Künstliche Intelligenz
Virtual Reality in den 80ern: Ohne Videospielcrash gäbe es heute keine VR-Brille
Die Geschichte der Virtual Reality ist voller Kuriositäten, spannender Storys und Pionieren, die einzigartiges geleistet haben. Doch die wohl wichtigste Zeit für die Entwicklung dieses Mediums waren die Achtzigerjahre. In diesem Jahrzehnt nahm die Geschichte der Virtual Reality eine entscheidende Wendung – paradoxerweise ausgelöst durch den Zusammenbruch der Videospielindustrie. Ohne diesen Crash und die daraus resultierenden Entwicklungen hätte es möglicherweise niemals eine Oculus Rift oder Valve Index gegeben.
LEEP: Ein Tüftler überzeugt die NASA
Nach den ersten immersiven Experimenten in den 1960er Jahren rund um Morton Heiligs „Sensorama“ und Ivan Sutherlands „The Damocles Sword“ wurde es lange still um die Erforschung virtueller Realitäten. Erst in den Achtzigern nahm die Entwicklung wieder Fahrt auf, als die NASA ihr Interesse für innovative Zukunftstechnologien neu entdeckte. Den Stein ins Rollen brachte 1980 der Fotograf Eric Howlett mit seinem „LEEP Panoramic Stereo Photography System“ – bestehend aus einer Weitwinkelkamera und einem Betrachtungsgerät mit bis zu 140 Grad Sichtfeld.
Obwohl Howlett mit seiner Erfindung auf der Photographic Society of America-Konferenz Aufsehen erregte, konnte er etablierte Unternehmen wie Kodak nicht überzeugen. Der Versuch der Eigenproduktion scheiterte ebenfalls. Erst als Mitte der Achtziger ein NASA-Ingenieur von der Erfindung erfuhr, wurde LEEP Realität und weckte später auch das Interesse von VPL Research – einem der wichtigsten Unternehmen der VR-Geschichte.
Vom Gartenhandschuh zum Datenhandschuh
Parallel dazu arbeitete MIT-Absolvent Thomas Zimmerman an der Umsetzung virtueller Musikinstrumente und entwickelte ein System zur Messung von Fingerbiegungen. Sein Prototyp bestand aus einem simplen Gartenhandschuh mit hohlen Röhrchen an jedem Finger, ausgestattet mit LED-Lichtern und Fototransistoren. Je stärker sich ein Finger bog, desto weniger Licht drang durch die Röhrchen. 1982 reichte Zimmerman ein Patent für seinen optischen Flex-Sensor ein.
Zimmermans Prototyp war allerdings nicht der erste jemals entwickelte Datenhandschuh. Bereits 1977 konzipierten Daniel J. Sandin und Tom DeFanti den „Sayre Glove“ auf einem ähnlichen Prinzip. Dieser schaffte es aber nie über einen Prototypstatus hinaus. Zimmerman hingegen hatte in den folgenden Jahren noch einiges mit seinem Gartenhandschuh vor.
Über seine Programmierkollegin Nancy Mayer, Ehefrau des ATARI-Mitbegründers Steve Mayer, gelangte er schließlich zu ATARI. Das Forschungslabor des Spielegiganten beschäftigte sich damals mit der Zukunft digitaler Unterhaltungsmedien und bot Zimmerman 10.000 US-Dollar für die Patentrechte an seinem Datenhandschuh, doch er lehnte ab.
Der Videospielcrash als Wendepunkt
1983 traf die Videospielkrise ATARI hart und zwang das Unternehmen, sein Forschungslabor zu schließen. Zimmerman konzentrierte sich fortan auf die Entwicklung von Voice-Synthesizern, sein Flex-Sensor verschwand in der Schublade. Auch Jaron Lanier, der für ATARI das innovative Musikspiel „Moondust“ entwickelt hatte, verlor durch den Crash seinen Job.
Lanier nutzte die Lizenzeinnahmen aus „Moondust“, um an einer visuellen Programmiersprache zu forschen – Code sollte durch Zeichen, Symbole und Sounds ersetzt werden. Damit wollte Lanier komplexe Programmierungen auch für Nicht-Informatiker zugänglich machen. Das Projekt war seiner Zeit allerdings voraus: Die damaligen Monitore waren schlichtweg zu klein für die Darstellung.
Die Geburt von VPL Research
1984 lernten sich die Musikliebhaber Lanier und Zimmerman schließlich auf einem Stanford-Konzert kennen. Für Lanier schien Zimmermans Flex-Sensor das ideale Eingabegerät für seine visuelle Programmiersprache zu sein. Gemeinsam gründeten sie VPL Research und arbeiteten mit einem Team an der technischen Umsetzung ihrer Visionen. VPL Research leistete bahnbrechende Pionierarbeit: Lanier prägte 1987 erstmals den Begriff „Virtual Reality“, entwickelte seine Programmiersprache für VR-Anwendungen unter dem Namen „Body Electric“ weiter und schuf mit der Rendering-Engine „Isaac“ die ersten virtuellen Avatare.
