Künstliche Intelligenz
Biometrie per WLAN: Signalstörungen erlauben Personenerkennung und Überwachung
Wissenschaftler der Universität La Sapienza in Rom haben eine Technologie entwickelt, die Menschen heimlich allein durch die Analyse von WLAN-Signalen identifizieren kann – ganz ohne Kameras oder aktive Beteiligung von Betroffenen. Dieses Verfahren, das große Gefahren für die Privatsphäre mit sich bringt, macht sich die Tatsache zunutze, dass jeder menschliche Körper WLAN-Signale auf eine einzigartige Weise stört. Die Forscher haben die anfangs nach dystopischer Science Fiction klingende Technik WhoFi getauft, in Anlehnung an die internationale WLAN-Bezeichnung WiFi.
Hintergrund ist: Jeder Mensch hinterlässt eine Art unsichtbaren WLAN-Fingerabdruck. Die Forscher haben ein spezielles Modell mit Künstlicher Intelligenz entwickelt, das diese minimalen Signalveränderungen in Form von Kanalzustandsinformationen auswertet.
Biometrische Merkmale wie Körperform, Größe und Bewegung werden dazu „aus Channel State Information (CSI) extrahiert und durch ein modulares Deep Neural Network (DNN)“ mit einem speziellen Encoder verarbeitet, schreibt das Team in einem noch nicht von unabhängigen Experten geprüften Aufsatz. Das neuronale Netzwerk werde mithilfe einer Funktion des kontrastiven Lernens trainiert, um robuste und generalisierbare biometrische Signaturen auszumachen. Diese Herangehensweise helfe dem Modell zu lernen, welche Datenpunkte ähnlich („positiv“) und welche unähnlich („negativ“) sind.
CSI bezieht sich im Zusammenhang mit WLAN-Geräten unter auderem auf Informationen über die Amplitude und Phase elektromagnetischer Übertragungen. Diese Messungen interagieren laut der Studie mit dem menschlichen Körper auf eine Weise, die zu personenspezifischen Verzerrungen führt.
Erkennungsgenauigkeit über 95 Prozent
Das Netzwerk, das im Grunde wie ein kleines Computergehirn funktioniert, fütterten die Wissenschaftler mit Informationen aus dem NTU-Fi-Datensatz. Dieser wird standardmäßig verwendet, um die Anwesenheit von Menschen über WLAN-Signale zu erkennen. Die eigenen Experimente damit zeigen der Untersuchung zufolge, dass der Ansatz „im Vergleich zu modernsten Methoden konkurrenzfähige Ergebnisse erzielt und seine Wirksamkeit bei der Identifizierung von Personen über WLAN-Signale bestätigt“.Das System kann demnach mit einer Genauigkeit von bis zu 95,5 Prozent erkennen, ob sich jemand in einem Raum befindet und um welche Person es sich handelt.
Die Technologie kommt ohne sichtbare Überwachung und ohne das Wissen der Betroffenen aus. Überall, wo WLAN verfügbar ist – ob in Wohnungen, Büros oder öffentlichen Gebäuden – könnte dieses System theoretisch zur Personenidentifikation zum Einsatz kommen.
Gesichtserkennung: unzuverlässig
Die Methode beschreiben die Forscher als Alternative zur herkömmlichen biometrischen Erkennung, die bisher hauptsächlich auf Kamerabildern basiert. Auch diese läuft prinzipiell so ab, dass sie einzigartige biologische oder verhaltensbezogene Merkmale einer Person misst und diese mit gespeicherten Daten abgleicht. Automatisierte biometrische Überwachungssysteme wie die Gesichts- und Gangerkennung nutzen Kameras und spezielle Software, um Personen in Echtzeit in einem größeren Umfeld zu identifizieren, ohne dass diese mit dem System interagieren müssen.
Visuelle Gesichts- oder Gangerkennungssysteme sind jedoch anfällig für äußere Einflüsse. Schlechte Lichtverhältnisse, verdeckte Gesichter, wechselnde Blickwinkel oder niedrige Bildqualität können die Genauigkeit stark beeinträchtigen. Traditionelle biometrische Verfahren seien daher „unzuverlässig“, meint das Team. Die neue drahtlose Biometrie sei robuster, da sie die einzigartigen Signalverzerrungen verwende. Diese entstünden nicht nur durch äußere Merkmale, sondern auch durch innere Strukturen wie Knochen und Organe. Es komme zu Störungen, die als individuelle Signatur dienen könnten. Diese biometrischen Merkmale würden im nächsten Schritt mit bekannten Referenzdaten abgeglichen, um Personen möglichst genau zu identifizieren.
