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Verordnung zum Selbstbestimmungsgesetz: Dobrindt unter Druck
Am Freitag Morgen der vergangenen Woche kam die Überraschung: Der Bundesrat streicht Tagesordnungspunkt 57 – die umstrittene Verordnung zum Selbstbestimmungsgesetz. Damit sollten der frühere Geschlechtseintrag und seine Änderung dauerhaft ins Melderegister geschrieben werden. So wollte es das Bundesinnenministerium (BMI).
Was war passiert? Das BMI hatte kurz vor der Abstimmung noch ein „hektisch aufgesetztes Schreiben“ an die Bundesländer versandt, um eine Mehrheit zu sichern. Vergeblich.
„Offensichtlich hat die Bundesregierung kalte Füße bekommen, weil sie im Bundesrat aktuell keine Mehrheit für ihre Pläne findet“, kommentierte die Grünen-Politikerin Nyke Slawik. In grünen Bundesratskreisen kursiert die Behauptung, das CDU-geführte Hessen habe beantragt, den Punkt von der Tagesordnung zu nehmen.
Widerstand aus Community und Länderkammer
In der Woche vor der Abstimmung zeichnete sich bereits ab, dass man für die Verordnung keine Mehrheit bekommen würde. Zudem gab es heftige Kritik aus der Community und ihren politischen Interessenvertretungen. Auch der Familienausschuss des Bundesrates empfahl, die Verordnung abzulehnen: Sie sei „nicht erforderlich“ und missachte „den besonderen Schutzbedarf der betroffenen Personengruppe“. Über 260.000 Menschen unterschrieben eine Petition gegen das sogenannte „Sonderregister“.
Mit einem inoffiziellen Schreiben ohne Briefkopf, erstellt am 14.10.2025 mit dem Titel „251014_Folgen_einer_Ablehnung_der_Verordnung.docx“ hat das BMI davor gewarnt, dass man die Daten alle „händisch verarbeiten, für den Postversand vorsehen und entsprechend per Post an die Empfänger übermitteln müsste. Dort müssten die Daten dann entsprechend händisch wieder in die eigenen Systeme eingearbeitet werden, statt automatisiert übernommen werden zu können.“ Weiter werden Nachteile für die Betroffenen aufgelistet. An mehreren „Knotenpunkten“ könne nicht kontrolliert werden, ob „Listen“ von „SBGG-Betroffenen“ erstellt würden. Zudem werden die Länder vor einem „massiven Umbau“ und „hohen Kosten“ gewarnt.
Das Schreiben sollte die Bundesratsmitglieder offenbar zur Zustimmung bewegen. Stattdessen dürfte es einige Irritationen ausgelöst haben. Am Vorabend der Abstimmung fand der sogenannte „kleine Bundesrat“ mit einem Stimmungstest statt. Bei diesen „Kamin-Gesprächen“ treffen sich die Vertreter*innen der Länder, die bereits von ihren Bundesländern eine Empfehlung für das Votum im Gepäck haben.
Während Grüne und Linke in vielen Bundesländern mitregieren und sich darauf verständigt hatten, in ihren Ländern dagegen zu stimmen, war das Votum aus den Unionsfraktionen der Länder meist klar auf Zustimmung eingestellt. Es kam also bei vielen Ländern darauf an, wie die SPD sich positionieren würde. Das Beispiel NRW zeigt jedoch, dass Schwarz-Grün auch gemeinschaftlich dagegen stimmen kann und nicht alle dem Geist der Union auf Bundesebene folgen.
Hat die Landesregierung aus unterschiedlichen Parteien unterschiedliche Stimmen, dann enthält sich in der Regel das ganze Bundesland. Eine Enthaltung bedeutet eine fehlende Ja-Stimme. Davon brauchte es aber mindestens 35, um eine Mehrheit der insgesamt 69 Stimmen zu erreichen.
Es gab also viel Gesprächsbedarf am Kamin. Letztlich sollte das Thema vertagt werden und mit Zustimmung der SPD soll schließlich der Antrag von der CDU Hessen gekommen sein, den Punkt vorläufig von der Tagesordnung zu nehmen.
Demokratisch fragwürdiges Manöver
Das kurzfristige Schreiben des BMI ist mehr als nur ein taktischer Schachzug. Es wirft grundsätzliche Fragen über die Integrität demokratischer Prozesse auf. Denn was das Bundesinnenministerium hier versuchte, sieht aus wie ein klassischer „Chilling Effect“ – ein Einschüchterungsversuch gegenüber einem Verfassungsorgan.
