Entwicklung & Code
Webentwicklung ohne Grenzen Teil 3: Der Praxis-Guide für barrierefreies Design
Barrierefreiheit heißt nicht nur, konform zu Gesetzen und Richtlinien zu sein und technische Maßnahmen umzusetzen. Vielmehr ist ein Perspektivwechsel nötig, damit Entwicklerinnen und Entwickler gemeinsam mit den Nutzern zu mehr Teilhabe beitragen. Darum geht es nun im letzten Teil der Artikelserie zu barrierefreiem Design.
Marie-Christin Lueg arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Rehabilitationssoziologie der TU Dortmund. Ihr Schwerpunkt liegt im Bereich digitale Teilhabe und partizipative Forschung.
Nele Maskut ist Lehramtsanwärterin an einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Ein besonderes Anliegen ist ihr die Förderung der digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderung.
Was bedeutet digitale Barrierefreiheit für alle?
Die vier Grundprinzipien Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit helfen dabei, einzelne Funktionen in der Webentwicklung zu implementieren und zu prüfen, etwa die formale und sprachliche Gestaltung einer Webseite (siehe Teil 2 der Serie). Content-Management-Systeme (CMS) und Developer-Tools vereinfachen es, Barrierefreiheit gemäß der in Teil 1 beschriebenen aktuell geltenden Richtlinien umzusetzen. Das sind wichtige Grundvoraussetzungen digitaler Barrierefreiheit. Um Softwareprodukte konsequent für alle zugänglich und nutzbar zu gestalten, plädieren wir dafür, noch einen weiteren Schritt zu wagen und die Perspektiven und Wünsche der Nutzerinnen und Nutzer stärker einzubeziehen.
Individuelle Herausforderungen – individuelle Lösungen!
In der realen Nutzung unterscheiden sich individuelle Bedürfnisse nicht nur starr zwischen verschiedenen Menschen und Usergruppen. Auch die Bedürfnisse einer einzelnen Person können beispielsweise situations- oder tagesformabhängig variieren. Hier bedarf es also individueller und flexibel anpassbarer Lösungen. Eine besondere Herausforderung besteht in der Umsetzung von Barrierefreiheit für Menschen, die Schwierigkeiten damit haben, komplexe (sprachliche) Inhalte und Strukturen zu verstehen. Das betrifft nicht nur Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und Lernschwierigkeiten, sondern auch solche mit Fluchterfahrungen, mit geringer Lese- und Schreibkompetenz, mit Wahrnehmungsbeeinträchtigungen oder mit altersbedingten Einschränkungen. Diese Personengruppen benötigen an ihre individuellen Bedürfnisse angepasste, vereinfachte Webseiten. Um das zu verdeutlichen, möchten wir Ihnen gerne drei Personen vorstellen:
(Bild: Freepik)
Paul arbeitet als Projektmanager. Als Mensch im Autismus-Spektrum empfindet er Webseiten als herausfordernd, die zu viele Sinneseindrücke gleichzeitig ansprechen und die von ihm verlangen, sich auf jeder Webseite auf ein neues Layout einzulassen. Besonders ablenkend sind für ihn schmückende Bilder und Werbeinhalte. Hier wünscht er sich die Möglichkeit, solche Inhalte nach einem kurzen Check auszuschalten und eine Ansicht des Textes einzustellen, die auf allen Websites gleich aussieht.
(Bild: Freepik)
Julia besucht in ihrer Freizeit gerne Kochseiten im Internet. Als Mensch mit Lernschwierigkeiten versteht sie nicht immer alle Zutaten und Anweisungen. Sie verrutscht beim Lesen häufig in der Zutatenliste und kann viele Rezepte nicht zubereiten. Sie wünscht sich, zu einzelnen Wörtern zusätzliche Informationen abrufen zu können, um beispielsweise alternative Erklärungen oder Bilder zu erhalten. Zudem möchte sie eine Hilfestellung, um die Zeile wiederzufinden, die sie zuletzt gelesen hat.
(Bild: Freepik)
Enrique studiert als internationaler Student an einer deutschen Universität. Ein großer Teil der Informationen auf der Website der Universität sind mindestens ins Englische übersetzt, sodass er sie verstehen kann. Immer wieder stößt er allerdings auf deutschsprachige Webseiten oder Passagen. Er wünscht sich die Möglichkeit, Texte direkt auf der Website zu übersetzen und bei ihm noch unbekannten Wörtern Erklärhilfen nutzen zu können.
