen wird das Smartphone oder der Rechner gehackt und heimlich eine Schadsoftware installiert, um an die Kommunikation zu gelangen. Staatstrojaner manipulieren also hinterrücks das Gerät, um an Inhalte von Kommunikation wie etwa Chat-Nachrichten zu kommen.
Staatshacker
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Laut dem Beschlussvorschlag zu der anstehenden Frühjahrs-JuMiKo wird die Aussagekraft der zur TKÜ erhobenen statistischen Daten von den Justizministerinnen und Justizministern als nur „gering“ eingeschätzt. Dem stünden aber „erhebliche personelle Ressourcen in den Justizverwaltungen“ gegenüber.
Den Nutzen der Statistik verorten die Minister „etwa bei der rechtspolitischen Steuerung oder Evaluation der Eingriffspraxis“. Dass Transparenz bei Überwachungsmaßnahmen auch eine vertrauensbildende Seite haben kann, scheint offenbar weniger wichtig. Gerade bei Maßnahmen, die wie die „Quellen-TKÜ“ große immanente Risiken ins sich tragen, ist die statistische Transparenz nicht nur für die Evaluation notwendig, sondern kann auch Vertrauen bilden. Ob TKÜ-Maßnahmen umfassend oder zurückhaltend eingesetzt werden, ob sich die Zahl der Maßnahmen alljährlich erhöht oder nicht, ist auch für die Forschung bedeutsam. Und nicht zuletzt ermöglichen die Statistiken eine Berichterstattung, so auch bei netzpolitik.org.
Eine Enthaltung aus Hamburg
Die hessische Vorlage fand im Strafrechtsausschuss der JuMiKo viel Zustimmung, allerdings mit einer Enthaltung: Hamburg votierte nicht dafür. Wir haben bei der Justizsenatorin der Hansestadt nachgefragt, was die Gründe dafür sind, dass sich Hamburg als einziges Bundesland bei der Abstimmung enthalten hat. Ein Pressesprecher antwortet darauf nicht inhaltlich, bittet gegenüber netzpolitik.org nur um „Verständnis“ dafür, dass „die inhaltliche Beratung der einzelnen Beschlussvorschläge“ auf der JuMiKo stattfände. Das sei „gute Praxis“, von der man nicht abweichen wolle.
Auch Fragen von netzpolitik.org danach, welchen Aufwand beispielsweise Hamburg betreibt, um die Daten für die statistischen Berichtspflichten zu erheben, bleiben unbeantwortet. Man wolle sich „nicht im Vorfeld der Konferenz detailliert zu den Initiativen anderer Länder oder zu vertraulichen Ausschussberatungen der Fachebene und deren Votierungen äußern“.
Wenn es zu der Reduzierung der statistischen TKÜ-Berichtspflichten kommt, wird auch die ungeliebte Überwachungsgesamtrechnung löchriger. Und es fehlt natürlich auch in der hessischen Beschlussvorlage nicht der Hinweis auf die Entlastung von „unnötiger Bürokratie“. Als seien die statistischen Angaben zur Telekommunikationsüberwachung nur unnötiger Ballast.
Doch Bürokratieabbau ist gerade das Steckenpferd der Konservativen, an allen Ecken und Enden gefordert. Ob Justizministerin Hubig in den Chor einstimmt, bleibt abzuwarten. Dass dieser Bürokratieabbau gar nicht so selten Transparenzabbau und fehlendes Wissen über staatliche Maßnahmen zur Folge hat, sollte der Juristin jedenfalls zu denken geben.
- Beschlussvorschlag
- TOP: I. 4
- Berichterstattung: Hessen
Kritische Überprüfung der statistischen Berichtspflichten zur Telekommunikationsüberwachung in der StPO
Die Justizministerinnen und Justizminister haben sich mit den statistischen Berichtspflichten zur Telekommunikationsüberwachung befasst.
