EU-Staaten uneins über US-Zugriff auf Polizeidaten
Die britische NGO Statewatch hat ein Ratsdokument mit Positionen der EU-Mitgliedstaaten zu den geplanten Verhandlungen über die sogenannte Enhanced Border Security Partnership (EBSP) mit den Vereinigten Staaten veröffentlicht. Es zeigt die Differenzen über den von Washington seit drei Jahren geforderten transatlantischen Zugriff auf Polizeidatenbanken und darin enthaltene Fingerabdrücke und Gesichtsbilder.
Die meisten der 27 EU-Regierungen sind aufgeschlossen für Verhandlungen, fordern aber Leitplanken für eine solche Datenkooperation. Einige machen weitergehende Vorschläge.
Die US-Forderung betrifft alle 43 Teilnehmer des Visa-Waiver-Programms, darunter auch Länder wie Großbritannien, Israel, Australien oder Singapur. Sie sollen bis Ende 2026 eine „Grenzpartnerschaft“ abschließen. Andernfalls droht der Ausschluss vom visafreien Reisen in die USA.
Die EU-Kommission hat dazu vorgeschlagen, im Auftrag aller 27 Unionsmitglieder Verhandlungen für ein Rahmenabkommen zum Austausch der biometrischen Daten zu führen. Der Rat – also alle Mitgliedstaaten – soll der Kommission dazu ein Verhandlungsmandat erteilen. Für die Umsetzung eines solchen Rahmenabkommens müssen die einzelnen Länder aber anschließend eine zusätzliche bilaterale Vereinbarung mit den USA schließen.
Deutschland will US-Behörden Grenzen setzen
Die Bundesregierung zeigt sich laut dem Dokument grundsätzlich offen für ein EU-weites Abkommen, will den US-Behörden darin aber Grenzen setzen. Deutschland lehnt einen Direktzugriff US-amerikanischer Behörden auf ausländische Datenbanken ab und fordert eine Lösch-Regelung.
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Stattdessen solle der Austausch über ein mehrstufiges „Treffer/Kein Treffer“-Verfahren erfolgen – eine Herausgabe der Daten soll also nur im Einzelfall und nach Prüfung durch nationale Stellen erfolgen. Unter Schengen-Staaten ist das im Vertrag von Prüm geregelt. Die USA könnten dementsprechend ein internationaler Prüm-Partner werden, so der deutsche Vorschlag.
Als erster und bislang einziger Staat erhielt Großbritannien diesen Status nach dem Brexit. Allerdings dauert die Datenabfrage nach dem „Treffer/Kein Treffer“-Prinzip mitunter Tage. Für die von den USA angestrebte Echtzeitverwendung ist dies also keine Option.
Zugleich fordert Berlin, dass die EU geschlossen gegenüber Washington auftritt, um zu verhindern, dass einzelne Mitgliedstaaten in bilateralen Abkommen weitergehende Zugeständnisse machen. Nach deutscher Ansicht müsse der transatlantische Datenaustausch „einen echten Mehrwert für die Sicherheit der EU und ihrer Mitgliedstaaten bringen, dabei aber die Grundrechte und den Datenschutz uneingeschränkt wahren“.
Einige Staaten wollen Beschränkungen
Neben Deutschland plädieren auch Italien, Frankreich, Österreich und die Niederlande dafür, den Anwendungsbereich des Abkommens klar zu begrenzen. Italien etwa fordert, dass sich die Kooperation „auf Migration und Grenzmanagement“ beschränken solle und „nicht zu einem generellen Polizeidatenaustausch“ werde. Auch Frankreich warnt vor einer schleichenden Ausweitung in Bereiche nationaler Strafverfolgung und verlangt, dass jede Datenübermittlung „menschlich überprüft“ werden müsse und nicht automatisch erfolgen dürfe.
Die Regierungen in Wien und Den Haag äußern ähnliche Vorbehalte: Der Austausch dürfe nur Daten betreffen, die im Rahmen von Grenz- oder Visaverfahren erhoben werden und nicht etwa nationale Ermittlungsakten.
Ein anderes Lager – darunter die baltischen Staaten, Tschechien und Litauen – zeigt sich hingegen offen für US-Forderungen nach direkter oder automatisierter Abfrage europäischer Datensätze, sofern Datenschutzgarantien und Gegenseitigkeit gewahrt blieben. Die litauische Delegation stellt sogar in den Raum, die Verwendung von Künstlicher Intelligenz bei der automatisierten Verarbeitung von Daten zu regeln, was andere Staaten strikt ablehnen.