Rohdaten sollen anonym sein
Während die Forschung auf diesem Gebiet noch am Anfang steht, wirft die Entwicklung doch bereits ernsthafte Fragen zum Datenschutz auf: Wo liegt die Grenze zwischen technologischem Fortschritt und dem Recht auf Privatsphäre, wenn selbst die unsichtbaren Signale in und um Menschen herum zur Überwachung genutzt werden können? Aktivisten warnen schon bei automatisierter Gesichtserkennung vor einem massenhaften Ausspähen von Bürgern, das künftig noch ganz andere Dimensionen annehmen könnte.
Die Wissenschaftler selbst betonen aber auch, dass die rohen WLAN-Daten, die zur Personenerkennung gesammelt werden, von Natur aus anonym seien. Das bedeute: Falls sie in falsche Hände gerieten, seien sie für Angreifer nutzlos. Ohne das speziell entwickelte KI-Modell und das dazugehörige System ließen sich keine Personen identifizieren.
Im Laufe der Jahre haben Wissenschaftler bereits herausgefunden, dass WLAN-Signale für eine Vielzahl von Sensoranwendungen genutzt werden können. Sie sind demnach etwa fähig, um durch Wände zu sehen, Stürze zu erkennen, die Anwesenheit von Menschen wahrzunehmen und Gesten auszumachen, einschließlich Gebärdensprache.
(nen)
Künstliche Intelligenz
Bloomwell-Gründer: Cannabis-Pläne sind „Rückschritt in die analoge Steinzeit“
Die Debatte um strengere Regeln für den Handel mit medizinischem Cannabis sorgt für Unruhe bei Anbietern und Patienten. Damit sollen Verschreibung und Abgabe von medizinischem Cannabis deutlich strenger geregelt werden – dabei hatte der ehemalige Gesundheitsminister Karl Lauterbach die Gesetzesänderung erst kürzlich auf den Weg gebracht.
Dadurch, dass die Änderungen wieder rückgängig gemacht werden sollen, wächst die Sorge vor massiven Einschnitten bei der Versorgung – insbesondere durch mögliche Beschränkungen der Telemedizin und des Apothekenversands bei Plattformbetreibern und Patienten. Das geht aus dem von der Plattform Bloomwell veröffentlichten Cannabis-Barometer hervor, für das rund 2500 Patienten befragt wurden.
Dr. Julian Wichmann
(Bild: Bloomwell)
Der Geschäftsführer der Bloomwell GmbH, Dr. med. Julian Wichmann, warnt vor einem gesundheitspolitischen Rückschritt. Im Interview erklärt er, warum die geplanten Änderungen aus seiner Sicht nicht nur medizinisch unsinnig sind, sondern auch den Weg zu einer wirksamen Therapie abschneiden könnten. Das Unternehmen will auch mittels datenbasierten Forschungsaktivitäten zur Entstigmatisierung von Cannabis in der Medizin beitragen.
Warum ärgern Sie sich über den Referentenentwurf (PDF) zum medizinischen Cannabis?
„Ärgern“ ist vielleicht das falsche Wort – wir sind eher besorgt. Denn der aktuelle Vorschlag stellt in unseren Augen tatsächlich einen großen Rückschritt dar, und zwar in die analoge Steinzeit. Vor allem geschieht das nicht im Sinne der Patienten – der vorliegende Entwurf trägt weder zu ihrer Sicherheit bei, noch gewährleistet er eine zuverlässige Arzneimittelversorgung. Im Gegenteil torpediert er diese Ziele.
Was genau bereitet Ihnen Sorgen?
Wir bekommen bereits vermehrt Anfragen von Patienten, die sich fragen, ob sie in Zukunft überhaupt noch eine Cannabisbehandlung in Deutschland erhalten können. Viele haben durch diese Therapieform entscheidend an Lebensqualität gewonnen – und das steht jetzt auf dem Spiel. Der Entwurf ist aus unserer Sicht übertrieben und basiert auf unbelegten Behauptungen. Es wird etwa von Missbrauch und Gesundheitsgefahren wie Sucht gesprochen – doch für medizinisches Cannabis gibt es dafür keinerlei wissenschaftliche Grundlage.