Sie stellen fest, dass diese Berichtspflichten erhebliche personelle Ressourcen in den Justizverwaltungen und in den ohnehin schon hochbelasteten Staatsanwaltschaften binden, ohne dass diesem Aufwand aufgrund der geringen Aussagekraft der erhobenen Daten stets ein entsprechender Nutzen, etwa bei der rechtspolitischen Steuerung oder Evaluation der Eingriffspraxis, gegenübersteht.
Vor dem Hintergrund des dringlichen Anliegens, die Justiz im Allgemeinen und die Staatsanwaltschaften im Besonderen von unnötiger Bürokratie zu entlasten, bitten die Justizministerinnen und Justizminister daher den Bundesminister der Justiz, unter Einbeziehung der Länder die Möglichkeit einer Reduzierung der statistischen Berichtspflichten zur Telekommunikationsüberwachung zu prüfen und auf der Frühjahrskonferenz der Justizministerinnen und Justizminister 2026 über das Ergebnis der Prüfung zu berichten.
Abstimmungsergebnis des Strafrechtsausschusses:
- Ja: 15
- Nein: 0
- Enthaltung: 1
Datenschutz & Sicherheit
Damit müssen Menschen auf der Pride in Budapest rechnen
Dieser Plan könnte gründlich schiefgegangen sein. Mitte März beschloss das ungarische Parlament ein queerfeindliches Gesetz, das Veranstaltungen faktisch verbietet, die ein Leben jenseits von Heterosexualität und Cisgeschlechtlichkeit zeigen. Seitdem wächst die Solidarität mit der queeren Community. 15 EU-Staaten haben die EU-Kommission zu einem „schnellen Handeln“ aufgefordert. Aus ganz Europa werden Teilnehmer*innen für die Pride-Parade in Budapest erwartet – die trotz aller Hindernisse Ende Juni stattfinden soll.
„Das wird mit Sicherheit die bisher größte Pride-Parade in Ungarn werden“, sagte Viktória Radványi, Vorsitzende von Pride Budapest, bei der Eröffnung der Feierlichkeiten am vergangenen Wochenende.
Die Regierung rechtfertigt das Verbot mit der Behauptung, solche Veranstaltungen könnten die „körperliche, geistige und moralische Entwicklung“ von Kindern gefährden. Es ist das beliebte Muster autoritärer Regime: eine bedrohte, queere Minderheit wird zur angeblichen Gefahr erklärt; Homo- und Transfeindlichkeit werden zur Waffe gegen Demokratie und Menschenrechte.
Nach diesem Drehbuch entstand bereits das ungarische Kinderschutzgesetz von 2021, das Minderjährigen jede Information über Homosexualität oder Transgeschlechtlichkeit vorenthält. Werbung, Bücher, Filme zu diesen Themen sind seither für unter 18-Jährige tabu. Seit März gilt das Verbot nun auch für öffentliche Veranstaltungen wie die Pride, die diese Vielfalt feiern.
Demonstrieren als Ordnungswidrigkeit
Nicht nur die Veranstalter*innen, auch Teilnehmer*innen der Demonstration können auf dieser Grundlage bestraft werden. Das Verbot sieht vor, dass die Polizei sie per Gesichtserkennung identifizieren und mit Bußgeldern bis zu 500 Euro belegen darf.
Es steht viel auf dem Spiel im EU-Land Ungarn. Es geht um Menschenrechte aus der EU-Grundrechtecharta: Nichtdiskriminierung, Versammlungsfreiheit, freie Meinungsäußerung. Das wirft die Frage auf, wer es noch wagt, friedlich zu protestieren, wenn dafür biometrische Identifikation und Geldstrafe droht.
Was erwartet also die Teilnehmer*innen, die sich für die Pride angekündigt haben? Welche Rechte und Pflichten haben sie auf der Demonstration? Und was ist das für ein System zur Gesichtserkennung, mit dem Orbáns Regierung zu abschrecken will? Wir haben die wichtigsten Informationen zusammengetragen.