Die österreichischen Vertreter äußerten die Auffassung, dass die USA eher an Daten in europäischen Informationssystemen interessiert seien als an nationalen biometrischen Datenbanken. Das bezieht sich speziell auf drei neue große EU-Systeme: das Visa-Informationssystem (VIS), das gemeinsame biometrische Abgleichsystem (sBMS) und den Gemeinsamen Identitätsspeicher (CIR). In den Kommentaren Österreichs klingt es so, als wolle das Land den USA den Zugriff auf diese EU-Daten anbieten, „um eine operationell gegenseitig vorteilhafte Lösung zu erreichen“.
Irland verweist auf sicherheitspolitische Dimension
Ein Sonderfall ist Irland. Die dortige Regierung betont, dass das Abkommen nicht nur Grenz- oder Visaangelegenheiten betreffen soll, sondern auch der Bekämpfung von Terrorismus und schwerer Kriminalität dienen müsse. Irland ist nicht Teil des Schengen-Raums. Trotzdem fordert Dublin, an den Verhandlungen teilzunehmen und argumentiert, der Austausch von Biometriedaten und Reisedokumenten könne allen Schengen-Staaten beim Kampf gegen Verbrechen und Terrorismus helfen.
Sollte Irland von dem Rahmenabkommen ausgeschlossen bleiben, befürchtet das Land erhebliche operative Schwierigkeiten bei der Umsetzung eines späteren bilateralen EBSP mit den USA, was den eigenen Status im Visa-Waiver-Programm gefährden könnte. Vor diesem Szenario warnen auch einige osteuropäische Staaten.
Deadline bis Ende 2026
Frankreich wiederum stellt die Lesart der Kommission in Frage, wonach das Rahmenabkommen in ausschließlicher EU-Kompetenz liege: Einige Aspekte, etwa der Zugriff auf nationale Datenbanken, fielen nach Ansicht von Frankreich eindeutig in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Über diese Frage hatte es vorab bereits Uneinigkeit gegeben, denn die von den US-Behörden anvisierte Nutzung der biometrischen Daten geht deutlich über Visafragen – für die die EU grundsätzlich zuständig ist – hinaus.
Mehrere im Rat in Brüssel vertretene Länder wie Österreich, die Niederlande und Estland halten den von Washington gesetzten Zeitplan für das EBSP bis Ende 2026 für unrealistisch. Ungarn fordert Konsequenzen, falls die USA für ein EU-Land den Visa-Waiver-Status einseitig beschränken. Dann müsse die EU den Datenaustausch aller Mitgliedstaaten geschlossen aussetzen.
Um Diagnosen, Laborberichte oder Therapiepläne untereinander auszutauschen, nutzen Arztpraxen und Krankenhäuser standardmäßig ein spezielles Mail-System namens „Kommunikation im Medizinwesen“, kurz: KIM.
KIM verspricht, sensible Daten verschlüsselt zu übermitteln, damit Unbefugte sie nicht abfangen und einsehen können. Doch bei der Sicherheit hapert es gewaltig, wie der IT-Sicherheitsforscher Christoph Saatjohann heute auf dem 39. Chaos Communication Congress in Hamburg zeigte. Der NDR und die Süddeutsche Zeitung hatten zuvor über die Recherchen zum Thema berichtet.
Demnach weist das KIM-System seit Jahren gravierende Sicherheitslücken auf. Mit geringem Aufwand können Angreifer unter anderem gefälschte Mail-Adressen anlegen und damit vermeintlich seriös wirkende Nachrichten versenden. Auf diese Weise lassen sich Praxissysteme infiltrieren, um beispielsweise Patient:innendaten zu stehlen.
Unsichere Kommunikation mit beliebiger Adresse
KIM wurde 2021 bundesweit eingeführt, etwa 100 Millionen Nachrichten werden jedes Jahr über das System verschickt. Neben der elektronischen Patientenakte (ePA) und dem E-Rezept gilt der Dienst als weitere wichtige Säule des digitalen Gesundheitswesens.
Um einen sicheren Nachrichtenversand zu gewährleisten, versieht KIM Nachrichten mit einer digitalen Signatur. Diese bestätigt dem Empfänger, dass die Nachricht tatsächlich über das System verschickt wurde. Allerdings besteht laut Saatjohann keine Sicherheit darüber, ob der Absender der ist, der er vorgibt zu sein.
