Künstliche Intelligenz

ÖPNV in Los Angeles: Wo soziale Probleme auf Züge und sehr viele Autos treffen


Der Mann mit dem Kinderfahrrad, der an der Bushaltestelle neben dem japanischen Nobelrestaurant Nabu – Ferrari und Range Rover geben sich hier ein Stelldichein – in Malibu steht, sieht ziemlich abgewetzt aus. Er bittet den Busfahrer, sein Gefährt wie hier üblich vorn aufzuladen, was der auch ohne Murren tut. Dann steigt er ein und läuft erst einmal durch den Bus, um um Fahrgeld zu betteln. Es dauert vielleicht 30 Sekunden, bis er es zusammen hat. Einer der milden Spender erhält von dem Mann ein Stückchen Haschisch, der bedankt sich freundlich.

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Dann setzt sich der Mann ein paar Reihen vor mich und beginnt, seine Fußbehausung auszuziehen. Die kommende Viertelstunde Fahrt über den Pacific Coast Highway verbringt er damit, sich seine Füße einzucremen, mit etwas, was mich an Salbe aus der deutschen Latschenkiefer erinnert. Der ganze Bus stinkt danach, als die meisten Fahrgäste später in Santa Monica aussteigen werden.

Willkommen im Wahnsinn des ÖPNV von Los Angeles, der zweitgrößten Stadt der Vereinigten Staaten. Wer den öffentlichen Personennahverkehr aus Deutschland oder auch nur aus New York oder Chicago gewohnt ist, wundert sich hier schnell über gar nichts mehr. Es ist ein System, in dem eine wichtige Strecke wie die Light-Rail-Linie E der Los Angeles Metro Rail werktäglich keine 50.000 Fahrgäste anzieht (zum Vergleich: die U2 im viel kleineren Hamburg hat im Hauptabschnitt fast die doppelte Fahrgastmenge) und in dem mir ein Angestellter in einem Sportgeschäft von der Wunscherfüllung seines Traumes erzählt, sich endlich mit dem eigenen Auto auf dem Weg zur Arbeit in den Stau stellen zu können. Er sei so froh, „diesem Scheiß“, den Los Angeles Metro biete, endlich entflohen zu sein, sagt er triumphierend und mit stolzem Blick.



Highway-Verkehr in Downtown Los Angeles: So höllisch stellt man sich den Verkehr in der Metropole vor.

(Bild: Ben Schwan / heise medien)

Auf den ersten Blick sieht das Angebot der verschiedenen Verkehrsbetriebssparten in Los Angeles nicht schlecht aus. Gut, auf der Karte dieses Stadtgiganten, in dem sich ein Ort übergangslos an den nächsten reiht, zeigt die ÖPNV-Karte zahlreiche weiße Flächen. Insbesondere wenn man bedenkt, dass hier vor dem 2. Weltkrieg eines der größten (wenn nicht das größte) Straßenbahn- und Interurban-Netzwerk der Welt beheimatet war. Dann wurden viele Linien durch Busse ersetzt (wunderbar dargestellt im Film „Who Framed Roger Rabbit“) und seither versucht die Stadt, mit einer Mischung aus Bussen, besagten Light-Rail-Linien plus zwei „echten“ U-Bahn-Routen und einem Commuter-Zug-Netzwerk (Metrolink) an alte Personentransporterfolge anzuknüpfen.

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Das gelingt nur mit mäßigem Erfolg. Zuletzt wurde in Downtown L.A. – das, wenn man sich von der Skid Row fernhält, wirklich schön geworden ist – für sehr viel Geld ein neuer „Regional Connector“ gebaut, der die Metro-Rail-Linien im Innenstadtbereich besser vernetzen soll. Allein, eine massive Erhöhung der Fahrgastzahlen brachte das nicht. Eines der Probleme sind die Angsträume, die das ÖPNV-System liefert. Die Drogensüchtigen und Wohnungslosen gegenüber traditionell liberale Verwaltung hat zwar eingesehen, dass es sinnvoll ist, (wieder) mehr Polizei in den Untergrund zu schicken, und betreibt zudem eigene Sicherheitstruppen (die allerdings eher argumentieren sollen, als einzugreifen). Doch was hilft es, wenn man selbst auf den Stationen des Hollywood Boulevard gefühlt faktisch allein ist oder man an der Station Grand Ave Arts / Bunker Hill gezwungen ist, einen der vielen Aufzüge zu nehmen, die scheinbar reguläre Bewohner haben. Immerhin läuft hier mittlerweile stets schöne, klassische Musik zur Beruhigung.