1. Wird die Pride überhaupt in Budapest stattfinden können?
Noch kämpfen die Veranstalter*innen darum, wie in vergangenen Jahren durch die Budapester Innenstadt ziehen zu dürfen, und zwar entlang der Prachtstraße Andrássy ut. Die Polizei hat die Route nicht genehmigt, mit der Begründung, es könne auf der Demonstration zu verbotenen Handlungen kommen. Demnach sei es nicht auszuschließen, dass auch Minderjährige teilnehmen; außerdem drohten auch „passive Opfer“ unter den Zuschauer*innen, so die Begründung. Stattdessen soll die Demonstration auf einer abgelegenen Pferderennbahn am Stadtrand stattfinden. Das wollen Veranstalter*innen nicht hinnehmen.
Am Montag schaltete sich dann Budapests liberaler Bürgermeister ein: Die Stadt werde die Pride als kommunales Fest für Liebe und Freiheit ausrichten, gemeinsam mit den Veranstalter*innen. Dafür brauche es keine Genehmigung der Polizei.
2. Warum darf die ungarische Polizei Gesichtserkennung bei der Pride einsetzen?
Bis vor Kurzem durfte die ungarische Polizei Gesichtserkennung nur bei Straftaten oder Delikten nutzen, die mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden können. Mit der im März verabschiedeten Gesetzesänderung gilt das nicht mehr. Nun darf die Polizei die Technologie bei allen Arten von Gesetzesverstößen anwenden. Das heißt, sie kann jetzt auch Personen damit identifizieren, die eine geringfügige Ordnungswidrigkeiten begehen – etwa bei Rot über die Straße gehen oder bei der verbotenen Pride-Parade mitlaufen.
3. Wie funktioniert die biometrische Gesichtserkennung in Ungarn?
Ermittlungsbehörden arbeiten für die Identifikation unbekannter Personen mit dem Ungarischen Institut für Forensische Wissenschaften zusammen, eine dem Innenministerium unterstellte Behörde. Das Institut betreibt eine Datenbank zur biometrischen Gesichtserkennung, in die Bilder aus verschiedenen staatlichen Quellen fließen.
Gespeichert werden nicht die Bilder selbst, sondern ihre biometrische Entsprechung. Dazu erfasst das Institut die einzigartigen Merkmale der Gesichter, etwa die Abstände von Augen, Nase und Kinn. Das Ergebnis wird in Form einer mathematischen Repräsentation gespeichert.
Bekommt das Institut über eine Schnittstelle von der Polizei ein Bild zur Identifizierung übermittelt, kommt es zu einem automatisierten Abgleich mit der Datenbank. Die Polizei bekommt daraufhin die Treffer mit der höchsten Übereinstimmung angezeigt.
4. Wer ist in Ungarns Gesichter-Datenbank gespeichert?
Gesichter-Suchmaschinen für die Strafverfolgung wie Clearview AI durchsuchen des gesamte öffentliche Internet und speichern die biometrischen Profile der dort gefundenen Gesichter.
Im Gegensatz dazu hat das Forensische Institut in seiner Datenbank nur biometrische Daten aus staatlichen ungarischen Quellen: Personalausweise oder Führerscheine, Aufnahmen aus dem Melderegister und Bilder aus Polizeidatenbanken, die bei der Strafverfolgung, Einreise oder Flucht erstellt wurden.
Gesichtserkennung in Ungarn verstößt gegen EU-Gesetze
5. Womit müssen Pride-Protestierende aus dem Ausland rechnen?
Bürger*innen anderer Staaten tauchen in der Datenbank der ungarischen Behörden nicht auf, solange sie keine Aufenthaltsgenehmigung oder andere ungarische Dokumente besitzen. Das erklärt die NGO Hungarian Helsinki Committee, sie sich mit Fragen der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn befasst. Laut ihrer Aussage kann die Polizei diese Personen daher nicht per Gesichtserkennung identifizieren.
