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Wendung bei Chatkontrolle: Deutschland kann sich nicht auf Zustimmung einigen


Überraschende Wendung bei der Chatkontrolle: Entgegen bisheriger Annahmen konnte sich die Bundesregierung auf keine gemeinsame Linie verständigen, sodass auch die entscheidende Mehrheit für einen Beschluss im EU-Rat in der kommenden Woche nicht zustande kommt. Erstmals äußert sich zudem die Union kritisch zu dem Vorhaben.

Keine gemeinsame Linie gefunden

Noch bis gestern hatte es so ausgesehen, als wolle das Bundesinnenministerium das Bundesjustizministerium mit einem vermeintlichen Kompromissvorschlag zu einer Zustimmung zur geplanten anlasslosen Überwachung von Messenger-Diensten drängen. Nur einen Tag später kam jedoch die überraschende Wende: Das SPD-geführte Bundesjustizministerium blieb seiner bereits in der Ampel-Koalition festgelegten Linie treu und ließ sich auch durch den vom unionsgeführten Innenministerium vorgelegten Kompromissvorschlag, Nachrichten ausschließlich nach bereits bekanntem Material zu durchsuchen, nicht von einer Abkehr überzeugen. Durch die ausgebliebene Einigung fehlt den Befürwortern der Chatkontrolle nun die erforderliche Mehrheit im Rat der Europäischen Union, damit dieser dem Vorhaben in der kommenden Woche zustimmen kann.

Gesetzentwurf muss endlich zurückgezogen werden

Der Digitalrechtsaktivist Patrick Breyer wertet das Scheitern der Zustimmung als großen Erfolg für die Bürgerrechtsbewegung und fordert die EU-Kommission auf, den seiner Einschätzung nach „seit Jahren im Rat nicht mehrheitsfähigen und offensichtlich auch irreparablen Gesetzentwurf jetzt endlich komplett zurückziehen und stattdessen den Alternativvorschlag des Europäischen Parlaments aufgreifen, der wirksamen Kinderschutz ohne Massenüberwachung ermöglicht“. Dazu zählen für den ehemaligen Abgeordneten des Europäischen Parlaments für die Piratenpartei Deutschland sicherere Apps durch ‚Security by Design‘, eine proaktive Säuberung des Internets und schnelle Löschpflichten für illegale Inhalte.

Ablehnende Haltung wächst

In den vergangenen Tagen haben sich zunehmend verschiedene Organisationen und Verbände ablehnend zu dem Thema geäußert. Der Vorstand des IT-Branchenverbands eco, Klaus Landefeld, bezeichnete das Vorhaben gegenüber Netzpolitik.org als „total unausgegoren und technisch nicht tragfähig“. Für ihn verlange die EU-Kommission als treibende Kraft vor allem technisch Unmögliches. Besorgniserregend sei vor allem die hohe Fehlerquote der KI-Systeme, die für das Scannen von Nachrichten eingesetzt werden sollen und deren Schwächen der Verband in eigenen Tests bestätigt haben will. Nach Landefelds Einschätzung funktionieren die Systeme in ihrem derzeitigen Entwicklungsstand nicht in der erforderlichen Qualität und erzeugen zu viele Fehler und Falschmeldungen. Bereits in der Vergangenheit hatte Aktivist Patrick Breyer darauf hingewiesen, dass die Ermittlungsbehörden durch diese bereits heute schon an ihrer Belastungsgrenze angekommen seien. Das Bundeskriminalamt (BKA) soll dabei in Falschmeldungen regelrecht „ertrinken“, da bereits bei einer Fehlerrate von nur 0,1 Prozent angesichts der täglich in der EU versendeten und empfangenen Milliarden Nachrichten Millionen falscher Alarme entstehen würden.

Landefeld stellt darüber hinaus die generelle technische Umsetzbarkeit infrage, die bislang ungeklärt sei. Daran ändere auch der von Dänemark, das derzeit den Ratsvorsitz in der Europäischen Union innehat, eingebrachte und seiner Ansicht nach „verschlimmerte Ansatz“ nichts. Zudem kritisiert er, dass durch das Scannen auch private Fotos oder Familienbilder in Datenbanken und KI-Systeme gelangen könnten.

Kinderschutzbund sieht auch Privatsphäre von Kindern in Gefahr

Ähnlich äußert sich der Kinderschutzbund, der die Chatkontrolle bereits seit Längerem ablehnt und stattdessen von der Bundesregierung wiederholt „zielgerichtete Maßnahmen statt anlassloser Massenüberwachung“ im Kampf gegen sexualisierte Gewalt fordert. Kinderschutz müsse, so der Verband, mit Kinder- und Grundrechten vereinbar bleiben. Der mit rund 50.000 Einzelmitgliedern größte Verband zum Schutz von Kindern weist zudem darauf hin, dass der Austausch entsprechender Inhalte meist nicht über Messenger-Dienste, sondern über File-Hoster erfolge. Auch deshalb lehnt der dieser die Chatkontrolle ab, da sie nicht zuletzt auch die Privatsphäre von Kindern verletzen würde. Elena Frense, Fachreferentin für Medien und Digitales, forderte gegenüber Netzpolitik.org stattdessen, dass die anlassbezogene Ermittlungsarbeit unter Nutzung bestehender Befugnisse ausgebaut werden müsse.

Petition mit massivem Erfolg

Eine gestern dazu auf Campact gestartete Petition verzeichnete bis heute Morgen bereits über 240.000 Unterschriften gegen die von der EU-Kommission geplante Überwachung.

Auch Union übt (leise) Kritik

Unter dem wachsenden öffentlichen Druck sieht sich inzwischen auch die Union zu vorsichtiger Kritik veranlasst. Am Dienstagnachmittag erklärte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Jens Spahn, in einer Pressekonferenz, dass es eine anlasslose Kontrolle von Chats mit der Union nicht geben werde. Diese Aussage überrascht insofern, als das unionsgeführte Bundesinnenministerium bis gestern noch versucht haben soll, das SPD-geführte Bundesjustizministerium zu einer Zustimmung zum Kompromissvorschlag zu bewegen. Nun scheint sich dort jedoch ein Meinungswandel abzuzeichnen. Für Spahn wäre eine Chatkontrolle „als würde man vorsorglich mal alle Briefe öffnen und schauen, ob da etwas Verbotenes drin ist. Das geht nicht, das wird es mit uns nicht geben“, so der Unionspolitiker.

Zurückhaltender äußerte sich hingegen das Innenministerium, wo eine finale Positionierung zum aktuellen Verordnungsentwurf „noch nicht abgeschlossen“ sei. Eine Sprecherin erklärte, „auch wenn Jens Spahn sich gegen die Chatkontrolle ausspricht, entscheiden letztendlich BMI und BMJ über die Positionierung der Bundesregierung“. Dennoch dürften die ersten Gegenstimmen in der Union aufhorchen lassen. Dass Spahn mit seiner Haltung nicht alleinsteht und der öffentliche Druck weiter zunimmt, zeigt sich auch daran, dass sich inzwischen der bayerische Digitalminister Fabian Mehring (Freie Wähler) sowie der CSU-Europaabgeordnete Christian Doleschal gegen die geplante Überwachung ausgesprochen haben.



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