Entwicklung & Code
Projektmanagement: Die Grenzen des „Dienst nach Vorschrift“
Moin.
(Bild: Stefan Mintert )
Stefan Mintert arbeitet mit seinen Kunden daran, die Unternehmenskultur in der Softwareentwicklung zu verbessern. Das derzeit größte Potenzial sieht er in der Leadership; unabhängig von einer Hierarchieebene.
Die Aufgabe, dieses Potenzial zu heben, hat er sich nach einem beruflichen Weg mit einigen Kurswechseln gegeben. Ursprünglich aus der Informatik kommend, mit mehreren Jahren Consulting-Erfahrung, hatte er zunächst eine eigene Softwareentwicklungsfirma gegründet. Dabei stellte er fest, dass Führung gelernt sein will und gute Vorbilder selten sind.
Es zeichnete sich ab, dass der größte Unterstützungsbedarf bei seinen Kunden in der Softwareentwicklung nicht im Produzieren von Code liegt, sondern in der Führung. So war es für ihn klar, wohin die Reise mit seiner Firma Kutura geht: Führung verbessern, damit die Menschen, die die Produkte entwickeln, sich selbst entwickeln und wachsen können.
Für Heise schreibt Stefan als langjähriger, freier Mitarbeiter der iX seit 1994.
Hältst Du Dich an die Regeln und Vorschriften in Deiner Firma? Am besten beantwortest Du die Frage wortlos, nur für Dich. Denn schließlich sollen Deine Kollegen nicht hören, wie Du „Nein“ sagst. Dein Chef schon gar nicht. Auch wenn es jeder weiß.
Du sagst gar nicht „Nein“? Mmmh. Dann dürftest Du eine Ausnahme sein. Denn während wir uns über Bürokratie in der öffentlichen Verwaltung und Politik beschweren, ist der Vorschriften-, Regel- und Prozess-Overload in unseren Unternehmen weitgehend akzeptiert. Einige der Regeln sind von außen, also dem Gesetzgeber, vorgegeben. Aber das meiste ist hausgemacht. Und doch ist es mit dem Einhalten beziehungsweise Durchsetzen von Regel so eine Sache.
Hier ein paar Beispiele, die ich persönlich erlebt habe:
Da ist etwa der Kollege, der viele unbezahlte Überstunden macht, um Arbeit zu erledigen, die gar nicht seine ist. Er macht den Eindruck, kurz vor dem Burn-out zu stehen, doch wenn man ihn fragt, wieso er diese Dinge macht, die nicht seine Aufgaben sind, sagt er: „Es muss doch erledigt werden und niemand fühlt sich zuständig.“ Hierbei handelt es sich um einen Regelverstoß (Verstoß gegen das ArbZG), der vielleicht im Sinne der Manager ist. So muss man sich nicht darum kümmern, die Arbeit ordentlich jemandem zuzuweisen.
Ein anderes Beispiel sind die drei Entwickler, die eigenmächtig und außerhalb der Arbeitszeit einen Prototyp entwickeln, für den auf Wunsch des Bereichsleiters eigentlich eine externe Firma beauftragt werden sollte. Gefragt, weshalb sie das tun, bekomme ich die Antwort: „Wir haben das Know-how. Es hätte viel zu lang gedauert und wäre viel zu teuer geworden, die Software extern zu entwickeln.“ Als sie den Prototypen intern bekanntmachen, reagieren die Vorgesetzten zum Glück positiv. Doch es gibt Anfeindungen aus anderen Teams, weil die drei Entwickler ohne Auftrag, ohne Ticket einfach entwickelt haben, „worauf sie Lust hatten“.