Um eine KIM-Mail-Adresse bei einem KIM-Fachdienst wie T-Systems registrieren zu lassen, braucht es aktuell nur einen Ausweis für eine medizinische Einrichtung, eine sogenannte SMB-C-Karte. Auf eine solche Karte haben mehrere hunderttausend Menschen im Gesundheitswesen Zugriff. Und auch auf eBay würden diese Ausweise hin und wieder verkauft, sagt Saatjohann.
Liegt eine solche Karte vor, können Angreifer eine beliebige Mail-Adresse nach einem bestimmten Muster erstellen: namederpraxis.ort@anbieter.kim.telematik. Die gewünschten Adressen werden nicht auf Plausibilität geprüft. Das Ergebnis ist Saatjohann zufolge vergleichbar mit einem versiegelten Brief, bei dem der Absendername aber falsch sein kann. Angreifer könnten die gefälschte Absender-Adresse dazu nutzen, echt erscheinende Mails zu versenden, die Schadsoftware oder Phishing-Links enthalten.
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Gematik hat nachlässig geprüft
Saatjohann sieht die Verantwortung für die Lücken vorrangig bei der Gematik. Die staatseigene GmbH ist für die Spezifikation und Prüfung des KIM-Systems verantwortlich. Und die hier vorgegebenen Sicherheitsstandards habe die Agentur offenkundig nicht ausreichend überprüft, so Saatjohann.
Am 15. September übermittelte der IT-Forscher der Agentur seine Funde. Knapp zwei Monate später veröffentlichte die Gematik einen sogenannten Hotfix, der viele der aufgezeigten Sicherheitslücken schließt. Nach eigenen Angaben arbeitet die Gematik daran, die weiteren Lücken ebenfalls zu schließen. Auch T-Systems habe Saatjohann über die Lücken informiert, das Unternehmen habe bis zum heutigen Tag aber nicht reagiert.
Es werde noch dauern, bis alle Praxen die Sicherheitsupdates eingespielt haben. Vor allem aber sei es weiterhin mit geringem Aufwand möglich, eine eigene Mail-Adresse für das KIM-System zu erhalten, ohne dass diese auf Plausibilität geprüft wird. Ein Angreifer kann sich also auch weiterhin als eine behandelnde Person seiner Wahl ausgeben. „Ich sehe keine Möglichkeit, das schnell zu verbessern“, sagt Saatjohann. „In der aktuellen Architektur ist das kaum lösbar und deshalb bleibt eine Restunsicherheit.“ Um diese zu beseitigen, müsse wohl das gesamte KIM-System überholt werden.
Erneut Versäumnisse bei der Gematik
Auf dem diesjährigen 39C3 stellt sich damit einmal mehr die Frage, wie sicher unsere Patient:innendaten sind.
Schon im vergangenen Jahr stand die Gematik massiv in der Kritik. Im Dezember 2024 hatten die Sicherheitsexpert:innen Bianca Kastl und Martin Tschirsich Schwachstellen bei der elektronischen Patientenakte (ePA) vorgestellt.
Die Agentur versprach daraufhin, die Lücken zu schließen. Doch im Mai dieses Jahres konnten die beiden Fachleute in Zusammenarbeit mit Saatjohann erneut Zugriff auf die digitalen Patientenakten erlangen. Und bis heute sind nicht alle der damals aufgezeigten Sicherheitslücken bei der ePA geschlossen.
39C3: Wie ein Forscher das sichere Mail-Netz der Medizin erneut überlistete
Der IT-Sicherheitsforscher Christoph Saatjohann ist kein Unbekannter in der Welt der medizinischen IT. Seit 2019 beobachtet er die Einführung der Telematikinfrastruktur (TI) kritisch. Bereits in den vergangenen Jahren legte er den Finger in die Wunde eines Systems, das eigentlich den Austausch im deutschen Gesundheitswesen absichern soll. Unter dem Label „Kommunikation im Medizinwesen“ (KIM), werden täglich Arztbriefe, elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Laborbefunde verschickt. Doch die Bilanz, die Saatjohann nun in Hamburg auf dem 39. Chaos Communication Congress (39C3) zog, ist entzaubernd: Das Versprechen einer schier lückenlosen Sicherheit ist auch nach Jahren voller Korrekturen noch nicht erfüllt.