Die angeführten Zahlen sind eher wirtschaftlicher Natur – etwa, dass Cannabisimporte stärker zugenommen haben als Verschreibungen bei Kassenärzten. Der Rückschluss, dass es deshalb Missbrauch geben müsse, ist nicht nachvollziehbar. In der Realität ist es so, dass in der kassenärztlichen Versorgung medizinisches Cannabis nur eine sehr kleine Rolle spielt. Der Großteil der Patienten befindet sich im Selbstzahlerbereich.
Auch erste Ergebnisse der vom Bund selbst in Auftrag gegebenen Evaluationen zeigen nichts dergleichen. Es gibt keine Hinweise auf Suchtproblematiken, keine auffälligen Zahlen im Straßenverkehr oder in Suchtkliniken. Im Gegenteil: Die Erfahrungen sind überwiegend positiv.
Gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse, die den Nutzen von medizinischem Cannabis belegen?
Ja, zum Beispiel aus den USA. Dort zeigen Studien, dass mit der Zugänglichkeit von medizinischem Cannabis der Einsatz von Opioiden und Schlafmitteln deutlich zurückgeht – teils um 70 bis 80 Prozent. Und das sind Medikamente, bei denen ein Missbrauch in Deutschland längst belegt ist. Geschätzte zwei Millionen Menschen sind allein abhängig von Schlafmitteln. Cannabis hingegen wird verteufelt, obwohl es dafür keine Belege gibt. Basierend auf unseren Real-World-Daten haben auch Wissenschaftler von zwei angesehenen deutschen Universitäten zur Wirkung von medizinischem Cannabis geforscht und die vielversprechenden Ergebnisse in Fachzeitschriften publiziert. Die Evidenzlage hat sich in den letzten Jahren extrem verbessert. Gerade die ausbleibenden oder nur leichten Nebenwirkungen sind oft Anlass für einen Therapieversuch.
Was halten Sie dem Referentenentwurf konkret entgegen?
Ursprünglich war geplant, die Evaluationen abzuwarten und auf deren Basis Entscheidungen zu treffen. Jetzt wird ein Schritt vorgezogen, ohne dass Zahlen vorliegen. Das ist gesundheitspolitisch nicht nachvollziehbar. Es wird medizinisches Cannabis mit illegalem Straßen-Cannabis gleichgesetzt – obwohl es sich um zwei völlig verschiedene Produkte handelt. In der medizinischen Versorgung haben wir pharmazeutisch reine Produkte, eine kontrollierte Abgabe, Altersverifikation, ärztliche Ansprechpartner – im Schwarzmarkt nichts davon.
Kritiker führen auch Missbrauchspotenziale im Online-Medikamentenhandel an. So ist es möglich, über Telemedizin-Anbieter Medikamente unter Angabe falscher Daten zu erhalten. Versendet werden diese dann von niederländischen Versandapotheken mit Briefkastenadressen.
Theoretisch gibt es in jeder Form der Medikamentenvergabe ein Missbrauchsrisiko – auch bei niedergelassenen Ärzten. Wichtig ist deshalb, dass Anbieter verantwortungsvoll arbeiten. Wir zum Beispiel arbeiten nur mit deutschen Apotheken, haben digitale Identitätsprüfungen mit Ausweis und bieten regelmäßige Videosprechstunden und auch vor Ort Sprechstunden an. Missbrauchsfälle wie der von Ihnen geschilderte – mit gefälschten Angaben bei niederländischen Anbietern – sind bei uns ausgeschlossen.
Welche Konsequenzen hätte der Referentenentwurf Ihrer Ansicht nach?
Der Entwurf würde nicht nur den Zugang für Ärzte und Patienten massiv einschränken, sondern sogar Apotheken verbieten, Cannabis zu verschicken. Dabei hat sich gerade dieses Modell bewährt. Cannabis ist ein Naturprodukt, das besondere Handhabung und Erfahrung sowie kurze Lagerzeiten erfordert – dafür braucht es spezialisierte Apotheken. Der Versand ist essenziell, um eine flächendeckende, qualitativ hochwertige Versorgung sicherzustellen. Eine Analyse unsererseits hat gezeigt, dass bei der Hälfte der Cannabis-Patientinnen die nächste auf Cannabis spezialisierte Apotheke weiter als zehn Kilometer entfernt ist. In einigen ländlichen Regionen dürften es über hundert Kilometer sein. So etwas kann man Patienten, teils schwer erkrankt, mit eingeschränkter Mobilität, nicht zumuten.
Welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung?
Medizinisches Cannabis ist ein Paradebeispiel für digitale Versorgung. Patientengespräche finden oft per Videosprechstunde statt. Patienten und Ärzte haben online komplette Transparenz über Preise und Verfügbarkeit. Sogar psychotherapeutische Behandlungen werden mittlerweile vollständig online durchgeführt – warum soll das bei Cannabis plötzlich nicht gelten? Zudem findet man kaum Hausärzte, die mit Cannabis arbeiten. Der Entwurf würde Patienten in eine Odyssee zwingen – oder in den Schwarzmarkt treiben.
Gibt es dazu Zahlen?
Ja. In einer Umfrage mit etwa 2.500 Teilnehmern würden über 40 Prozent bei Beschränkung der legalen telemedizinischen Versorgung auf illegales Cannabis zurückgreifen. Aber auch die übrigen 60 Prozent hätten keinen telemedizinischen Zugang wie in der bisherigen Form. Das heißt also im Gegenzug, dass der Großteil der Patienten ohne Behandlung wäre – mit allen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen für beide Gruppen.
Wird medizinisches Cannabis denn von den Krankenkassen übernommen?
In unserem Modell nicht, weil es bislang kein Interesse seitens der Krankenkassen gab, hier Verträge zu schließen. Ich persönlich habe unzählige Gespräche geführt. Dabei wäre das technisch längst möglich. Es fehlt schlicht der Wille. Die kassenärztliche Versorgung existiert, wie man an den auch vom BMG zitierten Zahlen sieht, spielt sie jedoch eine untergeordnete Rolle.
Arbeiten Sie mit Versandapotheken im Ausland zusammen?
Nein, das ist bei Cannabis gar nicht erlaubt. Es darf nur innerhalb Deutschlands verschickt werden, weshalb wir ausschließlich mit spezialisierten deutschen Apotheken kooperieren. Diese haben über Jahre Know-how und viele Arbeitsplätze aufgebaut.
Konsumieren Sie selbst medizinisches oder anderes Cannabis?
Nein, ich bin weder Patient noch Konsument. Zum Glück habe ich keine chronischen Erkrankungen. Aber ich habe mit vielen Patienten gesprochen, die dank Cannabis ein neues Leben führen können – etwa Menschen mit ADHS, die von Ritalin wegkommen. Das ist beeindruckend.
(mack)
Künstliche Intelligenz
Interface für die Welt: Forscher zeigen innovatives AR-Interaktionsmodell
AR-Brillen könnten eines Tages eine Bedienoberfläche für die Welt liefern: So ließe sich etwa vom Sofa aus das Licht ausknipsen, ein Buch im Regal markieren und als digitaler Text anzeigen oder der Saugroboter auswählen und gezielt in eine staubige Ecke schicken.
Die Frage ist, wie sich ein Interface dieser Art benutzerfreundlich gestalten ließe. Schließlich ist die Welt dreidimensional und deutlich komplexer aufgebaut als ein Computerdesktop oder Homescreen. Wie wählt man mühelos Gegenstände aus, die weit entfernt und daher im Sichtfeld winzig erscheinen, zwischen vielen anderen liegen oder teilweise von diesen verdeckt werden? Ob per Handzeig oder Blickfokus: diese Methoden sind fehleranfällig und nicht selten anstrengend.
Forscher der New York University, der University of Minnesota und Google schlagen nun einen ungewöhnlichen Ansatz für die Interaktion mit solchen Objekten vor: Ihr „Reality Proxy“ genanntes Interaktionsmodell blendet in Reichweite der Nutzer ein Interface ein, über das sich Objekte mithilfe digitaler Stellvertreter („Proxies“) derselben auswählen lassen. Dabei wird von individuellen Eigenschaften der Objekte wie Position, Größe und Entfernung abstrahiert, die eine Auswahl oder Manipulation erschweren würden. Mithilfe der eingeblendeten Stellvertreter können Anwender schnell von Objekt zu Objekt springen, mehrere Objekte gleichzeitig auswählen, diese gruppieren, nach Attributen filtern und mehr.
