Bundeskanzler Friedrich Merz ist nicht gerade zimperlich, wenn es darum geht, Länder („ordentliches Stück Brot“), Städte („Belem“) oder ganze Bevölkerungsgruppen („kleine Paschas“ und „grüne und linke Spinner“) zu beleidigen. Wenn allerdings er selbst im Fokus steht, wird er offenbar schnell dünnhäutig.
Durch Recherchen verschiedener Medien kam nun heraus, dass Friedrich Merz seit 2021 – noch als Oppositionsführer der Union – zahlreiche Strafanträge wegen mutmaßlicher Beleidigungen gegen ihn gestellt hat. In mindestens zwei Fällen führten diese zu Hausdurchsuchungen.
Die Strafanträge sind laut den Recherchen anfangs auf Initiative von Merz entstanden. Seit Merz Kanzler ist, lässt er quasi von Amts wegen ermitteln, indem er den Ermittlungen nicht widerspricht. Die „Welt“ geht davon aus, dass Merz vor seiner Amtszeit als Unions-Chef Hunderte Strafanträge gestellt hat. Ein netzpolitik.org vorliegendes Dokument der Kanzlei Brockmeier, Faulhaber, Rudolph, die Merz in seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter vertreten hat, mit fortlaufenden Fallnummern untermauert diese Schätzungen. Zwischen Mai und Dezember dieses Jahres sind laut Informationen des nd etwa 170 Strafanzeigen wegen Beleidigung gestellt worden.
Dass ohne die aktive Mithilfe von Friedrich Merz in seiner Funktion als Bundeskanzler ermittelt werden kann, ermöglicht Paragraf 188 des Strafgesetzbuches, der Amtsträger:innen und Politiker:innen bis in die kommunale Ebene hinein vor Beleidigungen schützen soll. Der Paragraf bietet – zusammen mit den Paragrafen 90 (Verunglimpfung des Bundespräsidenten) und Paragraf 90b (Verfassungsfeindliche Verunglimpfung von Verfassungsorganen) – quasi moderne Möglichkeiten, „Majestätsbeleidigungen“ zu ahnden. Im Gegensatz zum klassischen Beleidigungsparagraf 185 StGB können Staatsanwaltschaften beim Paragraf 188 StGB von Amts wegen ermitteln. Bei der klassischen Beleidigung braucht es einen Antrag der betroffenen Person.
Die mutmaßlichen Beleidigungen werden den Ermittlungsbehörden – und später dem Bundeskanzleramt – vermutlich überhaupt erst bekannt, weil die Infrastruktur von Hatespeech-Meldestellen diese auffindet und an die Bundesbehörde weiterleitet. Laut den Recherchen der Tageszeitung „Die Welt“ ist daran maßgeblich die dem hessischen Innenministerium unterstellte Meldestelle „Hessen gegen Hetze“ beteiligt. Sie übermittelt Meldungen an die Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZMI), die beim Bundeskriminalamt (BKA) angesiedelt ist. 92 Prozent aller Paragraf-188-Meldungen, die das ZMI erhält, stammen von der hessischen Meldestelle. Andere Meldestellen wie „Respect!“ oder die Landesmedienanstalten seien laut nd in weit geringerem Umfang beteiligt. Insgesamt habe das ZMI nach Auskunft eines Sprechers in den ersten neun Monaten dieses Jahres 5155 gemeldete Fälle mit dem Straftatbestand des Paragrafen 188 StGB kategorisiert.
Personen, die schnell beleidigt sind, werden in Deutschland gerne als „beleidigte Leberwurst“ bezeichnet. (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Westend61
Spitzenpolitiker als Mandanten
Aber auch privatwirtschaftliche Dienste wie „So-Done“ haben bei der Verfolgung von Beleidigungen offenbar ihre Finger im Spiel. Laut Recherchen der Welt hat der Rechtsanwalt und FDP-Politiker Alexander Brockmeier die meisten der Strafanzeigen von Merz unterschrieben, die dieser während seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter gestellt hat. Brockmeier hat die So Done GmbH zusammen mit seiner Parteikollegin Franziska Brandmann gegründet, eine Art Legal Tech Unternehmen, das Hate Speech verfolgt.
Laut Informationen der Welt haben neben Friedrich Merz in der Vergangenheit unter anderem Robert Habeck (Grüne), Julia Klöckner (CDU), NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und Bundesforschungsministerin Dorothee Bär (CSU) den Dienst in Anspruch genommen. Der Bundeskanzler nutze den Dienst mittlerweile nicht mehr.
„Werkzeug, um Leute aus dem Diskurs zu drängen“
Gleich acht Strafanträge von Friedrich Merz hat der Berliner Umwelt- und Klimaaktivist Tadzio Müller erhalten. Müller hatte Friedrich Merz auf Bluesky und Twitter mehrfach als Beispiel für seine Theorie der „Arschlochgesellschaft“ herangezogen und den Kanzler kontexualisierend wahlweise ein „schamloses“ oder „rassistisches Arschloch“ genannt.
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Müllers Rechtsanwalt Jannik Rienhoff findet es laut dem nd falsch, wenn Merz Postings zur Anzeige bringen lässt, die einen klaren politischen Kontext haben. Da dürfe man viel sagen und das zu Recht. „Bei einer Formalbeleidigung würde ich es verstehen, allerdings könnte Merz auch darüber stehen“, so Rienhoff gegenüber dem nd. Den Paragrafen 188 StGB, der Ermittlungen auch ohne direkten Strafantrag des Bundeskanzlers ermöglicht, kritisiert der Anwalt dabei grundsätzlich. Dieser sorge unnötigerweise für hohe Kosten und für einen enormen Aufwand für Betroffene.
„Systematische Strafverfahren wegen Bagatellbeleidigungen“
Das sieht auch Tadzio Müller so. Er ist überzeugt, dass es bei den Anzeigen nicht um die Bekämpfung von Hass im Netz gehe, sondern dass sie eine neue Form von Cyber-Bullying darstellen: „Ressourcenstarke Akteure wie Merz haben mit diesen Verfahren ein weiteres Werkzeug in der Hand, um Leute aus dem Diskurs zu drängen.“
Es handle sich um ein Werkzeug, das nicht nur emotional, sondern auch ökonomisch schmerze: „Jede dieser Anzeigen produziert Anwaltskosten bei den Betroffenen“, so Müller gegenüber netzpolitik.org.
Ähnlich sieht das auch Eva Meier*, die erst im November Post vom Landeskriminalamt Hamburg wegen einer mutmaßlichen Beleidigung des Kanzlers erhalten hat: „Seine Bürgerinnen und Bürger systematisch mit Strafverfahren wegen Bagatellbeleidigungen zu überziehen, ist eines Kanzlers nicht würdig“, sagt sie gegenüber netzpolitik.org. „Das ist kein Vorgehen gegen Hass im Netz, sondern schränkt gezielt die freie Meinungsäußerung ein.“