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Nicht alles ist schlecht. Saatjohann räumte ein, dass KIM in den Praxen mittlerweile gut angekommen sei und die Gematik bereits früher gemeldete Schwachstellen – wie etwa gravierende Fehler bei der Schlüsselverwaltung – geschlossen habe. Doch kaum ist ein Loch gestopft, tun sich neue Abgründe auf. So berichtete der Professor für eingebettete und medizinische IT-Sicherheit an der FH Münster von einem „KIM of Death“: Durch fehlerhaft formatierte E-Mails konnten Angreifer das Clientmodul – die Software-Schnittstelle beim Arzt – gezielt zum Absturz bringen.
In einem Fall musste Saatjohann in einer Praxis, in der er nebenberuflich an Wochenenden experimentieren darf, selbst Hand anlegen und ein Python-Skript schreiben, um die blockierenden Nachrichten manuell vom Server zu löschen. „Es war knapp, dass die Praxis am Montag wieder funktioniert hat“, kommentierte er die Tragweite eines solchen Denial-of-Service-Angriffs. Ein solcher könnte theoretisch alle rund 200.000 KIM-Adressen gleichzeitig lahmlegen.
Attachment-Dienst erlaubt Datenschürfen
Als besonders perfide erwiesen sich Schwachstellen beim neuen KIM-Attachment-Service (KAS), der den Versand von Dateien bis zu 500 MB ermöglicht. Da das Clientmodul dabei Anhänge von externen Servern nachlädt, können Angreifer laut Saatjohann dem System eigene Server als Download-Quelle unterschieben. Das Ergebnis sei ein „IP-Mining“ im großen Stil. Übeltäter könnten so ein präzises Lagebild einer kritischen Infrastruktur erhalten: einbezogen wären die IP-Adressen von Praxen, Apotheken und Krankenkassen, die den Anhang herunterladen wollen.
Schlimmer noch: Da T-Systems als Mailserver-Betreiber zeitweise das Feld für den Absender („Mail-From“) nicht validierte, ließen sich KIM-Nachrichten mit beliebigem Absender fingieren – etwa im Namen des Bundesministeriums für Gesundheit. Der Professor warnte: Da solche E-Post einen „besonderen Vertrauensvorschuss“ genieße, wäre dies die perfekte Basis für hochwirksame Phishing-Kampagnen.
Auch die Identitätsprüfung innerhalb des Walled-Garden-Systems der TI stellte sich als löchrig heraus. Saatjohann demonstrierte, wie er sich problemlos eine KIM-Adresse unter falschem Namen erstellen konnte, da die Plausibilität der Adressen nicht geprüft wurde. Zudem war es ihm möglich, KIM-Nachrichten mit einem beliebigen TI-Schlüssel zu signieren, ohne dass das Empfängermodul Alarm schlug: die Prüfung zwischen Signatur und tatsächlichem Absender fehlte. Selbst das Mitlesen verschlüsselter Nachrichten war unter bestimmten Bedingungen möglich. Durch das Unterschieben eines eigenen POP3-Servers und die Ausnutzung einer mangelhaften Zertifikatsprüfung der Clientmodule konnten Nachrichten im Klartext an einen Angreifer weitergeleitet werden.
BSI: Patienten nicht akut gefährdet
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Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) reagierte auf die Enthüllungen besorgt, bemühte sich aber um Schadensbegrenzung. Gegenüber NDR und Süddeutscher Zeitung erklärte die Behörde, die gefundenen Sicherheitslücken seien nur mit technischen Fachkenntnissen ausnutzbar. Ein unmittelbares Risiko für die Patienten sei unwahrscheinlich.
Dennoch bleibt die Kritik an der Sicherheitskultur im KIM-System bestehen. Während die Gematik auf Saatjohanns Meldungen schnell reagierte und Mitte November Hotfixes für die Clientmodule sowie schärfere Zertifikatsprüfungen auf den Weg brachte, reagierte T-Systems gegenüber dem Forscher nicht. Laut Saatjohann wurden die Schwachstellen dort zwar stillschweigend gefixt, eine transparente Kommunikation oder Dokumentation habe jedoch gefehlt.
Trotz der neuen Mängel zog Saatjohann ein differenziertes Fazit. Er hob hervor, dass die Architektur zwar an vielen Stellen „strukturell falsch“ sei. Das liege auch an der Komplexität von über 130 verschiedenen Praxisverwaltungssystemen, die alle eigene Sicherheitsanforderungen erfüllen müssten. Das System KIM agiere aber grundsätzlich „auf recht hohem Niveau“. Das Sicherheitsrisiko sei im Vergleich zum völlig unverschlüsselten Fax-Versand oder herkömmlichen E-Mails immer noch geringer. Er selbst würde sensible Daten eher über KIM verschicken als über die konventionellen Wege.