Mit Apple Vision Pro getestet
In einem Video zeigen die Forschenden teils ausgefallene Einsatzszenarien: von der Steuerung mehrerer Drohnen bis zu räumlichen Navigationshilfen für Gebäude.
Das System setzt voraus, dass die auswählbaren Objekte vorab von einer KI korrekt segmentiert und semantisch identifiziert werden. Das KI-Modell muss demnach einzelne Objekte voneinander trennen und sie logischen Gruppen (Lichtschalter, Buch, Saugroboter) zuordnen können. Eine Aufgabe, die für sich genommen bereits sehr anspruchsvoll sein kann.
Die Forschenden testeten Reality Proxy mit einer Apple Vision Pro. Prinzipiell könnte das System aber auch auf AR-Brillen zum Einsatz kommen und als Grundfunktion direkt im Betriebssystem implementiert werden.
Die Forschungsarbeit ist frei im Internet zugänglich.
(tobe)
Künstliche Intelligenz
Missing Link: Zehn Jahre Landesverrat – Blogger im Zentrum einer Staatsaffäre
Die E-Mail kam ohne echte Vorwarnung: „Es liegt ein Anfangsverdacht des Landesverrats vor.“ Mit diesen Worten begann für Markus Beckedahl und Andre Meister vom Portal Netzpolitik.org vor zehn Jahren ein Albtraum, der die Grundpfeiler der Pressefreiheit in Deutschland erschütterte. Die beiden Journalisten hatten offengelegt, wie das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) die Anonymisierungsmöglichkeiten von Bürgern im Internet aushebeln wollte. Was folgte, war eine Art Hetzjagd der Justiz und von Regierungsstellen auf die zwei Blogger, die das Recht der Öffentlichkeit auf Information verteidigten.
Manchmal genügt ein Mausklick, um eine Staatsaffäre auszulösen. Vor einer Dekade geschah genau das: Beckedahl, damals Chefredakteur von Netzpolitik.org, und sein Mitstreiter veröffentlichten ein Dokument, das belegte, wie der Inlandsgeheimdienst die digitale Privatsphäre von Millionen Menschen bedrohte. Wenige Monate später, am 30. Juli 2015, führte das zur überraschenden Anklage des Duos wegen Landesverrats.
Der Fall wurde zum Lehrstück darüber, wie schnell der Staat versucht, seine Macht zu verteidigen – und wie wichtig unabhängiger Journalismus für eine funktionierende Demokratie ist. Wie konnte ein Staatsgeheimnis in die Hände von Bloggern gelangen, und welche Narben hat diese Affäre in der deutschen Presselandschaft hinterlassen? Eine Reminiszenz an einen Skandal, der fast zu einer Katastrophe für den investigativen Journalismus geführt hätte.
Anonymisierung im Netz aushebeln
Den geheimen BfV-Plan, der eine massive Ausweitung der Online-Überwachung vorsah, stellte Netzpolitik.org im April 2015 online. Das Grundsatzpapier enthüllte, wie die Behörde plante, einen weltweit auch von Journalisten, Whistleblowern und Aktivisten genutzten Anonymisierungsdienst auszuhebeln. Die Publikation sorgte in Teilen der Netzgemeinde für Aufsehen und weckte die Befürchtung, dass der Staat die digitale Sicherheit seiner Bürger aktiv untergraben wolle.
Die Reaktion der Bundesregierung übertraf derlei Ängste noch. Anstatt die Geheimdienstpläne zu verteidigen oder in die Tonne zu treten, ließ sie es zu, dass auf oberster Stufe ein Ermittlungsverfahren gegen die beiden verantwortlichen Journalisten eingeleitet wurde. Der Vorwurf: Landesverrat – ein Vergehen, das in der deutschen Rechtsgeschichte fast ausschließlich mit Spionagefällen aus dem Kalten Krieg in Verbindung gebracht wurde. Plötzlich standen Beckedahl und Meister nach offizieller Lesart nicht mehr als Rechercheure da, sondern als Bedrohung für die nationale Sicherheit. Der Fall eskalierte schnell und stellte die Frage in den Raum, ob in Deutschland überhaupt noch frei über die Arbeit von Sicherheitsbehörden berichtet werden darf.
Dazu kam: Strafverfolger ermittelten auch gegen die potenziellen Quellen der Berichterstatter. Diese wurden aber nie gefunden.
Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.
Maaßen war für „Massendatenerfassung“
Die Nachricht vom 30. Juli 2015 schlug hohe Wellen: Der damalige Generalbundesanwalt Harald Range hatte ein Strafverfahren wegen Verdacht des Landesverrats gegen das Duo eingeleitet. Auslöser war ein als geheim eingestufter Budgetentwurf für das BfV, den Netzpolitik.org in voller Länge öffentlich gemacht und Details davon in zwei „Enthüllungsartikeln“ näher beleuchtet hatte. Aus dem vertraulichen Dokument ging hervor, dass den Staatsschützern 2,75 Millionen Euro für die „Massendatenerfassung“ etwa in sozialen Netzwerken zur Verfügung standen. Der einstige BfV-Chef Hans-Georg Maaßen, der damals in Regierungskreisen noch angesehen war, stellte nach der Publikation Strafanzeige beim Landeskriminalamt Berlin. Dieses leitete den Fall an die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe weiter.
Der Vorwurf des Landesverrats ist ein scharfes Schwert: auf diese Tat steht Freiheitsstrafe von „nicht unter einem Jahr“. Zudem gehen damit umfangreiche Überwachungsbefugnisse einher. Die Justiz hätte den Verdächtigen aber nachweisen müssen, dass sie ein Staatsgeheimnis öffentlich bekannt gemacht haben, „um die Bundesrepublik Deutschland zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen“. Dadurch hätten sie „die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit“ des Staates herbeiführen müssen.
Zuletzt hatten Ermittler diese Keule gegen Journalisten 1962 in der „Spiegel“-Affäre geschwungen. Auch darin sahen weite Teile der Öffentlichkeit einen kaum verhüllten Versuch des Staates, eine unerwünschte Publikation zum Schweigen zu bringen.
Einschüchterung von Journalisten
„Jetzt kommt der Angriff auf uns“, beklagte Beckedahl umgehend in einem Interview mit heise online. Die Bundesregierung dürfte ihm zufolge eingebunden gewesen sein. „Wir sehen das als Einschüchterungsversuch gegen unsere Arbeit an“, monierte der Gründer des Portals. Der eigentliche Skandal sei, dass die Exekutive zwei Jahre nach den Snowden-Enthüllungen die Massenüberwachung der Geheimdienste nicht zügeln, sondern ausbauen wolle. Nötig sei auf jeden Fall ein besserer Schutz für Whistleblower. Positiver Nebeneffekt: Die gesellschaftliche Debatte über den Themenbereich, die der Originalartikel noch nicht ausgelöst habe, werde nun nachgeholt von einem größeren Kreis.
Gleichzeitig war viel von einer Justizposse die Rede. Das Vorgehen des Generalbundesanwalts sei „völlig überzogen“ und stelle einen Angriff auf die Pressefreiheit dar, kritisierte etwa der Deutsche Journalisten-Verband (DJV). Der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz empfand das Vorgehen der Bundesanwaltschaft als „ziemlich ungeheuerlich“. Es scheine „einiges aus dem Lot geraten“ zu sein, wenn beim massenhaften illegalen Abhören normaler Bürger und des gesamten Politikbetriebs juristisch nichts passiere. Journalisten, die zu Überwachungsmaßnahmen berichteten, würden dagegen massiv verfolgt.
Nur 48 Stunden nach der ersten Nachricht von der Affäre #landesverrat demonstrierten mehrere tausend Menschen in Berlin gegen einen übergriffigen Staat. Teilnehmer forderten lautstark den Rücktritt von Range. Dieser setzte mögliche Exekutivmaßnahmen wie Hausdurchsuchungen im Rahmen der Ermittlungen wenige Stunden nach Bekanntwerden aus, mit Blick „auf das hohe Gut der Presse- und Meinungsfreiheit“.
Generalbundesanwalt als Bauernopfer
Der Unmut blieb trotzdem groß: Auf Plakaten bei der Demo war beispielsweise zu lesen: „Maaßen nach Moskau, Snowden nach Berlin.“ Selbst die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) befürchtete einen Einschüchterungseffekt und beschwerte sich beim damaligen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD): Das Verfahren könne der journalistischen Arbeit zum Wohle der Öffentlichkeit schaden.
