Künstliche Intelligenz

Nach Motorradunfall: Dieser Mann soll bald Roboterarm mit Gedankenkraft steuern


Ein 25-jähriger Deutscher hat als erster Querschnittsgelähmter in Europa eine Gehirn-Computer-Schnittstelle eingesetzt bekommen. Der fünfstündige Eingriff fand vor wenigen Wochen am Universitätsklinikum der Technischen Universität München (TUM) statt und ist Teil der Forschungsstudie „Künstliche Intelligenz für Neurodefizite“. Mithilfe der Schnittstelle soll Michael Mehringer zunächst lernen, allein durch seine Gedanken einen Computercursor zu bewegen und Mausklicks zu setzen, und später auch einen Roboterarm zu steuern, um Gegenstände zu greifen.

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„Die Implantation war erfolgreich, wir haben Signale von allen Elektroden“, sagt Bernhard Meyer, Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie, der die Schnittstelle eingesetzt hat. „Und der Patient ist sehr motiviert, sodass wir nach der Einheilphase sehr rasch mit dem Recording angefangen haben“, ergänzt er. Michael Mehringer hilft nun dabei, KI-Algorithmen darauf zu trainieren, den Zusammenhang zwischen gedachten Bewegungen und den dabei entstehenden Nervenzellsignalen zu erkennen.



Prof. Simon Jacob mit Michael Mehringer

(Bild: Kathrin Czoppelt / TUM Klinikum)

Dafür beobachtet der Proband die Bewegung eines Cursors auf dem Bildschirm und soll sich vorstellen, ihn zu bewegen, erklärt die Biomediziningenieurin Melissa Zavaglia vom Institut für Robotik und Maschinenintelligenz München an der TUM. Die Forschenden können aus den neuronalen Signalen schon recht gut ablesen, welche Bewegungen er sich vorstellt.

Sobald das Training der Decodier-Software abgeschlossen ist, sollen „in naher Zukunft“ Echtzeit-Experimente folgen, bei denen der Cursor auf gedachte Bewegungen reagiert. „Wir hoffen, dass wir seine Gehirnsignale später auch zur Steuerung eines Roboters für Aktivitäten des täglichen Lebens nutzen können. Wir werden verschiedene Tests durchführen und sehen, was für ihn am besten funktioniert, ob er dabei an eine bestimmte Bewegung denken muss oder nicht“, sagt Zavaglia.

Das eingepflanzte BCI besteht aus vier „Utah Arrays“, die jeweils etwa so groß wie ein kleiner Fingernagel sind. Mit 64 Elektroden detektieren diese Chips elektrische Aktivität von je ein bis zwei Nervenzellen. Insgesamt verfügt Mehringers Schnittstelle also über 256 Elektroden. Zwei Chips implantierte Meyer im motorischen Bewegungsareal, das für den rechten Arm und Hand zuständig ist. Je ein Array setzte der Neurochirurg in das benachbarte Gebiet für Bewegungsplanung und in das ebenfalls benachbarte Feedback-Areal, das aus dem Körper Rückmeldungen darüber erhält, ob die Bewegung richtig ablief.

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Zuvor hatten die Chirurgen sorgfältig kartiert, wo die Zielregionen in Mehringers Gehirn liegen. Wichtig war auch, die gebündelten Kabel jedes Chips knick- und drehungsfrei zu verlegen und schließlich in einem gemeinsamen Metallsockel zusammenzuführen, der durch den Schädelknochen und die Haut ragt. Weil er ein Außengewinde besitzt, lässt sich an ihm dann ein Stecker anschrauben, der zum auswertenden Computer führt.

