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Sammelklage: 288 Millionen US-Verbraucher gegen Amazon.com
Amazon.com muss sich einer Sammelklage im Namen von 288 Millionen US-Konsumenten stellen, die über den Marketplace eingekauft haben. Der Marketplace ist jener Teil der Online-Handelsplattform, in dem nicht Amazon selbst, sondern Dritte Waren feilbieten. Die Verbraucheranwälte werfen dem Konzern vor, durch Preisknebelung und hohe Gebühren die Preise zu treiben und dadurch den Käufern zu schaden.
Amazon hat versucht, die Zulassung als Sammelklage zu verhindern, unter anderem mit dem Argument, die Klägergruppe sei zu groß, die Bestpreisklausel abgeschafft und das Rechenmodell der Kläger unbrauchbar, zudem würden Dritthändler aufgrund Amazons Bedingungen manchmal auch Preise senken. Das verfahrensführende US-Bundesbezirksgericht hat die Sammelklage dennoch genehmigt und die Klageschrift veröffentlicht.
Die Vorwürfe
Sie beschreibt Amazon.com als dominanten Online-Händler, der große Marktmacht nicht nur im amerikanischen Online-Handel an sich, sondern auch über die Dritthändler im Marketplace ausübe. Deren Gebühren habe Amazon in nur fünf Jahren schrittweise um insgesamt 42 Prozent erhöht. Von jedem Dollar, den Kunden im Marketplace ausgeben, landeten durchschnittlich 27 Cent bei dem Konzern, nicht beim eigentlichen Verkäufer. Dadurch sei der Marketplace für Amazon weitaus profitabler als das Geschäft mit selbst verkauften Waren, wo Amazon auf schmale Margen setze. Die Händler seien vom Marketplace abhängig, etwa die Hälfte erwirtschafte mehr als 80 Prozent ihres Umsatzes dort; das nutze Amazon zum eigenen Vorteil aus, was gegen Wettbewerbsrecht verstoße, konkret drei Bestimmungen des Bundesgesetzes Sherman Act.
Die hohen Marketplace-Gebühren müssten am Ende die Kunden tragen. Denn Amazons Bestpreisklauseln gängelten die Händler, sodass diese ihre Waren auf anderen, günstigeren Online-Plattformen oder eigenen Webshops nicht zu niedrigeren Preisen anbieten dürften. Das Ergebnis sei weniger Wettbewerb und allgemein höhere Preise, zum Nutzen Amazons, aber zum Nachteil der Kunden. Die Klage fordert Entschädigung für alle US-Verbraucher, die nach dem 25. Mai 2017 mindestens fünf Produkte über den Amazon.com-Marketplace gekauft haben.
Wirrwarr an Bestimmungen
Ob die Vorwürfe stimmen, muss sich im Hauptverfahren zeigen. Dafür haben die Kläger Geschworene beantragt. Aus Amazon nicht erfolgreicher Eingabe gegen die Zulassung als Sammelklage geht vor allem eines hervor: die Sache ist kompliziert. Denn es wirken eine Reihe von Vertragsklauseln für Marketplace-Händler zusammen.
Ursprünglich hat Amazon ihnen verboten, anderswo günstigere Preise aufzurufen als im Amazon-Marketplace. Diese grobe Bestpreisklausel (Price Parity Provision, PPP) hat der Konzern nach eigenen Angaben „selten durchgesetzt“ und im März 2019 in den USA aufgehoben. Auch in der EU wendet Amazon sie demnach EU nicht mehr an.
Unverändert in Kraft sind allerdings andere Bestimmungen, wie Select
Competitor – Featured Offer Disqualification (SC-FOD), Amazon Standards for Brands (ASB), Marketplace Fair Pricing Policy (MFPP) samt Atypical Pricing –
Featured Offer Disqualification (AP-FOD), etwas namens WCP sowie, seit November 2021 eine Clarification to the Seller Code of Conduct (SCC).
FOD und Co
Bei SC-FOD geht es um das „Featured Offer“, den entscheidenden Platz an der Sonne: Ruft ein Kunde die Webpage für ein bestimmtes, verfügbares Produkt auf, scheint ein Händler als Anbieter direkt auf, selbst wenn mehrere Händler das selbe Ding feilbieten. Nur wenige Kunden klicken sich zu den anderen Anbietern durch, entsprechend wichtig ist diese Einstufung. Verlangt ein Marketplacehändler allerdings einen höheren Preis als Amazon ihn in ausgewählten anderen Online-Geschäften (select ccompetitors) erspäht, wird er disqualifiziert. Seit 2022 versucht Amazon nach eigenen Angaben, zu verhindern, dass ein günstigeres Angebot desselben Händlers auf einer anderen Webseite zur Disqualifikation im Marketplace führt.
Einen ähnlichen Effekt hat die AP-FOD-Klausel, wo „atypische“ Preise zur Disqualifikation führen. Sie ist Teil von MFPP, was Wucher bekämpfen solle. Zu MFPP gehört offenbar auch WCP, dessen Erklärung in der veröffentlichten Eingabe geschwärzt ist.
Mit ASB konzentriert sich Amazon demnach auf ausgewählte Markenprodukte, deren Preise viele Verbraucher als Referenz für das allgemeine Preisniveau eines Geschäfts heranzögen. Ist so ein Produkt günstig, glaubt der Kunde, dass wohl auch alle anderen Produkte günstig seien. Wie ASB genau angewandt wird, erklärt Amazon nicht, führt aber aus, dies erfolge „nicht automatisch oder mechanisch“.
Der SCC verlange von Händlern „faires und ehrliches Verhalten“. Im November 2021 wurde der SCC verschärft, um unlautere Scheingeschäfte zu bekämpfen: Manche Händler hätten Dritte dafür bezahlt, bestimmte Produkte im Marketplace zu bestellen. Daraufhin konnten sie Lobhuldigungen über das Produkt posten; vor allem aber reagierten Amazons Algorithmen auf die Käufe und empfahlen das Angebot weiteren Verbrauchern, die dann den falschen Eindruck erhielten, zahlreiche Andere hätten das Ding zu einem bestimmten Preis erworben. Mit Preisparität zu anderen Online-Shops habe dieser Aspekt der SCC nichts zu tun, erklärt Amazon.
Klasse könnte schrumpfen
Die Klage stützt sich zusätzlich auf informelle Aussagen, Anleitungen und Maßnahmen von Amazon-Mitarbeitern. Dagegen wendet Amazon ein, dass es sich, wenn überhaupt, um Einzelfälle von Mitarbeitern handle, die entgegen ihres Trainings und der Richtlinien agiert hätten. Solche Fälle seien individuell zu klären und einer Sammelklage nicht zugänglich.
Das Gericht hat die Sammelklage dennoch zugelassen. Damit geht es für Amazon um Milliarden. Es kann allerdings sein, dass das Gericht im Laufe des weiteren Verfahrens Teile der Klasse ausschließt, sodass es am Ende vielleicht nicht um die ganzen 288 Millionen Verbraucher geht, oder dass die Klasse geteilt wird und dann um unterschiedlich hohe Forderungen prozessiert wird. Zudem kann Amazon Rechtsmittel gegen die Zulassung als Sammelklage erheben.
Das Verfahren heißt Elizabeth De Coster et al v Amazon.com und ist am US-Bundesbezirksgericht für den Westen des US-Bundesstaates Washington, wo Amazons Firmenzentrale liegt, unter dem Az. 2:21-cv-00693 anhängig.
(ds)