Der Begriff stammt aus der Rechtswissenschaft. Ein Chilling Effect liegt vor, wenn staatliches Verhalten geeignet ist, Menschen oder Institutionen davon abzuhalten, ihre Rechte frei, kritisch oder unabhängig auszuüben. Also staatliches Handeln, das zwar nicht offen verbietet, aber eine abschreckende Wirkung auf die Wahrnehmung von Rechten entfaltet. Ein typisches Merkmal davon ist es, negative Konsequenzen aufzuzeigen, wenn das zu erwartende Ergebnis den eigenen Vorstellungen diametral entgegensteht.
Das Bundesverfassungsgericht warnte bereits im Volkszählungsurteil 1983 vor der Gefahr, dass Bürger*innen „nicht mehr frei von Furcht vor Beobachtung handeln“ und ihr Verhalten selbstzensieren.
Eine ähnliche Mechanik versuchte nun das BMI auf die Bundesländer anzuwenden: Durch sein Schreiben erzeugte es indirekten politischen Druck. Länder, die sich eventuell kritisch äußern wollten, wurden in die Defensive gedrängt. Sie riskierten, als „unverantwortlich“ oder „gegen Transschutz“ dargestellt zu werden – obwohl ihre Kritik berechtigt war.
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Systematisches Unterlaufen parlamentarischer Kontrolle
Das Vorgehen fügt sich in ein Muster ein: Viele zivilgesellschaftlichen Organisationen können sich noch an die 551 Fragen im Frühjahr erinnern, mit denen sich die Union im Bundestag nach der „politischen Neutralität“ von Organisationen wie den Omas gegen Rechts oder Greenpeace erkundigte. Sie lösten ein Gefühl bei einer engagierten Bevölkerung aus, sie waren eine Demonstration der Machtverhältnisse. Auch hier war ein deutlicher Chilling Effect wahrzunehmen. Inzwischen hört man zunehmend, dass Förderanträge in gendersensibler Sprache nicht mehr akzeptiert werden und der Verfassungsschutz soll das Programm „Demokratie leben“ durchleuchten.
Beim Selbstbestimmungsgesetz versuchte das BMI bereits unter Nancy Faeser während der Ampel-Regierung, eine automatisierte Weitergabe sensibler Daten an Sicherheitsbehörden durchzusetzen – und scheiterte im Parlament. Die Pläne wurden als europarechts- und verfassungswidrig gesehen. Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte übte heftige Kritik.
Nun versucht CSU-Minister Dobrindt eine ähnliche Schikane für die Betroffenen per Verordnung, also ohne parlamentarische Debatte. Und da der Widerstand in der Länderkammer offensichtlich zu groß wurde, wollte man mit besagtem Brief über die Folgen einer Ablehnung dem eigenen Anliegen zum Erfolg verhelfen.
Auch diese Methode ist politisch fragwürdig und wirft die Frage auf, ob mit dem Brief die erforderliche Neutralität gewahrt wurde. Die Exekutive darf die Freiheit politischer Willensbildung nicht durch Druck, Manipulation oder Angstkommunikation unterlaufen. Wenn das BMI den Bundesrat durch kurzfristige, einseitige Schreiben beeinflusst, entsteht ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen Regierung und Ländern – ein faktischer Druck auf die freie Entscheidung eines Verfassungsorgans.
Das widerspricht dem Demokratieprinzip. Es ist ein Eingriff in die institutionelle Autonomie des Bundesrats – ein Chilling Effect auf Verfassungsorgan-Ebene.
Schon 2019 gab es ein ähnliches Vorgehen des BMI, damals noch unter der Führung von Horst Seehofer (CSU). Das Gesetz zur sogenannten „Dritten Option“ mit dem Geschlechtseintrag „divers“ war gerade in Kraft getreten. Das BMI stellte fest, dass diese neue Regelung auch von trans* Personen genutzt wurde, obwohl es nach deren Vorstellung nur für intergeschlechtliche Menschen gedacht war. Damals versandte das BMI ebenfalls ein Rundschreiben. Inhaltlich wurde auch hier mit Angstkommunikation gearbeitet, Ärzt*innen wurde unter anderem Strafverfolgung angedroht, wenn sie falsche Atteste ausstellen würden. Damals wurde sogar ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, welches zum Ergebnis kam, es handele sich um einen „Chilling Effect“.
Der Stil des BMI ist also keineswegs neu. Autoritär. Druck. Einschüchternd.