Erst nach anderthalb Wochen war der Spuk größtenteils vorbei. Die Bundesanwaltschaft erklärte am 10. August 2015, die Untersuchungen wegen des Vorwurfs insgesamt eingestellt zu haben. Bereits zuvor hatte sich der damalige Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) gegen Range gestellt, nachdem dieser einen unerträglichen Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz bemängelt hatte. Der Generalbundesanwalt musste daraufhin als Bauernopfer seinen Hut nehmen und in den einstweiligen Ruhestand gehen. Der Geschasste behauptete weiter, nur seine Pflicht getan zu haben. Weitgehend unklar blieb, ob und inwiefern Beckedahl und Meister in den vergangenen Monaten Ziel von Überwachungsmaßnahmen geworden waren.
Fünf Jahre später warf Netzpolitik.org einen vertieften Blick auf die Akteure der Affäre. Maaßen sei zwar die treibende Kraft gewesen und habe den Skandal maßgeblich verursacht, befand die Redaktion in einem Podcast. Der einstige CDU-Mann sei auf die irrwitzige Idee gekommen, „dass es bei unseren beiden Artikeln um Landesverrat und um Staatsgeheimnisse gehen könnte“. Das haltlose „Gutachten“ seines Geheimdienstes für die Bundesanwaltschaft habe er aber nicht selbst geschrieben. Abgenickt worden sei das Ganze „politisch im Bundesinnenministerium“, dem damals Thomas de Maizière (CDU) vorstand.
Was wusste Innenminister de Maizière?
Es gab demnach Hinweise darauf, dass hochrangige Beamte im Innenressort, einschließlich einer Staatssekretärin, über das Vorhaben Maaßens zum Stellen einer Strafanzeige informiert waren und dieses billigten. De Maizière behauptete, erst sehr spät von den Ermittlungen erfahren zu haben. Der Ressortchef versuchte, die Verantwortung primär aufs BfV und auf Heiko Maas abzuladen. Er geriet unter Druck und musste dem Vorwurf trotzen, sich wegzuducken und keine volle Aufklärung zu betreiben.
Zudem leisteten Mitarbeiter des Innenministeriums Widerstand gegen die Einstellung des Verfahrens, die Heiko Maas anstrebte. Die unterschiedlichen Positionen zwischen dem SPD-geführten Justizressort und dem CDU-geführten Innenministerium trugen zur Eskalation des Skandals bei.
„Heute vor zehn Jahren stand ich für zehn Tage im Zentrum einer Staatsaffäre“, erinnerte sich Beckedahl in einer Mail an Abonnenten seiner Newsletter-Liste Digitalpolitik.de am 30. Juni 2025. Der „heutige Rechtsaußen-Verschwörungsideologe Maaßen“ habe sich damals an dem Bericht zum „geheimen Ausbau der Internetüberwachung“ gestört. Der 49-Jährige bedauert nach wie vor: Die Bundesregierung habe diese Enthüllungen „leider als Machbarkeitsstudie“ gesehen.
Streisand-Effekt in Aktion
„Was folgte waren die ereignisreichsten zehn Tage meines Lebens“, blickt der Aktivist zurück. Kamerateams von Tagesschau und Co. seien „teilweise vormittags und nochmal nachmittags bei uns im Büro“ gewesen, „weil es ständig neue Entwicklungen gab“. 2500 Personen seien für die Pressefreiheit auf die Straße gegangen. „Unsere Spenden-IBAN war Trending Topic auf Twitter“, dem heutigen X, „weil unsere Webseite und damit auch unsere Spendeninformationen den Anfragen aus aller Welt damals nicht Stand halten konnte“, kann Beckedahl auch eine gewisse Freude über den ausgelösten „Streisand-Effekt“ nicht verbergen. „Wir bekamen in den zehn Tagen so viel Geld an Spenden, dass wir unsere Redaktion im Anschluss ausbauen konnten.“
„Und ich musste meine Mutter beruhigen, dass sie sich keine Sorgen machen muss“, heißt es in der Rückschau weiter. „Sie hatte im Videotext gelesen, dass darauf ein Jahr bis lebenslänglich stehen. Wir hatten doch nur unsere Arbeit gemacht.“
Anderthalb Wochen später endeten die Ermittlungen, welche schon im Mai gestartet worden waren. Damit habe die Redaktion zwar doch noch Sommerferien bekommen, führt Beckedahl aus. Zugleich sei aber mit der Entlassung Ranges die Chance vertan gewesen, „vor Gericht unsere Unschuld zu beweisen“. Denn die Sache sei konstruiert gewesen als gezielte Attacke „von Rechtsaußen-Akteuren in verantwortlicher Position“ auf die freien Medien.