Demonstrant*innen können jedoch sofort vor Ort mit einer Geldstrafe belegt werden. Das Hungarian Helsinki Committee weist darauf hin, dass Teilnehmer*innen das Recht haben, die sofortige Geldstrafe abzulehnen und nichts unterschreiben müssen. In diesem Fall leitet die Polizei ein Ordnungswidrigkeitsverfahren ein und die Betroffenen werden per Post über die Geldstrafe informiert. Sie können dann darauf bestehen, von der Polizei angehört zu werden und Widerspruch vor Gericht einlegen. Das Gericht kann die Rechtmäßigkeit der Strafe überprüfen, diese aufheben oder reduzieren.
6. Wie schnell kann die ungarische Polizei Protestierende identifizieren?
Schneller als etwa einen Bankräuber oder Steuerflüchtigen. Im Fall einer Straftat ist vorgesehen, dass zwei Fachleute des Forensischen Institutes die Ergebnisse des automatisierten Abgleichs unabhängig voneinander bestätigen müssen – erst damit gilt das Ergebnis als Treffer. Geht es dagegen nur um ein geringfügiges Vergehen wie die Teilnahme an der Pride, entfällt diese Kontrolle.
Die Polizei hat nun eine direkte Schnittstelle zur Datenbank und kann darüber einen automatisierten Abgleich beantragen. Die Hungarian Civil Liberties Union (HCLU), die sich für den Schutz von Grundrechten in Ungarn einsetzt, spricht von einer Identifikation in „Echtzeit oder annähernder Echtzeit“.
Wie schnell der Prozess genau abläuft, weiß allerdings auch die HCLU nicht. Das Forensische Institut hat auf ihre Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz nur ausweichend geantwortet: Der automatisierte Abgleich falle nicht in den Zuständigkeitsbereich des Institutes, heißt es dazu.
Laut der neuen KI-Verordnung der EU wäre eine Identifikation in Echtzeit nur bei Verdacht auf eine Straftat erlaubt; in keinem Fall dürfte Ungarn sie für die Ermittlung der Identität bei einer Ordnungswidrigkeit einsetzen.
7. Wäre die Gesichtserkennung nicht von den Menschenmassen überfordert?
Wahrscheinlich ja. „Das System ist nicht für die Massenüberwachung von Zehntausenden von Menschen konzipiert“, sagt der Jurist Ádám Remport, der sich für die HCLU mit dem Fall beschäftigt.
Das liegt an den Verfahren: Um eine Person identifizieren zu lassen, muss die Polizei händisch einen Fall im System anlegen. Bei mehreren Zehntausend Teilnehmenden würde das sehr viel Zeit erfordern. Zwar könnten auch mehrere Personen im System zu einem Fall zusammengezogen werden, rechtlich wäre das kein Problem. Aber ob das auch in einer Größenordnung von mehreren Zehntausend Personen funktioniert, da ist sich auch Ádám Remport nicht sicher. Bisher sei so ein Fall nicht vorgekommen.
Sollte die Polizei die zu identifizierenden Personen hingegen einzeln im System bearbeiten müssen, würde das sehr lange dauern, sagt Remport. Und: „Wenn die Behörden versuchen würden, alle Teilnehmer einer so großen Demonstration zu identifizieren, könnte das möglicherweise die Gesichtserkennungssysteme Ungarns überlasten.“

Der Jurist sieht noch ein weiteres Nadelöhr im System: Verdächtige hätten das Recht auf eine polizeiliche Anhörung, wenn sie wegen einer Ordnungswidrigkeit mit einer Geldstrafe belegt werden. Wenn die Polizei das Verfahren nicht einstellt oder die Geldstrafe nicht herabsetzt, können sie sich an ein Gericht wenden. „Bei einem massiven Einsatz der Gesichtserkennung könnte die schiere Menge der Verfahren die Polizei und die Justiz überfordern.“
Eine Entwarnung ist das jedoch nicht: Teilnehmer*innen müssten auch Wochen später noch damit rechnen, verfolgt zu werden. Aktuell dürfen Aufnahmen aus Überwachungskameras in Ungarn 30 Tage lang gespeichert werden.