Und abschließend noch die Geschichte des technischen Redakteurs, der die Dokumentation für das in der Entwicklung befindliche Produkt schreiben soll. Leider bekommt er nicht die Informationen, die er benötigt. Die Produktentwickler helfen ihm nicht, denn sie stehen unter Zeitdruck und haben die Vorgabe, alle Arbeitszeit in die Entwicklung zu stecken. Im aufwendig ausgearbeiteten Dokumentationsprozess ist dieser Fall gar nicht vorgesehen. Da stehen eine Menge notwendiger Eingangskriterien für ein Ticket; so etwas wie eine „Definition of Ready“. Doch kein einziges Ticket des Redakteurs erfüllt diese Kriterien. Würde sich der Redakteur an den vom GF vorgegebenen Prozess halten, würde er nichts tun. Das macht er natürlich nicht. Er verstößt gegen die Regeln, um irgendwie die Dokumentation zu erstellen.
Die drei Beispiele haben gemeinsam, sich nicht an die Regeln zu halten, um Schaden von der Firma abzuwenden oder etwas zu erreichen, was innerhalb der Vorschriften nicht erreichbar ist. Allerdings ist mindestens das erste Beispiel äußerst negativ für die betroffene Person. Hier lag ein klares Versäumnis der Vorgesetzten vor; ob bewusst oder unbewusst, kann ich nicht beurteilen.
Woher kommt wohl der schlechte Ruf des Ausdrucks „Dienst nach Vorschrift“? Ganz einfach: Wenn die Vorschriften immer gut wären, würde „Dienst nach Vorschrift“ regelmäßig herausragende Ergebnisse produzieren. Dienst nach Vorschrift ist aber gerade gut genug, um nicht gefeuert zu werden. „Ich mache jetzt Dienst nach Vorschrift“ ist eher eine Drohung als ein Versprechen. In zu vielen Fällen sind Regeln nicht zu Ende gedacht oder – was noch schlimmer ist – die Regeln sind gut gemacht, aber schlecht durchgesetzt.
In der Folge kommt es vor, dass Mitarbeiter, die produktiv arbeiten und Ziele erreichen möchten, nicht anders können, als Vorschriften, Regeln, Prozesse frei zu interpretieren, großzügig auszulegen oder sprichwörtlich „nachher um Entschuldigung, statt vorher um Erlaubnis zu bitten“.
Im Buch „The Captain Class“ nennt der Autor Sam Walker diese Verhaltensweise „Playing to the Edge of the Rules“. Für Walker ist das ein Kennzeichen eines „Elite Leaders“. Gemeint ist ein Anführer, kein Vorgesetzter. Ein Team Captain ohne formale Rolle. Und auch, wenn Walker über Sportmannschaften schreibt, denke ich, dieses „Playing to the Edge of the Rules“ lässt sich auf den Unternehmenskontext übertragen. Wer mit seinem Team Ziele erreichen will, für das Produkt und für die Firma, muss gelegentlich behindernde Regeln frei auslegen, verbiegen oder gar brechen. Doch Vorsicht: In einem Punkt versagt die Analogie. Walker spricht von Mannschaftssport. In diesen Sportarten gibt es immer einen Schiedsrichter, der neutral über die Regeleinhaltung wacht. Die neutrale Person haben wir in Unternehmen nicht.
Deshalb mein Rat an die Manager: Nehmt Eure Regeln und Prozesse unter die Lupe und sorgt für die Einhaltung. Wenn ihr dann auch noch offenes, ehrliches Feedback der Kolleginnen und Kollegen akzeptiert, könnt ihr herausfinden, ob Eure Vorschriften etwas taugen. Wer hingegen unscharfe Regeln und deren Einhaltung als Grauzone akzeptiert und Kritik unterbindet, darf sich nicht wundern, wenn die Mitarbeiterfrustration steigt, Ziele nicht erreicht werden, Mitarbeiter machen, was sie wollen, und anderes mehr.
Und alle Entwicklerinnen und Entwickler, die nicht darauf warten wollen, dass ihre Vorgesetzten darüber nachdenken, finden einige Tipps für das „Playing to the Edge of the Rules“ im TED-Talk „Plucky Rebels: Being Agile in an Un-agile Place“ (Mutige Rebellen). Einer dieser Tipps lautet: „Always cheat, always win.“ 😉
Erst Lesen, dann Hören
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(rme)