Der Wissenschaftler gab zugleich zu bedenken: „Eine Restunsicherheit bleibt.“ Die Gematik plane zwar über eine zur Konsultation freigegebene Vorabveröffentlichung bereits weitere Schutzmaßnahmen wie eine zusätzliche Signatur in den Mail-Headern. Doch solange die Authentifizierung der Clientmodule nicht verpflichtend und die freie Wahl der Absendernamen möglich sei, bleibe KIM eine Lösung, deren Vertrauensanker auf tönernen Füßen stehe.
Die Slotmaschine rattert, blinkt und klingelt, während ihre Walzen rotieren. Die Lootbox schüttelt sich und pulsiert, als würde sie gleich explodieren, begleitet von anschwellenden Glockenklängen. Für viele Gamer*innen bedeutet das Spaß und Nervenkitzel, ob beim klassischen (Online-)Glücksspiel für Erwachsene oder in Glücksspiel-ähnlichen Games, die teils sogar für Kinder freigegeben sind.
Für die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Elke Smith bedeutet Glücksspiel dagegen Arbeit. Denn sie erforscht an der Universität zu Köln menschliche Entscheidungs- und Lernprozesse – darunter jene Mechanismen, die beim Zocken im Hintergrund ablaufen. In ihrem Vortrag auf dem 39. Chaos Communication Congress erklärt Smith die zentralen Tricks von Glücksspiel, die sich inzwischen auch in klassischen Online-Games ausbreiten.
Geschätzt 2,4 Prozent der deutschen Bevölkerung zwischen 18 und 70 Jahren sind laut Gesundheitsministerium süchtig nach Glücksspielen, haben also eine als Krankheit anerkannte Verhaltensstörung. Derweil liegen die Umsätze für legales Glücksspiel in Deutschland bei knapp 63,5 Milliarden Euro. Dennoch kommt der Vortrag der Glücksspiel-Forscherin Smith ohne Verteufelung aus. Vielmehr umreißt sie den Graubereich zwischen Spaß und Suchtgefahr.
Deshalb macht Glücksspiel so viel Spaß
Psychologin Elke Smith auf dem 39C3. – Alle Rechte vorbehalten media.ccc.de
Ein besonders auffälliger Glücksspiel-Mechanismus, den Smith hervorhebt, sind audiovisuelle Effekte, die bei hohen Gewinnen noch stärker werden. Darunter fallen zum Beispiel die zu Beginn erwähnten klingelnden und glitzernden Slotmaschinen und Lootboxen. Gerade bei einem Gewinn können virtuelle Funken sprühen, Goldmünzen hageln und Fanfaren blasen. Solche Elemente sind kein bloßes Beiwerk, sondern tragen dazu bei, Menschen durch Reize zu belohnen und damit zum Weiterspielen zu motivieren.
Sogenannte Near Misses sind Fälle, in denen Spieler*innen den Eindruck bekommen, nur ganz knapp verloren zu haben, etwa wenn bei der Slotmaschine das Gewinnsymbol fast getroffen wurde. Zwar macht es finanziell keinen Unterschied, ob man knapp oder deutlich verliert – es fühlt sich aber anders an.
Ein weiterer Mechanismus, den Smith hervorhebt, sind als Verluste getarnte Gewinne, auf Englisch: losses disguised as wins. In diesem Fall bekommen Spielende einen Bruchteil ihres Einsatzes als scheinbaren Gewinn zurück, begleitet mit audiovisuellen Belohnungsreizen.
Bei der Jagd nach Verlusten („chasing losses“) versuchen Spieler*innen wiederum, das verlorene Geld aus vorigen Runden durch immer weitere Einsätze wieder zurückzuholen.
Nicht zuletzt kann sich Glücksspiel auch der sogenannten Kontroll-Illusion („illusion of control“) bedienen. Das ist eine kognitive Verzerrung: Üblicherweise können Menschen durch ihre Entscheidungen tatsächlich ihre Umwelt beeinflussen, dazu lernen und ihre Fähigkeiten verbessern. Beim Glücksspiel dagegen haben Entscheidungen oftmals keinen Einfluss auf das Ergebnis – es fühlt sich nur so an. Als Beispiel nennt Smith die Entscheidung, wann genau man bei einer Slotmaschine den Knopf drückt, um die rollenden Walzen zu stoppen.