8. Wie gefährlich sind falsche Treffer bei der Gesichtserkennung?
Mit dem Wegfall der menschlichen Kontrollen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass falsche Treffer bei der Polizei landen, warnt Ádám Remport. Das heißt, die Polizei verdächtigt Personen, die nicht in der Aufnahme zu sehen waren. „Rechtlich gibt es so gut wie keine Sicherheitsvorkehrungen“, so Remport. Einzelne Beamt*innen werden dann entscheiden müssen, ob ein Treffer tatsächlich die gesuchte Person zeigt.
„Bei Tausenden solcher Anfragen, wird der Druck groß sein, so schnell wie möglich zu arbeiten“, erklärt Remport. Auch würden viele ausländische Teilnehmende auf der Demonstration sein, die nicht in der ungarischen Datenbank erfasst sind. Das System könne für sie aber womöglich ähnliche Gesichter in der Datenbank finden. So könne es zu vielen falschen Entscheidungen kommen.
Hier werden Protestierende mit Gesichtserkennung verfolgt
9. Welche Software nutzt Ungarn zur Gesichtserkennung?
Bislang ist nicht bekannt, welche Software das Forensische Institut und damit die Polizei für die Gesichtserkennung einsetzt. Auf eine Frage des HCLU nach Marke und Typ antwortete das Institut, es nutze die verwendete Software nur als Klient und machte darüber hinaus keine Angaben.
Mehrere Tech-Konzerne und Unternehmen bieten Gesichtserkennungssoftware als Dienstleistung für Strafverfolgungsbehörden an, darunter US-Konzerne wie Microsoft und Amazon, aber auch chinesische Unternehmen für Überwachungstechnologien wie Dahua.
10. Wo wird der öffentliche Raum in Budapest bereits per Kamera überwacht?
Für die Identifikation von Teilnehmer*innen kann die Polizei auf Bilder aus Tausenden Überwachungskameras zurückgreifen. Laut einer Datenvisualisierung des Investigativmediums Atlo waren bereits 2019 mindestens 2.500 Kameras im Budapester Stadtgebiet installiert, betrieben von der Polizei, den Verkehrsbetrieben und den einzelnen Bezirken. Die höchste Überwachungsdichte haben dabei die Bezirke der Innenstadt – und damit auch die von den Veranstalter*innen gewünschte Route der Pride, die entlang der Prachtstraße Andrássy út führen soll.
Zusätzlich zu den fest installierten Kameras kann die Polizei außerdem mobile Kameras einsetzen, um die Demonstration zu filmen – und tut das auch regelmäßig, schreibt etwa das Hungarian Helsinki Committee.
11. Wie können sich Pride-Protestierende vor Gesichtserkennung schützen?
Das ist schwer zu sagen, weil nicht bekannt ist, welches System die ungarische Polizei zur Erkennung einsetzt. Leitfäden der Polizei zur Beschaffenheit der einzureichenden Bilder deuten aber darauf hin, dass maskierte Gesichter vom System nicht oder schlechter erkannt werden.
Das Hungarian Helsinki Committee rät allerdings davon ab, eine Maske zu tragen, sei es auch nicht eine medizinische. Denn auch in Ungarn gilt ein Vermummungsverbot auf Demonstrationen: Wer eine Maske trägt, begeht damit eine Straftat – während der Besuch der Pride nur eine Ordnungswidrigkeit wäre. Auch könnte die Maskierung eher dazu führen, dass man von der Polizei aufgefordert wird, sich auszuweisen. Und ja: Demonstrant*innen müssen einen Ausweis bei sich tragen und auf Aufforderung vorzeigen können.
12. Müssen Protestierende in Budapest mit Festnahmen oder Polizeigewalt rechnen?
Wer sich in Ungarn auf Aufforderung der Polizei nicht ausweist und sich anderen Anweisungen widersetzt, kann auch mit auf die Wache genommen und dort bis zu 12 Stunden lang festgehalten werden. Auch physische Gewalt darf die Polizei bei Widerstand einsetzen. Das gilt für die gesamte Demonstration, sollte diese aufgelöst werden und nicht freiwillig den Platz verlassen. Wie man sich in solche riskanten Situationen verhalten sollte, dazu informiert das Hungarian Helsinki Committee in einem ausführlichen FAQ. Die NGO hat zudem angekündigt, Betroffene rechtlich zu unterstützen.