Light-Rail-Zug der Metro-Rail-Linie E in Santa Monica: Schöne Wagen aus Japan.

(Bild: Ben Schwan / heise medien)

Aber zurück zum Positiven: Das ÖPNV-System von Los Angeles hat, wenn man sich hineintraut, auch für touristische oder geschäftliche Besucher seine Vorteile. Da wäre zunächst der enorm geringe Preis, der sich daran orientiert, dass die meisten Fahrgäste laut Statistik unter 50.000 US-Dollar im Jahr verdienen. Nur schlappe 1,75 Dollar werden pro Ticket fällig, die man per „TAP“-NFC-Karte oder auch – viel einfacher – „TAP“-App oder Apple Wallet entrichtet. Dafür kann man quasi beliebig lange in diesem gigantischen System unterwegs sein, zwei Stunden sind zudem „Transfers“ zu einem anderen Verkehrsmittel möglich. Aber auch diesen Billigpreis zahlen viele Fahrgäste nicht. Sie überspringen die oft nur schlecht geschützten Bahnsteigsperren. Als Los Angeles Metro beschloss, das System durch „Tap-to-Exit“, also den Zwang zum zusätzlichen „Tap out“ bei Ende der Fahrt, sicherheitstechnisch (und einnahmentechnisch) zu verbessern, sorgte dies für Proteste. Die Feuerwehr ließ den „Piloten“ schließlich stoppen, da das angeblich zu gefährlich bei Bränden sei. (Resultat: Die Kriminalität stieg wieder.) Ergo: Viel einfacher kann man ein ÖPNV-System eigentlich nicht benutzbar machen.

Dann wäre da das Netzwerk selbst. Es ist, wie erwähnt, für die Größe der Region eigentlich viel zu klein. Doch es wächst trotz aller Probleme. Ist man etwa in Downtown untergebracht, kann man locker lässig mit der Linie B bis nach Hollywood fahren, etwa um den „Walk of Fame“ zu sehen oder den Universal Studios City Walk. Bald soll es mit der Linie D auch zur Westside gehen. Das D-Line-Subway-Extension-Project zieht sich Teile des Wilshire Boulevard entlang und führt die U-Bahn erstmals nach/über Beverly Hills. Dort protestierte man in Teilen zunächst, denn es wird stets befürchtet, dass der Nahverkehr eben auch unerwünschte Personen in reiche(re) Gegenden holen könnte. Gearbeitet wurde auch am Flughafenzugang. Die Linie K wird nun über das frisch eröffnete LAX/Metro Transit Center geführt, wo aktuell Shuttlebusse zum Flughafen afahren, im kommenden Jahr auch eine automatisierte Gummireifenbahn (Los Angeles Airport Automated People Mover, LAX APM), die die Anbindung verbessern soll und verschiedene Bereiche des Flughafens direkt anfährt.



Ausblick aus einem Metro-Rail-Wagen – im Hintergrund ein Betriebshof.

(Bild: Ben Schwan / heise medien)

Allerdings gibt es da noch ein zentrales Problem: Erst einmal zu LAX/Metro Transit Center zu gelangen. Nehmen wir unser Downtown-Beispiel. Sie sind gegenüber der Disney Concert Hall in einem der schicken neuen Hotels untergebracht und wollen – so verrückt es klingt – mit dem ÖPNV zum Flughafen. Dafür – falls Sie nicht einen womöglich ewig im Verkehr stehenden Bus nehmen wollen – steigen Sie zunächst in die Linie E und fahren bis Expo/Crenshaw in Jefferson Park. Das allein dauert laut Fahrplan 23 Minuten, an Werktagen kommen die Light-Rail-Züge im dichtesten Takt alle 8 Minuten. Zwei Probleme bemerken Sie sogleich: Erstens ist die Bahn nicht auf Ihr Gepäck ausgelegt, zweitens fährt sie nicht, wie man das von einem schienengestützten ÖPNV-System für den Massenverkehr eigentlich erwarten sollte, auf einer komplett eigenen Trasse.