Aus Zimmermans Gartenhandschuh wurde der „Z-Glove“ mit Ultraschall-Tracking, der erstmals Handpositionen im dreidimensionalen Raum erkannte. Die nächste Iteration, der „Data Glove“, nutzte magnetische Sensoren und Lichtwellenleiter für präzisere Messungen. Die NASA erkannte das Potenzial sofort.
Die Entstehung der ersten kommerziellen VR-Brille
Die US-Raumfahrtbehörde entwickelte 1985 das „Virtual Environment Display System“ – ein Weitwinkel-Anzeigesystem mit 120-Grad-Sichtfeld, montiert auf einem herkömmlichen Motorradhelm mit Bewegungssensoren. Damit sollten Ingenieure ihre Modelle im dreidimensionalen Raum betrachten können – ein Anwendungsgebiet, das für aktuelle VR- und Mixed-Reality-Headsets wie die Apple Vision Pro oder die HTC Vive Focus Vision im B2B-Segment zum Standardrepertoire gehört.
Ab 1986 half VPL Research bei der Weiterentwicklung zu „VIEW“, das auf Howletts LEEP-System basierte und virtuelle Simulationen sowie Robotersteuerung in Echtzeit ermöglichen sollte. VPL Research nahm den Fuß nicht vom Gas und stellte schon kurz nach dem Data Glove die nächste Innovation vor. Aus dem Handschuh wurde ein ganzer Anzug: Der „Data Suit“ konnte Bewegungen von Armen, Beinen und Rumpf erfassen und kam vor allem als Motion Capturing-Anzug bei Filmdrehs zum Einsatz.
Ein Jahr später stellte VPL die erste kommerzielle VR-Brille vor: das aus heutiger Sicht kurios benannte „VPL EyePhone HRX“. Die VR-Brille sollte vorrangig bei Unternehmen und in der Forschung eingesetzt werden. Kein Wunder, denn selbst für die technikaffinsten Privatanwender wäre der Anschaffungspreis von 49.000 US-Dollar – inflationsbereinigt entspricht das heute etwa 140.000 US-Dollar – eine kaum zu nehmende Hürde gewesen. Für den als Eingabegerät noch einmal weiterentwickelten Data Glove veranschlagte VPL weitere 9000 US-Dollar.
Das Ende einer Ära
Um die VR-Brille betreiben zu können, benötigten Nutzer für die damalige Zeit enorm leistungsfähige Rechner. Für ein Komplettset, bestehend aus VR-Brille, Datenhandschuhen und Computer, beliefen sich die Anschaffungskosten auf etwa 250.000 US-Dollar. Das entspricht einem heutigen Wert von etwa 700.000 US-Dollar. Die Geräte waren allerdings noch lange nicht mit heutigen Standards vergleichbar und litten bei aller Innovation unter den technischen Limitierungen der damaligen Zeit.
Das „EyePhone“ hatte eine Auflösung von 320 x 240 Pixeln pro Auge und schaffte es lediglich auf fünf bis sechs Bilder pro Sekunde. Zum Vergleich: Damalige TV-Geräte erreichten bereits 30 Bilder pro Sekunde, heute gängige VR-Brillen wie Valve Index, Meta Quest 3 oder die Playstation VR 2 arbeiten mit Bildraten von bis zu 144 Hz und die Apple Vision Pro löst in 4K auf. Trotz der (theoretisch) beeindruckenden Technologie gab es kaum lukrative Anwendungsbereiche, und der Konsumentenmarkt blieb aufgrund der hohen Fertigungskosten unerreichbar. Immerhin: 1989 brachte es eine abgespeckte DataGlove-Version als gehyptes Nintendo-Zubehör zu zweifelhaftem Ruhm.
Für Investoren wurde VPL zunehmend uninteressant und musste 1990 – kurz vor dem ersten großen VR-Hype im Entertainmentbereich – Konkurs anmelden. Heute gilt Gaming als der große Türöffner für VR auf dem Konsumentenmarkt. Ironischerweise legte ausgerechnet der Videospielcrash von 1983 den Grundstein für die moderne Virtual Reality. Ohne die Schließung der ATARI-Forschungslabore hätten Lanier und Zimmerman möglicherweise nie zusammengefunden, und VPL Research hätte mit ihrer Forschung nie die nötige Pionierarbeit für heutige Entwicklungen leisten können. Die NASA setzt heute übrigens immer noch auf Virtual Reality für das Astronautentraining. Zum Einsatz kommen dabei VR-Brillen von Meta, die im Handel für rund 500 Euro zu haben sind und nicht mal mehr einen Rechner für den Betrieb benötigen.
(joe)