Datenschutz & Sicherheit
„Passwort“ Folge 34: Lokale Sauereien von Meta und Yandex
Die Internetriesen Meta und Yandex sind beim Tracken ihrer Nutzer erwischt worden. Das klingt kaum nach einer Neuigkeit, doch der Knackpunkt ist die Art und Weise dieses Trackings: Facebook, Instagram, Yandex Maps und einige andere Yandex-Apps haben Nutzer auch dort verfolgt, wo es weder vertretbar noch technisch möglich erscheint: im Browser außerhalb der App.
Dabei haben Meta und Yandex nicht nur die expliziten Wünsche ihrer Nutzer ignoriert – gängige Anti-Tracking-Maßnahmen wie der Inkognito-Modus, sich auszuloggen oder Cookies zu löschen waren wirkungslos – sondern auch Sicherheitskonzepte von Android absichtlich ausgehebelt. Die Podcast-Hosts sehen sich an, wie skrupellos und trickreich die Firmen dabei vorgingen, gestützt auf die Analyse „Local Mess“. Unter diesem Titel dokumentierten die ursprünglichen Entdecker des Verhaltens ihre Ergebnisse.
Christopher und Sylvester ringen dabei immer wieder um Worte, denn das Vorgehen von Meta und Yandex ist so perfide, nutzerfeindlich und offensichtlich absichtlich, dass die Hosts kaum noch Unterschiede zu typischer Malware sehen. Im Podcast zeichnen die beiden nach, wie das Tracking technisch umgesetzt wurde – auch diese Tricks erinnern an klassische bösartige (und illegale) Software, was sie wenigstens interessant macht.
Außerdem diskutieren die Hosts, wie Meta und Yandex reagierten, als sie auf das Verhalten ihrer Apps angesprochen wurden, was eigentlich Google, die Hüterin der Play-Store- und Android-Richtlinien dazu sagt, und woran es liegen könnte, dass iOS offenbar nicht betroffen war. Zuletzt reden die beiden darüber, wie man sich vor solchen Methoden schützen kann und welche Vorschläge es gibt, dergleichen in Zukunft zu unterbinden. Denn eigentlich sollte niemand die Isolationsschichten zwischen Apps überwinden können, wenn Nutzer das nicht wollen – ganz gleich, ob die Apps von Hackern mit kriminellen Absichten oder von Firmen ohne moralischen Kompass stammen.
Das Chrome-Entwicklerteam hat zwischenzeitlich seine Pläne konkretisiert, lokale Netzwerkzugriffe aus dem Google-Browser heraus an die Erlaubnis des Nutzers zu knüpfen. Bereits mit Chrome 138 können Desktop-Nutzer den „Local Network Access“ testen, Android wird später folgen.
Die neueste Folge von „Passwort – der heise security Podcast“ steht seit Mittwochmorgen auf allen Podcast-Plattformen zum Anhören bereit.
(syt)
Datenschutz & Sicherheit
Achtstellige Passwörter unzureichend: Datenschutzstrafe für Genfirma 23andme
„23andme hat dabei versagt, grundlegende Maßnahmen zum Schutz personenbezogener Daten zu setzen“, zeiht John Edwards, Chef der britischen Datenschutzbehörde, das US-Unternehmen für Genanalysen, „Ihre Sicherheitssysteme waren inadäquat, die Warnsignale waren da und die Firma hat langsam reagiert.“ Das Ergebnis ist bekannt: Fast sieben Millionen Datensätze von Kunden 23andmes gelangten 2023 in falsche Hände und im Darknet zum Verkauf. Edwards Behörde verhängt nun eine Strafe von umgerechnet gut 2,7 Millionen Euro über die Genfirma.