In Deutschland leben laut dem TUM-Klinikum etwa 140.000 Menschen mit Querschnittslähmung. Durch Unfälle, Tumore, Entzündungen oder Veränderungen der Wirbelsäule kommen jährlich rund 2.400 Betroffene neu hinzu. Viele von ihnen leben Jahrzehnte mit ihrer starken Einschränkung und sind abhängig von Angehörigen und Pflegekräften. Auch Mehringer hofft deshalb für die Zukunft, „dass ich wieder selbständig essen und trinken kann und etwas weniger Hilfe im Alltag benötige.“



Prof. Jacob mit Implantat

(Bild: Juli Eberle / TUM)

Utah Arrays gehören zu den etabliertesten BCI. Weltweit wurden bereits etwa drei Dutzend von ihnen bei Menschen eingesetzt. Hersteller ist das US-Unternehmen Blackrock, das vom deutschen Elektroingenieur Florian Solzbacher von der University of Utah mitgegründet wurde, der auch sein Wissenschaftsvorstand ist.

Insgesamt ist Mehringer der zweite Patient in Europa, der eine solche Vierfach-Schnittstelle erhalten hat. Bereits 2022 war sie ebenfalls am TUM-Klinikum einer Patientin eingesetzt worden, die nach einem Schlaganfall einen Großteil ihrer Sprachfähigkeit verloren hat. Sie verstand immer noch alles, konnte aber nur noch einzelne Worte sagen und nicht mehr alle „ihre Gedanken nach draußen transportieren – ein extrem berührender und auch sehr schlimmer Zustand“, berichtet der Neurologe Simon Jacob, der ebenfalls an der Studie beteiligt ist. „Bei ihr wollen wir Sprache dekodieren, welche Wörter sie gerne sagen würde.“ Das sei viel schwieriger als bei motorischen Signalen. Es gäbe durchaus interessante Arbeiten, bei denen einzelne Sprachlaute – die sogenannten Phoneme – dekodiert und zu Worten zusammengesetzt würden, es sei aber sehr aufwendig.

Große Sprachmodelle erlaubten künftig eine bessere, schnellere Strategie: Man fängt sozusagen an, ein Wort zu „tippen“ und die KI „ergänzt es auf sehr intelligente Art und Weise“, so Jacob. Sie schließe auf die beabsichtigte Sprachproduktion und könnte den Patienten erlauben, „viel natürlicheren Output zu generieren“, zumal die von Computern erzeugte Sprache inzwischen viel flüssiger und nicht mehr roboterhaft ist. Dabei könne auch die Privatsphäre gut gewahrt werden, denn alle elektrischen Sprachsignale im Gehirn seien einem viel stärkeren Intentionssignal aufgesetzt, das angibt, ob etwas fürs Denken oder Aussprechen gedacht ist.

Weil nun das Sprachbildungszentrum der Patienten, das in der linken Hirnhälfte sitzende Broca-Areal beim Schlaganfall zerstört wurde, implantierte das Neurochirurgenteam die Arrays in demselben Gebiet in der rechten Gehirnhälfte. Von dieser war aus magnettomografischen Untersuchungen bekannt, dass es hier ebenfalls Sprachsignale gibt. „Wir sind aber die ersten, die mit Elektroden hineingeschaut und gesehen haben, dass hier tatsächlich fast jede Nervenzelle mit Sprachfunktionen befasst ist“, sagt Jacob. „Fast alles ist aktiv, wenn die Patientin versucht zu sprechen und wenn sie Sprache hört.“ Diese Ergebnisse sollen bald veröffentlicht werden.

Nun suchen die Münchener Forschenden für die Studie nach weiteren jungen, motivierten Erwachsenen mit hoher Querschnittslähmung. Wichtig sei, dass sie an Forschung teilnehmen und nicht an einer erprobten Heilung, sagt Jacob. Mehringer hatte sich von seinem schweren Motorradunfall mit 16 Jahren und den darauffolgenden 14 Monaten Klinik, mit Koma, Intensivstation und zahlreichen Operationen nicht entmutigen lassen. „Ich bin immer positiv. Ich habe immer viel Hoffnung. Das ist mein Antrieb.“

Dieser Beitrag ist zuerst auf t3n.de erschienen.


(jle)



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