Die aufgeführten Personen stehen beispielhaft für viele weitere Menschen, deren Bedürfnisse und Individualität bei der Umsetzung von digitaler Barrierefreiheit mitbedacht werden sollten. Denn wie bereits in Teil 1 ausführlich diskutiert, gilt auch in diesem Fall: Alle Personen profitieren von zusätzlichen Einstellungen der Barrierefreiheit – von den Leserinnen und Lesern mit Lernschwierigkeiten über Durchschnittsbesucherinnen und -besucher bis hin zu den Webentwicklerinnen und -entwicklern selbst.
Individuelle Anpassung von Websites
Mittlerweile existieren einige Software-Tools, die Websites an die individuellen Bedürfnisse von Menschen anpassen. Am bekanntesten dürften Overlay-Tools sein, die in bestehende Websites integrierbar sind. Die Tools können Websites für viele Menschen besser zugänglich und nutzbar machen. Overlay-Tools sind aber selbst nicht immer barrierefrei umgesetzt und somit nicht immer kompatibel mit genutzten Hilfsmitteln, beispielsweise Screenreadern. Zudem unterscheiden sich die Tools untereinander hinsichtlich ihrer Platzierung und Werkzeuge, sodass sich Nutzerinnen und Nutzer bei jeder Website neu mit dem entsprechenden Overlay-Tool auseinandersetzen müssen. Das kann zeitaufwendig sein und lenkt von den eigentlichen Inhalten der Webseite ab. Mehr Informationen zu Overlay-Tools stehen hier zur Verfügung: BITVTest (2022), Barrierekompass (2022) oder bfit-bund (2024).
Userperspektive: Easy Reading
Ein anderer Ansatz wurde bei der Entwicklung des Softwaretools Easy Reading in einem Forschungsprojekt gemeinsam mit Menschen mit Lernschwierigkeiten gewählt. Der Prototyp der Easy-Reading-Toolbox steht als Browser-Add-on für Mozilla Firefox und Google Chrome zur Verfügung und kann kostenfrei über die Projektwebsite heruntergeladen werden. Die Hilfen sind auf jeder beliebigen Internetseite einsetzbar und ermöglichen so eine userzentrierte Steuerung der Anpassungen. Aber was bedeutet das genau?
Nutzerinnen und Nutzer können mit den verschiedenen Funktionen prinzipiell jede beliebige HTML-basierte Webseite an ihre aktuellen Unterstützungsbedürfnisse anpassen. Da die Anpassungen immer nur für die aktuelle Browseransicht gelten, können sie zu jeder Zeit zum ursprünglichen Text und zur Originalansicht zurückkehren. Inhalte gehen durch die Anpassungen nicht verloren, wie das etwa bei der Übersetzung in Leichte Sprache geschieht, die nur für bestimmte Informationen zur Verfügung steht. Die Hilfen in Easy Reading sind in vier Funktionsbereiche unterterteilt: Lesehilfen, Erklärhilfen, Gestaltungshilfen und Übersetzungen (siehe Abbildung 1).
Eine Übersicht über die Funktionen von Easy Reading (Abb. 1).
Screenshot der Desktopversion von Easy Reading. Die Funktionen Leselineal und Symbolsuche sind aktiviert (Abb. 2).
Screenshot der mobilen Version von Easy Reading. Die Funktionen Leselineal, Zeilenabstand sowie Farbe ändern und Übersetzung sind aktiviert (Abb. 3).
Easy Reading setzt grundsätzlich nicht voraus, dass eine Website barrierefrei umgesetzt ist. Das Add-on funktioniert aber am zuverlässigsten, wenn die Webseiten standardkonform in HTML5 implementiert sind.
Das Softwaretool Easy Reading wurde im Rahmen eines bereits abgeschlossenen Forschungsprojekts als Prototyp entwickelt, sodass einige Funktionen aufgrund der Weiterentwicklung technischer Standards nicht mehr korrekt ausführbar sind. Der Code des Easy-Reading-Frameworks wurde mit Ende des Projekts als Open-Source-Repository auf GitHub veröffentlicht. Die Community ist herzlich eingeladen, sich an der Weiterentwicklung zu beteiligen.
Partizipation in der Softwareentwicklung – wie geht das?
Wie ist es möglich, Bedürfnisse und Barrieren über gesetzliche Richtlinien hinaus zu identifizieren und zu beachten – insbesondere, wenn der Kontakt und die Erfahrung mit Menschen mit Behinderungen fehlen? Wie gelingt es zu prüfen, welche Hilfen eine Webseite bieten sollte, um für möglichst viele Menschen zugänglich zu sein?