Die der Strafe zugrundeliegende Untersuchung war gemeinsame Arbeit der britischen und der kanadischen Bundesdatenschutzbehörde. Letztere darf, sehr zum anhaltenden Ärger ihres Chefs Philippe Dufresne, keine Strafen verhängen, sondern muss sich auf die Feststellung beschränken, dass 23andme kanadisches Datenschutzrecht verletzt hat. Von der illegalen Offenlegung dürften etwa 320.000 Kanadier und rund 150.000 Briten betroffen sein.
Die Methode des Angreifers war banal: Credential Stuffing. Dabei werden Logins und Passwörter, die bei Einbrüchen in andere Dienste offengelegt worden sind, ausprobiert. Hat der User die gleiche Kombination eingesetzt, und gibt es keine Multifaktor-Authentifizierung, kann sich der Angreifer einloggen. Das ist bei 23andme im Jahr 2023 bei über 18.000 Konten gelungen. Viele 23andme-Kunden haben in ihren Konten die Option aktiviert, ihre Daten mit Verwandten zu teilen. Daher konnte der Angreifer über gut 18.000 Konten die Daten von fast sieben Millionen Menschen abgreifen.
Fünf Monate nichts mitbekommen
Fünf Monate lang, ab Ende April 2023, konnte der Täter ungestört ein Passwort nach dem anderen ausprobieren. Denn, so die kanadische und die britische Behörde, 23andme hatte ineffektive Erkennungssysteme sowie unzulängliches Logging und Monitoring. Zudem sei die Untersuchung von Anomalien inadäquat gewesen, sonst hätte 23andme die Vorgänge Monate früher als erst im Oktober 2023 erkannt.
Hinzu kommt unzureichende Vorbeugung. Die beiden Behörden kritisieren, dass 23andme keine verpflichtende Multifaktor-Authentifizierung (MFA) hatte, dass es nicht überprüft hat, ob Kunden anderswo kompromittierte Passwörter wiederverwenden, dass es keine zusätzliche Überprüfung bei der Anforderung der Gen-Rohdaten gab, und dass die Passwortregeln zu lasch waren: 23andme schrieb mindestens achtstellige Passwörter mit „minimalen Komplexitätsregeln“ vor; eine Richtlinie der britischen Datenschutzbehörde ICO (Information Commissioner’s Office) empfiehlt mindestens zehnstellige Passwörter ohne Zwang der Verwendung von Sonderzeichen und ohne Längenbeschränkung.
Selbst als 23andme die unberechtigten Zugriffe erkannt hatte, reagierte es nicht so, wie sich die Datenschutzbehörden das vorstellen. Es dauerte vier Tage, bis die Firma alle Passwörter zurücksetzte und laufende Sitzungen schloss. Bis zur Einführung verpflichtender MFA und zusätzlicher Absicherung der Rohdaten verging gar ein Monat. Zu allem Überdruss waren die rechtlich vorgeschriebenen Mitteilungen der Firma an die britische und die kanadische Datenschutzbehörde auch noch unvollständig.
Nach Insolvenz kommt Wojcicki wieder ans Ruder
Einige Monate nach dem Vorfall stellte 23andme Insolvenzantrag. Daher ist nicht gesichert, dass die britische Strafe in der festgesetzten Höhe bezahlt wird. Das Unternehmen könnte auch noch Rechtsmittel ergreifen.
23andme wurde 2006 gegründet, ist 2021 an die Börse gegangen, hat aber nie Gewinn geschrieben. Nach einigem Hin und Her im Insolvenzverfahren dürfte Mitgründern Anne Wojcicki über ihre Forschungsfirma TTAM die Konkursmasse 23andmes aus dem Konkursverfahren erwerben. TTAM hat dafür 305 Millionen US-Dollar geboten, mehr als die Pharmafirma Regeneron. Wojcicki war bis 2015 mit Google-Mitgründer Sergey Brin verheiratet und ist die jüngste Schwester der im August an Lungenkrebs verstorbenen Susan Wojcicki, der ersten Marketingleiterin Googles und langjährigen Chefin Youtubes.
(ds)
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