Mechanismen breiten sich in Spiele-Apps aus
Diese und weitere Mechanismen sind nicht auf (Online-)Casinos begrenzt, sondern verbreiten sich auch in klassischen Spiele-Apps, wie Smith ausführt. Die Integration von Glücksspiel-Elementen wie Zufall, Risiko und Belohnung nennt sie „Gamblification“ – und deren Effekte hat sie selbst untersucht.
Gemeinsam mit Forschungskolleg*innen hat Smith gemessen, wie Zuschauer*innen auf YouTube-Videos reagieren, in denen Gamer*innen sich beim Öffnen von Lootboxen filmen. Solche Videos erreichen auf YouTube ein Millionenpublikum und zeigen: Glücksspiel-Mechanismen wirken möglicherweise sogar dann, wenn man anderen nur beim Spielen zuschaut.
Konkret haben die Forschenden Views, Likes und Kommentare von 22.000 Gaming-Videos mit und ohne Lootboxen miteinander verglichen. Das Ergebnis: Der Lootbox-Content hat das Publikum messbar stärker eingenommen als anderer Gaming-Content: mehr Views, mehr Likes, mehr Kommentare. „Dieses erhöhte Engagement könnte mit den Glücksspiel-ähnlichen Eigenschaften der durch Lootboxen vermittelten Belohnungsstruktur zusammenhängen“, heißt es auf Englisch in dem Paper, das im Mai 2025 beim Journal Scientific Reports erschienen ist.
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Um ihre Online-Spiele zu optimieren, können Anbieter auf A/B-Testing mit großen empirischen Datenmengen zurückgreifen, erklärt Smith in ihrem Vortrag. Das heißt: Sie können Features einfach ausprobieren und messen, was am besten funktioniert. Schließlich bekommen sie täglich kostenlos neue Daten von Millionen Gamer*innen. Auf diese Weise entstehen Produkte, die von Anfang an so gestaltet sind, dass sie die Belohnungsmechanismen der Spieler*innen am besten ausnutzen. Smith nennt das „Neuroexploitation by design“.
Das sind die Ansätze für Regulierung
Gegen Ende ihres Vortags geht Smith auf Ansätze ein, um die Gefahren von Glücksspiel-Mechanismen einzudämmen. In Deutschland gibt es etwa den Glücksspielstaatsvertrag. Manche Normen zielen direkt auf Glücksspiel-Mechanismen ab: So muss bei einem virtuellen Automatenspiel etwa ein einzelnes Spiel mindestens fünf Sekunden dauern, der Einsatz darf einen Euro pro Spiel nicht übersteigen. Das soll das Feuerwerk aus Risiko und Belohnung eindämmen.
Ob Lootboxen in die Kategorie Glücksspiel fallen, beschäftigt internationale Gerichte und Gesetzgeber bereits seit Jahren. In Deutschland hatte jüngst der Bundesrat strengere Regeln gefordert. Am 21. November hielten die Länder fest, dass Lootboxen und andere Glücksspiel-ähnliche Mechanismen in Videospielen besser reguliert werden sollen, um Suchtgefahr zu reduzieren. In Belgien und den Niederlanden gibt es bereits strengere Regeln.
Auf EU-Ebene gibt es derzeit kein spezifisches Recht zur Regulierung von Lootboxen, wie die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags den Sachstand im Herbst 2024 zusammenfassen. Allerdings kommen je nach Kontext verschiedene EU-Gesetze in Frage, etwa das Gesetz über digitale Dienste (DSA), das manche Anbieter dazu verpflichtet, Risiken für ihre Nutzer*innen zu erkennen und zu minimieren. Derzeit plant die EU-Kommission zudem den Digital Fairness Act, der Lücken im Verbraucherschutz schließen soll.
„Ich denke, es wäre wichtig, vor allem junge Menschen vor diesen Mechanismen zu schützen“, warnt Smith mit Blick auf Glücksspiel-Mechaniken in Spielen. Damit verweist die Forscherin auf eine Leerstelle in den aktuellen Debatten um Jugendschutz im Netz, die vor allem um Alterskontrollen für soziale Medien kreisen.
Ein fertiges Regulierungs-Konzept für Glücksspiel-Mechanismen hat die Forscherin zwar nicht. In welchem Spannungsfeld man sich bei dem Thema bewegt, bringt sie jedoch in Reaktion auf eine Frage aus dem Publikum auf den Punkt: „Gibt es einen Bereich vom Spieldesign, der Spaß macht, Nervenkitzel birgt, profitabel ist für die Anbieter und im Bereich des sicheren Spielens liegt?“