Die Orientierung an den Erfahrungen und Bedürfnissen der Endnutzerinnen und -nutzer spielt eine entscheidende Rolle. Häufig ist die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen bei der Konzeption und Entwicklung von neuen Technologien und technischen Systemen jedoch nur auf einzelne Schritte beschränkt. Sie werden ganz am Anfang eines Projekts befragt oder in Usability-Tests zur Evaluation des Endprodukts [1, 2] eingebunden. Ein erfolgreicher Entwicklungsprozess sollte die Perspektive der betreffenden Usergruppe jedoch fortlaufend einbeziehen, um individuelle Herausforderungen und Bedürfnisse möglichst früh und über den gesamten Prozess aufzudecken und zu berücksichtigen. Sogenannte partizipative Projekte beteiligen die Zielgruppe, das heißt, die unmittelbar von den Forschungs- und Entwicklungsergebnissen beeinflussten Personen, konsequent und bei jedem Forschungs- und Entwicklungsschritt gleichberechtigt [3].
Dass sich partizipative Projekte lohnen, zeigt sich unter anderem an Easy Reading: Durch konsequente gemeinsame Entwicklung und Testung des Easy-Reading-Systems mit Menschen mit Lernschwierigkeiten sind Funktionen entstanden, die den konkreten Bedürfnissen der Zielgruppe gerecht werden und ebenso Vorteile für weitere Personen bieten. So können individuelle Lösungen zur Verbesserung der Zugänglichkeit für bis dahin noch zu wenig berücksichtigte individuelle Bedürfnisse geschaffen werden.
Menschen mit Behinderungen in der Softwareentwicklung
Die stärkere Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an Softwareentwicklung ist notwendig, damit gut nutzbare Produkte für eben diese Personengruppe entstehen. Einige Einrichtungen und deren Angebote setzen sich aktiv für die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen ein. Wer Fragen zur barrierefreien Umsetzung von Websites hat, seine Website auf Barrierefreiheit prüfen lassen möchte oder Interesse an einer Zusammenarbeit hat, kann diese Einrichtungen kontaktieren.
In Deutschland sind vor allem die PIKSL-Labore als positives Beispiel hervorzuheben. Ihr Ziel ist es, Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenzubringen und darüber Inklusion und innovative Ideen zu fördern. Derzeit richten PIKSL-Labore an zwölf Standorten Workshops für Menschen mit und ohne Behinderungen aus, um Medienkompetenzen und digitale Teilhabe zu stärken. Zusätzlich bieten sie Beratungen zur Umsetzung von Barrierefreiheit sowie Prüfungen von Produkten auf ihre Verständlichkeit an. Mehr Informationen zu den Angeboten sind auf der Website zu finden.
Ausblick: Barrierefreiheit für alle
Die Artikelserie „Webentwicklung ohne Grenzen“ hat das Ziel, einen Überblick über die digitale Barrierefreiheit zu schaffen. Die selbstverständliche barrierefreie Umsetzung von Websites stellt dabei nicht nur eine notwendige, sondern auch eine lohnenswerte Herausforderung dar.
Dabei ist es unerlässlich, Barrierefreiheit als fortlaufenden Prozess zu betrachten, in den Menschen mit Behinderungen eingebunden sind. Wie andere Aspekte einer Webseite oder einer digitalen Anwendung sind auch die Werkzeuge zur Umsetzung der Barrierefreiheit kontinuierlich zu überprüfen und zu verbessern – insbesondere, wenn neue Technologien eingesetzt und neue Inhalte hinzugefügt werden. Denn nur so ist der Aufwand, der sich aus der Umsetzung von Barrierefreiheit ergibt, profitabel und kommt jeder Person nachhaltig zugute.
Barrierefreie Websites und zugängliche digitale Anwendungen ermöglichen es allen Menschen, unabhängig von ihren Behinderungen, gleichberechtigt an der digitalen Welt teilzuhaben. Für Entwicklerinnen und Entwickler bedeutet das, dass sie die Gruppe der Personen, die auf digitale Inhalte zugreifen, maßgeblich erweitern können – vorausgesetzt, dass sie potenzielle Bedürfnisse von Nutzerinnen und Nutzern kennen und ihnen mit barrierefreien Lösungen entgegenkommen.
Literatur
- Dirks, S. (2019). Empowering Instead of Hindering – Challenges in Participatory Development of Cognitively Accessible Software. In: Antona, M., Stephanidis, C. (eds) Universal Access in Human-Computer Interaction. Theory, Methods and Tools. HCII 2019. Lecture Notes in Computer Science(), vol 11572. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-030-23560-4_3
- Heumader, P., Edler, C., Miesenberger, K., & Wolkerstorfer, S. (2018). Requirements Engineering for People with Cognitive Disabilities – Exploring New Ways for Peer-Researchers and Developers to Cooperate. Computers Helping People with Special Needs, 439–445. doi:10.1007/978-3-319-94277-3_68
- Hartung, S., Wihofszky, P. & Wright, M. (2020). Partizipative Forschung. Ein Forschungsansatz für Gesundheit und seine Methoden. Springer: Wiesbaden.
(mai)