Das heißt: Der Zug wartet noch immer häufiger an Ampeln oder Bahnübergängen wie eine Straßenbahn, auch wenn sich die Stadt seit Jahren bemüht, diese Bremsbereiche zu reduzieren. Sind Sie dann in Expo/Crenshaw, müssen Sie zunächst etwas laufen, um von der oberirdischen Station der Linie E in die hier unterirdisch geführte K-Line (besteht ebenfalls aus Light-Rail-Zügen) umzusteigen. Laut Fahrplan sind dies dann noch weitere 23 Minuten bis zur (fast zu) großzügig ausgebauten Flughafentransferstation LAX/Metro Transit Center.



Inneres einer Metro-Rail-Station: Sie sind teilweise sehr hübsch gestaltet und man hört beruhigende Musik – Angsträume bleiben sie trotzdem.

(Bild: Ben Schwan / heise medien)

Existierte der erwähnte LAX APM bereits, könnten Sie jetzt in diesen umsteigen, doch stattdessen kommt aktuell nur der Shuttlebus. Resultat: Haben Sie Glück, schaffen Sie die Route in etwa einer Stunde und 15 Minuten. Leider vollkommen irre: Der derzeit noch fahrende Direktbus benötigt von der Union Station zusammen mit dem Zuläuferverkehr (erreichbar ist der Hauptbahnhof von Los Angeles von Downtown aus mit der U-Bahn-Linie B) im Idealfall laut Fahrplan nur 52 Minuten.

Das milliardenschwere Engagement ohne Zeitgewinn (je nachdem, wo man herkommt, natürlich) zeigt die verkehrlichen Probleme dieser Stadt wie ein Brennglas: Die Verwaltung bemüht sich stets, will aber dann den letzten Schritt doch nicht gehen, sei es aus Angst vor Protesten kapitalstarker Lobbygruppen oder aus ideologischen Aspekten. Für den normalen Bürger bleibt letztlich alles beim Alten: Der versucht, sich möglichst bald aus dem ÖPNV herauszuziehen und verstopft weiter die Straßen. Das eigene Auto fühlt sich sicherer und heimeliger an als der ÖPNV-Wahnsinn. Alternativ leistet man sich ein Fahrzeug von Uber oder Lyft (wobei deren Auffinden am Flughafen, das System nennt sich „LAX-it“, eine echte Katastrophe darstellt) oder besteigt die zunehmend überall verfügbaren autonomen Waymo-Fahrzeuge der gleichnamigen Google-Tochter. Es ist zum Haareraufen in dieser wunderbar verrückten Betonwüste, umgeben von je nach Wetterlage magisch wirkenden Bergen und Wäldern, wenn diese am „Wildland-Urban-Interface“ nicht wieder einmal zu brennen beginnen.



Metrolink-Zug in der Union Station von Los Angeles: Die Commuter-Linien gibt es auch noch – sie fahren mit „Ultra Low Sulfur Diesel“ aus erneuerbaren Quellen.

(Bild: Ben Schwan / heise medien)

Als ich kurz vor meiner Abreise noch einmal mit der U-Bahn fahre, um mir an der sehr schön erhaltenen Union Station im Mission-Revival-Stil die Züge des Commuter-Netzwerks Metrolink anzusehen, habe ich ein letztes, eindringliches L.A.-ÖPNV-Erlebnis. Ein Obdachloser, der am Wagenende entspannt, warnt mich eindringlich vor einer Person mit COVID-19-Bemaskung, die nicht danach aussieht, als gehe es ihr um die persönliche Gesundheit. „Der wird Dich gleich ausrauben, Bruder.“ Ich bedanke mich herzlichst und suche schnellstmöglich das Weite.


(bsc)



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