Aus der Schlinge gezogen
Er habe viel gelernt „über mediale und politische Mechanismen und wie sich politisch Verantwortliche aus der Schlinge ziehen können“, lautet das Fazit des Journalisten. In der parlamentarischen Aufarbeitung seien zwar „zahlreiche Ungereimtheiten“ zutage gekommen. „Das interessierte aber dann niemand mehr, denn es wurde der Herbst 2015 und die Zeit von ‚Wir schaffen das'“. Er selbst und Meister bekämen „leider erst in frühestens 20 Jahren Zugriff auf Akten“.
Beckedahl hat nach eigenen Angaben „trotzdem den Glauben an den Rechtsstaat nicht verloren“, sondern eher eine „Jetzt erst recht“-Haltung entwickelt. Sein Leben und seine Schwerpunktthemen hätten sich mit dem Ausstieg bei Netzpolitik.org nach 20 Jahren geändert. Er sehe mittlerweile jenseits von staatlicher Überwachung die viel größere Gefahr darin, „demnächst keine funktionierenden demokratischen Öffentlichkeiten mehr zu haben“. Daher sei es erforderlich, „die Macht von Big Tech und den Tech-Oligarchen“ effektiv zu begrenzen sowie demokratische Alternativen zu fördern, „damit wir morgen Wahlfreiheit bekommen“.
Die Revolution frisst ihre Kinder? Zumindest etwas staatstragender klingt der einstige Medienrevoluzzer inzwischen. Als Kurator der Internetkonferenz re:publica stellt Beckedahl aber einmal im Jahr noch die Frage: „In welcher digitalen Gesellschaft wollen wir leben?“ Zugleich baut er das Zentrum für Digitalrechte und Demokratie auf, um Öffentlichkeit für sein Anliegen zu schaffen und „den notwendigen Druck auf die Politik auszuüben“. Mit an Bord: Die Kampagnen-Organisation Campact, die für progressive Politik eintritt. Als Kolumnist will Beckedahl auch dem Journalismus erhalten bleiben.
„Der eigentlich Verantwortliche“
Quintessenz der Affäre war der Konflikt zwischen Pressefreiheit und staatlicher Geheimhaltung. Die Auseinandersetzung entpuppte sich aber auch als heftiger politischer Konflikt zwischen den beiden damaligen – und heutigen – Koalitionspartnern CDU/CSU und SPD. Sie beleuchtete zugleich die Rolle der Geheimdienste im Staatswesen. Letztlich zeigte sich, dass die Hürden für eine Anklage wegen Landesverrats in einer demokratischen Gesellschaft sehr hoch sind – gerade wenn es um die Aufdeckung von Informationen im öffentlichen Interesse geht.
Maaßen kam damals noch weitgehend ungeschoren davon. „Der eigentlich Verantwortliche“ sei der Ex-Inlandsgeheimdienstchef, der im Generalbundesanwalt einen willfährigen Mittäter gefunden habe, wetterte Beckedahl zwar schon vor einem Jahrzehnt. Stephan Mayer, zu diesem Zeitpunkt Innenexperte der CDU/CSU-Fraktion, hob dagegen hervor, Maaßen habe lediglich auf die Tatsache reagiert, dass immer wieder vertrauliche Dokumente durchsickerten. De Maizière ließ mitteilen, der Behördenleiter habe sich „völlig korrekt“ verhalten.
Maaßen fiel erst im Herbst 2018 in Ungnade, hauptsächlich wegen seiner umstrittenen Äußerungen zu Ausschreitungen gegen Migranten in Chemnitz. Während die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) von „Hetzjagden“ sprach, zweifelte der BfV-Chef die Echtheit eines entsprechenden Videos an. Mayer wiederum stolperte nach einigen Affären 2022 über den Vorwurf, er habe einen „Bunte“-Journalisten massiv mit Vernichtung bedroht und erpresst. Der CSU-Politiker bestritt dies zwar, trat aber – offiziell aus gesundheitlichen Gründen – von seinem Amt als Generalsekretär der Partei zurück.
(nen)
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